Soziale Beziehung als Kunst. KUNE im Gespräch mit Lilli Weinstein.

Soziale Beziehungen stehen im Mittelpunkt der Kunst von Lilli Weinstein. In Rappertshofen knüpft sie nicht nur Beziehungen zu den Besucher:innen und Bewohner:innen, sondern setzt sich auch mit ihrer eigenen Beziehung mit dem Ort auseinander. Die aufgedeckten Geschichten sammelt sie in ihrem künstlerischen Behältnis – der Zeitschrift Rappaz.

Lilli Weinstein und der Ort Rappertshofen

„Für mich ist es ein Luxus des Stipendiums hier mitten im Projekt leben zu können“ (Lilli Weinstein)

Wir treffen Lilli Weinstein in ihrem Atelier in Rappertshofen, die Sonne fällt durch die Glasfassade ins Innere. Was wir durch die Fenster sehen können, hat sich seit Jahrzehnten kaum verändert – das hat Lilli Weinstein in ihrer Recherche im Archiv festgestellt. Ein paar neue Gebäude hier, ein fehlendes Blumenbeet dort, alles andere ist wie auf den unzähligen Dias aus den 50er-70er Jahren, die die Künstlerin sichtet.

Kurz danach, in den 90er Jahren, haben sich ihre Eltern in Rappertshofen kennengelernt, damals stand dort noch ein Flüchtlingswohnheim. Ihr Vater war als jüdischer Immigrant aus der Sowjetunion gekommen, ihre Mutter arbeitete in der Unterkunft. „Meine persönliche Beziehung zu dem Ort ist wichtig für mich, ich gehe auf Wegen, auf denen meine Mutter schon gegangen ist“, so Lilli Weinstein. Diese persönliche Geschichte war auch der Anlass, zu Beginn des Stipendiums ins Archiv zu gehen. Dort begegnete ihr ihre Mutter in Briefen und Berichten und sie konnte ganz spezifische Einblicke in ihr Leben gewinnen.

Die Diaboxen aus dem Archiv zeigen Einblicke in das Leben in Rappertshofen vor ca. 50 Jahren. ©Foto: Lilli Weinstein
Die Diaboxen aus dem Archiv zeigen Einblicke in das Leben in Rappertshofen vor ca. 50 Jahren. ©Foto: Lilli Weinstein

Lilli Weinstein knüpft ihr Netzwerk

„In anderen Projekten lerne ich mit 100 Briefen 2 Personen kennen, hier sind die Menschen sehr offen und interessiert – und die Kontakte entwickeln sich fast von allein“ (Lilli Weinstein)

Wenn Lilli Weinstein ein neues Projekt startet, sucht sie zunächst Kontakt. Eine bewährte Methode: Briefe verteilen und zum Gespräch einladen. Auch in Rappertshofen hat sie damit begonnen. „Ich finde es super, dass ich hier auch eine Art Bewohnerin bin. Ich verbringe mit den anderen den Tag und wir sehen uns beim Mittagessen, was unglaublich geholfen hat, Kontakte zu knüpfen.“, so Lilli Weinstein. „Die Bewohner:innen sind sehr offen“, fährt sie fort, “und auch die Art des Stipendiums fördert den Austausch“. Ihre Kamera dient ihr als Gesprächsanlass und steht seit dem ersten Tag im Atelier bereit. Sie nimmt Porträts ihrer Besucher:innen auf und inszeniert Zufallsbegegnungen, um sie wieder zu treffen und sich die Namen einzuprägen. Aus diesen Begegnungen entwickelten sich in den Monaten seit Stipendiumsbeginn Einzelprojekte mit verschiedenen Bewohner:innen.

Lilli Weinstein vor der Porträtwand mit Bildern ihrer Mitbewohenr:innen in Rappertshofen. ©Foto: Maik Hanicz.
Lilli Weinstein vor der Porträtwand mit Bildern ihrer Mitbewohenr:innen in Rappertshofen. ©Foto: Maik Hanicz.

Lilli Weinstein und ihre Mitbewohner:innen

„Kunst kann anbieten mit Zeit verschwenderisch umzugehen“ (Lilli Weinstein)

Manche dieser Einzelprojekte haben Workshopcharakter mit festem Ziel, manche finden regelmäßig statt, manche einmalig – so unterschiedlich wie die Bewohner:innen, so sind auch die Kreativprojekte mit der Stipendiatin. Im Mittelpunkt steht für die Künstlerin der Austausch und das Kennenlernen. Für die Bewohner:innen ist der Alltag in Rappertshofen durchgeplant und strukturiert – sie freuen sich über den lockeren, auch ungeplanten Austausch mit der Künstlerin. Diese interessiert sich für die Einzelgeschichte ihres Gegenübers. „Ein toller Gesprächseinstieg ist immer ‚ich wohne jetzt auch hier. Wie ist es für dich so?‘“, sagt Lilli Weinstein.

Mit Robert führt Lilli Weinstein regelmäßig Fashion-Shootings durch. ©Foto: Lilli Weinstein
Mit Robert führt Lilli Weinstein regelmäßig Fashion-Shootings durch. ©Foto: Lilli Weinstein

Lilli Weinstein und ihr künstlerisches Behältnis

„Eine Box war gut versteckt, in einem Lüftungsschacht“ (Lilli Weinstein)

Im Archiv fand Lilli Weinstein unzählige Diaboxen und begann, die Bilder zu sichten. Eines davon brachte sie auf eine Fährte: Zu sehen war, wie ein selbst hergestelltes Magazin beworben wurde.Der „Ghetto-Knacker“ aus den 80er Jahre hat auch im Archiv überlebt. Viele der Themen der Ausgabe sind bis heute relevant, etwa die Frage nach der fairen Bezahlung in Werkstätten oder nach der Wohnsituation. Der Ghetto-Knacker wurde zur Inspiration für ihr eigenes Magazin, das „Rappaz“, das zum „Kultur vom Rande“-Festival herauskommen wird.

„In Rappertshofen sind so viele Einzelgeschichten kondensiert auf kleinem Raum – das Magazin eignet sich ideal als künstlerisches Behältnis für diese Geschichten“, so Lilli Weinstein. KUNE durfte in den ersten Vorabdruck einen Blick werfen: Es gibt Bilder vom Leben in Rappertshofen früher und heute, Interviews mit Bewohner:innen und Fotostrecken. Mit Robert trifft sich die Künstlerin regelmäßig zum Fashionshooting – eines ihrer Einzelprojekte. Immer dienstags trifft sich das Redaktionsteam, das aus Bewohner:innen und Menschen aus der Umgebung besteht. „Klar planen wir auch das Magazin, doch oft entwickelt es sich zu interessanten Sprechrunden, in denen jeder aus seinem Leben erzählt“, berichtet die Künstlerin.

Während das Rappazmagazin entworfen wird (Hintergrund), sichtet Lilli Weinstein weiter DIas aus dem Archiv. ©Foto: Maik Hanicz.
Während das Rappazmagazin entworfen wird (Hintergrund), sichtet Lilli Weinstein weiter DIas aus dem Archiv. ©Foto: Maik Hanicz.

Das Magazin wird in der Nikolaikirche ab dem 18. Mai vorgestellt und ist dort gegen eine Spende erhältlich. Eine begleitende Ausstellung erläutert die Entstehung und Hintergründe des Magazins.

Weitere Informationen:
Insta: @lilliweinstein
www.lilliweinstein.com