Schon der Titel der aktuell im Kunstverein Reutlingen gezeigten Ausstellung mit Werken von Dominik Halmer und Ria Patricia Röder hat eine gewisse Dramatik. „Macht und Sinn“, zwei gewichtige und pathetische Worte, die eigentlich so gar nicht zu der spielerischen Optik der gezeigten Werke passen – könnte man meinen. Doch gerade im Subtilen liegt manchmal das größte Potential zur Manipulation. Denn am besten manipuliert wird man, wenn man es natürlich gar nicht merkt. Und gerade in heutiger Zeit ist die Manipulation als Mittel zur Macht leider stark im Trend.

Das Informations-Chaos, dem wir auf allen Medienplattformen ausgesetzt sind, scheint sich minütlich zu intensivieren – Schritt zu halten ist eine tagesfüllende Aufgabe geworden und dennoch bleiben meist viele Fragen offen. Wer am lautesten schreit hat eben auch nicht unbedingt die erhofften Antworten parat. Wir sind also gezwungen unser eigenes Hirn zu benutzen, um all die Daten und Ereignisse einzuordnen.
Dabei stellen wir ganz automatisch fest, inwiefern etwas Bedeutung hat oder nicht. Das ist ein Instinkt, den wir nicht bewusst ausschalten können. Aber hinterfragen können wir ihn. Und das machen die beiden Künstler Dominik Halmer und Ria Patricia Röder in dieser Ausstellung.
Mit ganz alltäglichen Dingen und Motiven stellen sie unser Gefühl für Sinnhaftigkeit auf die Probe. Wobei sie zu völlig unterschiedlichen Bildformen und Bildformeln kommen. Die oftmals monumentalen Wandbilder von Dominik Halmer ziehen den Blick allein schon durch ihre ungewöhnlichen Formen auf sich. Keines der Werke ist ein „klassisches Rechteck“ und doch imitieren sie z. T. die klassische Zentralperspektive, wie sie vor allem seit der Renaissance in die Malerei Einzug hielt. An dieser Stelle ist also schon Halmers Sinn für Humor zu spüren.

Traditionen werden aufgenommen, um sie letztlich aufzulösen. In diesen „shaped canvases“ versammeln sich nun allerlei geometrische Formen zu unterschiedlichsten Raumillusionen. Der physische Raum und die Bildfläche werden so eng miteinander verknüpft, dass eine täuschend echte Tiefenwirkung entsteht.
Immer wieder tauchen monochrome, kastenförmige Gebilde auf, die an aufgeklappte Schachbretter erinnern. Zwei dieser Werke haben Sie schon am Eingang begrüßt. Die Rahmen der Bilder nehmen bewusst Bezug auf das Wandbild im ursprünglichen Sinne als „rechteckiges Fenster“ in eine andere Welt – in diesem Fall ein anderes Universum.
In diesen Kästen spielt sich etwas geradezu Interstellares ab. Mächtige Kugelformen schweben wie Planeten, umgeben von breiten Ringen, die wie Umlaufbahnen oder planetare Ringsysteme anmuten. Alles in diesem kastenartigen Makro-Mikrokosmos ist berechenbar, jeder Zentimeter ist in ein Rastersystem eingefasst. Dennoch scheint in diesen Universen etwas aus dem Gleichgewicht geraten zu sein – im übertragenen wie im wörtlichen Sinne.

Bewusst integriert Dominik Halmer immer wieder computergenerierte 3D-Simulationen in seine Malerei. Diese „Special-Effects“ erleichtern einerseits den Zugang zu den Bildern, andererseits wird eine gewisse Sehnsucht nach naturwissenschaftlicher Berechenbarkeit, nach Verlässlichkeit und Stabilität spürbar. Eine Stabilität, die wir gerade heute alle gerne mehr hätten. Gleichzeitig führt er diese Sehnsucht ins Absurde. Er schafft bewusst instabile Kompositionen als spielerisch-zynische Antwort auf die vermeintliche Sicherheit computergestützter Architekturen.
Oftmals tauchen in Dominik Halmers Bildern auch Comic-Elemente und Alltagsgegenstände auf, die allerdings keiner Logik oder Funktionalität folgen. In vielen Werken zeigen große Cursor-Symbole auf scheinbar willkürliche Flächen im Bild. Wir sind so auf Pfeilsymbole konditioniert, dass wir uns als Betrachter unweigerlich fragen: Was für einen Sinn kann ich erkennen? Welche Bedeutung könnte hier verborgen sein? Dass Pfeile uns auch lediglich verwirren können, kommt zunächst nicht in Frage – wir lassen uns erstklassig manipulieren bzw. steuern. Halmer nutzt diese bedeutungsgeladenen Symbole schließlich, um solche Mechanismen offenzulegen.
Eine weitere Werkserie von Dominik Halmer sind die „Shields“ (zu deutsch: Schilde, Schilder oder Wappen). Sie sind ebenso eigenständig in ihren Formen wie die großformatigen Arbeiten, keines gleicht dem anderen. Sie bestehen aus Variationen von geometrischen Elementen und tragen zum Teil kecken Fransen und Glitzerelemente. Dazu haben sie Titel, die an kryptische Abkürzungen erinnert wie KLA-shield, ERNST-shield oder MUN-shield. Sie scheinen Silben von Worten zu sein, die irgendwie bekannt klingen. Nebeneinander an der Wand aufgereiht könnten diese „Bild-Silben“ schließlich ein Wort oder einen Satz ergeben, dessen Bedeutung allerdings nicht so leicht zu entziffern ist. So gesehen haben sie auch etwas Lyrisches, was uns weiter zu den Arbeiten von Ria Patricia Röder führt.

Seit 2010 beschäftigt sich die Künstlerin mit Photogrammen, einem kameralosen phototechnischen Verfahren. Wie das Photogramm ist das Scanogramm nun eine kameralose Technik, die – wie der Name schon sagt – einen Scanner einbezieht. Vor einem unendlichen schwarzen oder weißen Raum scheinen die verschiedenen Objekte in ihren Arbeiten zu schweben oder sich teilweise fast schon aufzulösen.
Bei der Wahl des Scanners geht es Ria Patricia Röder aber nicht nur um den eigentümlichen Effekt eines unendlichen Raums, sondern vielmehr um die Zusammenstellung ihrer Bildobjekte. Röder kombiniert für ihre Scanogramme eine Vielzahl von Bildelementen auf einem Scannerbildschirm. Sie baut letztlich kleine Stilleben, die ein besonderes Eigenleben führen. So kombiniert sie z. B. Zeitungs-Textfragmente mit einer spanischen Porzellanpuppe und einem gefalteten Notizzettel neben einem verschatteten Handabdruck.

Die Arbeit „Water from Mexico (Sequel)“ verbindet reale Objekte aus unserer mehr oder weniger alltäglichen Umgebung. Dennoch stehen diese Objekte in keinem offensichtlich logischen Zusammenhang. Vielmehr implizieren Röders Scanogramme Geschichten, die mal bizarr, mal lyrisch oder intim erscheinen.
In der Arbeit „Grip“ schauen wir z. B. durch ein Gitter aus schwebenden Mikadostäbchen über einer symbolischen Mondsichel auf eine Puppenhand, die etwas fest zu greifen scheint. Die Situation hat etwas traumhaftes, als würde jeden Moment die ganze Puppe aus dem schwarzen Hintergrund heraustreten. Was genau sie in den Händen hält ist unklar und verschattet. Zwischen Schärfe und Unschärfe entsteht ein Tiefensog, der einen unendlichen Raum erzeugt. Dabei wird unser Blick bewusst zu den „scharf gestellten“ Stellen geführt, wie ein imaginärer Pfeil, dem wir intuitiv folgen – und das, ohne es wirklich zu merken.
Ria Patricia Röders Scanogramme sind so etwas wie persönliche ‚Bildgedichte‘. Sie haben eine starke literarische und erzählerische Ausstrahlung, in die jeder Betrachter seine eigene Erzählung legen darf. Im Zuge dieser Ausstellung hat die Künstlerin zudem ein neues literarisches Experiment entwickelt:
Mithilfe von KI hat sie Kurzgeschichten erstellt, die sich auf die Bildelemente in den ganz neu entstandenen Werken aus der Reihe „Water from Mexico“ beziehen. Für jeden Monat der Laufzeit wird es eine wechselnde Geschichte als Handout zu den Bildern geben. Die gleichen Bildelemente erzeugen also jeden Monat neue Geschichten, was zurückführt zu dem Arbeitsprozess und der Bildentstehung.

So wie die Scanogramme aus dem Abdruck, der Verformung und dem erneuten Abdruck entstehen, so werden auch die Erzählungen immer wieder in eine andere Perspektive gerückt. Über dieses Experiment wird noch deutlicher, wie wir Erzählungen schaffen, was wir von ihnen erwarten und wie sich überhaupt Zusammenhänge ergeben oder verschieben. Was Ria Patricia Röder und Dominik Halmer trotz ihrer völlig unterschiedlichen Herangehensweise verbindet, ist die Idee, das Denken über vermeintlich gesetzte Maßstäbe und Bedeutungen auf eine spielerische Art zu erkunden. Wie Bedeutung entsteht und wie Bildsprache eigentlich funktioniert sind dabei nur zwei der wesentlichen Fragen, die in der Ausstellung noch bis zum 15. Juni 2025 erkundet werden können.
Laufzeit: 02.02. – 15.06.2025
Kunstverein Reutlingen, Wandel-Hallen 1. OG, Eberhardstr. 14, 72764 Reutlingen