Schöner wohnen: Ein historischer Abriss
Eine Möglichkeit, die Ausstellung zu erleben, ist ihr chronologisch zu folgen. Sie beginnt beim Expressionismus, dessen Künstler:innen visionäre Architekturutopien auf die Leinwand brachten (z.B. Bruno Taut oder Wenzel Hablik). Über das Bauhaus mit seiner industriellen Fertigung, den Meisterhäusern in Dessau und der Stuttgarter Weißenhofsiedlung gelangen die Besucher:innen zu den Metabolisten der 50er und 60er Jahre, die Städte als Organismen verstanden. Den positivistischen Darstellungen der 60er Jahre in Europa folgt der Bruch in den 70ern und der Frage nach neuen Konzepten, die Stadt und Natur verbinden. Der historische Abriss zeigt bekannte Namen, aber hat auch Neues zu bieten: Kunsthallenleiterin Nicole Fritz weist darauf hin, dass in der Architekturgeschichte vor allem Männer kanonisiert sind. Mit Aino Aalto erweitert sie die historische Architektenriege der Ausstellung bewusst durch die finnische Architektin.



Schöner wohnen: Architektur und Kunst
Ein anderer Fokus der Ausstellung liegt auf dem Dialog zwischen Architektur und Kunst. Wenzel Habliks großformatige Malereien etwa sind in Farbigkeit und Komposition einer künstlerisch-ästhetischen Tradition verpflichtet. Inhaltlich stehen sie nah an den Architekt:innen seiner Zeit, die ein neues Verhältnis zwischen Landschaft und Architektur suchten, in denen sich Gebäude wie Gewächse aus der Landschaft entwickelten. Ein weiteres Beispiel: Helmut Jacoby, als Renderer für Mies van der Rohe arbeitete. Seine Architekturdarstellungen aus den 60er Jahren sind keine technischen Zeichnungen mehr, sondern verwenden die Stilmittel der Kunst um Emotionen bei den Betrachtenden auszulösen. Bei den Werken ausgestellten zeitgenössischen Künstler:innen zeigen sich verschiedene Einflüsse der Architektur: Durch den konzeptionellen Ansatz, die technische Ausführung oder die raumgreifende Vision. Das Wechselspiel der beiden künstlerischen Disziplinen Architektur und Bildender Kunst eröffnet ein interessantes Spannungsfeld und gibt der Ausstellung zusätzliche Tiefe.

Schöner wohnen: Architektur und Gesellschaft
Der Blick ins Thema „Wohnen“ ist immer auch ein Blick in die Werte und Themen der jeweiligen Gesellschaft. Daher ist die Ausstellung auch als gesellschaftshistorischer Einblick lesbar. Nicht nur historisch, beispielsweise bei der Mythologisierung von Materialien während des 1. Weltkriegs oder im gezeigten Filmmaterial des Bauhauses, der Aufschlüsse über die Rolle der Frau in der neu erfundenen Wohnmaschine liefert. Die Konzeption der Ausstellung zeigt vor allem auf, welche Themen unsere Gesellschaft gegenwärtig beschäftigen. Ein partizipatorisches Projekt der Künstlerin Simone Ruess in Kooperation mit der Stadt Tübingen hat Menschen mit Fluchterfahrung einen safe space geboten, eigene Visionen zu formulieren. Die Ergebnisse sind in der Ausstellung zu sehen. Ganz bewusst fragte Kuratorin Nicole Fritz außerdem die Generation angehender Architekt:innen nach ihren Visionen für die Zukunft. Die Zusammenarbeit mit der Hochschule Darmstadt brachte „Playground“ von Amelie Weyers in die Kunsthalle. Sie stellt spielerische Konzepte ins Zentrum ihrer Installation, die zum Mitmachen einlädt. Die Zukunft des Wohnens, darauf weisen beide Projekte hin, stellt „Gemeinschaft“ und „Austausch“ vor formale architektonische Visionen.

Schöner wohnen: Drinnen und draußen
Auch in seiner neuen Ausstellung schlägt das Team der Kunsthalle den Bogen in den Stadtraum. Als Beispiel neuer Wohnvisionen in den 60er Jahren zeigt die Ausstellung eine Abbildung des „Hotels am Herbstenhof“ – also eines jener Häuser, die gegenüber der Kunsthalle stehen. Es sollte den Wohnbedarf der neu erweiterten Universität stillen und kurzfristig Wohnraum schaffen. Die Fassade des Originals im Philosophenweg 79 hat der in Berlin lebende Künstler Bernd Ribbeck für die Dauer der Ausstellung mit einem abstrakten Rundbogenmotiv gestaltet. Ein weiteres Highlight im Freien: Eine der Wohnkapseln aus dem „Nakagin Capsule Tower “ aus dem Jahr 1972 ist als begehbares Objekt neben der Kunsthalle ausgestellt.

für die Werke von Bernd Ribbeck gilt © Bernd Ribbeck, VG Bild-Kunst, Bonn 2025
Foto: Annette Cardinale

Dauerleihgabe, Stiftung Kunsthalle Tübingen
Foto: Ulrich Metz
„Schöner wohnen – Architekturvisionen von 1900 bis heute“
8. Juni – 19. Oktober 2025
Kunsthalle Tübingen
Philosophenweg 76
72076 Tübingen
Di-So 11-18 Uhr
Do 11-19 Uhr