„Ich hatte eine furchtbare Kunstlehrerin“, lacht Ralf Bertscheit, als man ihn nach den Anfängen seiner künstlerischen Laufbahn fragt. Dabei kann er sich an den richtigen Start gar nicht mehr erinnern. Er habe immer Kunst gemacht, hält er fest. Es habe ihn wie selbstverständlich durch sein Leben begleitet. In der Schule mit der schrecklichen Lehrerin, als er Kunstgeschichte studiert hat und während seiner eigenen Tätigkeit als Kunstlehrer. Dabei ist seine Vorliebe für die kreative Arbeit nicht das Einzige, was in seinem Leben wie von magischer Hand einfach passiert ist. Auch seine Werke, die er in seiner Ausstellung „Wer zeichnet?“ für die Galerie Peripherie gesammelt hat, haben sich alle an einem Punkt in ihrem Entstehungsprozess vom rationalen Plan abgelöst und sich verselbstständigt. Wie das konkret aussieht, kann ab jetzt bis zum 22. Dezember im Sudhaus bewundert werden.
Die Autorenschaft der persönlichen Wahrnehmung
Dass die Interpretation eines Werkes je nach Betrachter:in variiert, ist kein neues Phänomen. Ralf Bertscheit geht in seiner humorvollen Einführung zu seiner Arbeit allerdings noch einen Schritt weiter. Bei seiner Reihe „Falter“, bei welcher es sich um eine tabellarische Aufzählung von Schmetterlingsnamen handelt, muss er zugeben, dass er überhaupt „noch gar nicht weiß, ob sie fertig ist oder ob das überhaupt Kunst ist“. Trotzdem, oder besser gesagt gerade deshalb, verdient sie ihren Platz in der Ausstellung. In seiner Freizeit widmet sich der Künstler der Suche nach Schmetterlingen. Die Namen, auf die er dabei stößt, bringen ihn zum Schwärmen. „Thyatira batis“, „Brintesia circe“ und „Vanessa atalata“ sind nur wenige von ihnen, die in der Reihe auf Papier ihre Verarbeitung gefunden haben. Sie spiegelt symbolisch wider, was im Atelier Ralf Bertscheits passiert. Er lässt Dinge unvollständig, wirft sein anfängliches Konzept über Bord und lässt sich von der ästhetischen Wirkung treiben. Dabei passiert es ihm nicht selten, dass er am nächsten Tag vor seinen Bildern steht und etwas gänzlich Neues erkennt als noch am Tag zuvor.
Lange stehen die Besucher:innen der Vernissage deshalb auch vor den umgedrehten Leinwänden. „Hinten“ heißen diese und lassen ihre Betrachtenden grübeln. Die Geschichte dahinter bringt Licht ins Dunkle. „Ich wollte alte Arbeiten, die ich nicht mehr mochte, wiederverwenden“, erklärt Ralf Bertscheit. Deshalb ging er in sein Arbeitszimmer, drehte die Öl-auf-Leinwand-Arbeiten um und bemalte die Rückseite als Grundierung mit weißer Acrylfarbe. Als er sie am nächsten Tag getrocknet wiederfand, war er begeistert, wie sich das Werk über Nacht entwickelt hatte. Die Materialien hatten miteinander reagiert und ließen so Bilder entstehen, die zwar durch Ralf Bertscheit entstanden waren, sich allerdings kaum mehr nach seiner Arbeit anfühlten.
Genauso persönlich und humorvoll ist die Frage nach der Autorenschaft seiner Werke auch bei den Bildern „Kritzel-Kratzel“ verarbeitet worden. Dankend erwähnt Ralf Bertscheit seine beiden Nachbarsjungen Benno und Mats, die ihn mit ihrem kindlichen Mut auf seine unorganisierten Werke hinwiesen. Was anfänglich wohl vorwurfsvoll gemeint war, dient nun als Name für die drei aufwendig farbenfroh gestalteten Bilder, die „nur Kritzel-Kratzel “ sind.
Dabei sind es nicht nur die eigenen Interessen oder andere Menschen, die Ralf Bertscheit zum Malen anregen. Es sind auch Raupen, die ihre Spuren im Kopf des Künstlers hinterlassen und ihn nicht selten hinter die Kamera setzen. Eine Fotoserie mit ihren strahlend grünen Farben, die direkt am Fenster des Raumes hell leuchtet, zeigt für die Ausstellung dabei Bilder, die ganz natürlich aus der Lebenswelt der kleinen Tiere gezeichnet wurden. Direkt nach dem Schlüpfen fressen sich Raupen durch die erste Schicht ihrer Blätter und hinterlassen so Spuren auf ihnen, die der Künstler als „hochästhetische Gebilde“ zu betiteln weiß.
Die Naturwissenschaft als Vorbild
„Beim intensiveren Arbeiten mit Material kann ein Flow entstehen“, beschreibt Ralf Bertscheit seine Arbeit, die sich meist über Wochen im Atelier erstreckt. So ist auch sein Werk „gewebt“ aus dem Jahr 2014 aus einem Prozess entstanden, welcher – ohne vorheriges Konzept oder Plan – dem Zufall folgte. Immer wieder hat er geometrischen Muster gestempelt und zerschnitten, neu zusammengewebt und gemischt, bis ein neues Muster entstanden ist. Ähnlich wie auch in seinem Werk, das den Namen des „Morie-Effekts“ trägt. Auch hier wurden, wie der Name schon sagt, verschiedene Raster, inspiriert durch Hasendrahtgitter, immer wieder neu gedreht und gewendet, bis ganz individuelle Strukturen entstanden sind, die in keinem Einzel-Muster zuvor existiert haben.
Auf diese Art und Weise mag sich ein oder eine Zuschauer:in gerne in den Werken Ralf Bertscheits verlieren. Hoch in die Luft ragen die Köpfe allerdings bei seinem für den Aufbau wohl aufwendigstem Bild, das den Namen „Land“ trägt und eine Höhe von fünf Metern misst. Das „Malen nach Zahlen“ für Erwachsene, wie es der Erschaffer selbst zu betiteln versteht, ist aus den Landkarten Baden-Württembergs entstanden. 72 einzelne Zeichnungen erstrecken sich über eine Wand der Galerie Peripherie und zeigen, was entstehen kann, wenn man die Höhenlinien einer Heimat als strikte Markierung für die Kolorierungen eines Gesamtwerkes nutzt. Inspirieren lassen hat sich der Maler dabei nicht nur von der Setzung der Geografen, sondern vor allem auch von den Elementen, denen wir diese Höhenunterschiede verdanken, von „Wind, Wasser, Eis und viel, viel Zeit“.
Etwas Lebendiges zu erschaffen, versuchte Ralf Bertscheit mit seiner eigenen „habitablen Zone“. Gleich seines Namengebers orientieren sich die Bilder, die den Raum der Galerie sowohl in dessen Mitte als auch prunkvoll an den Wänden füllen, an der Zone um einen Stern, in der Leben möglich ist. Sie ist nach heutigem Wissensstand nichts anderes als ein geometrisches Konstrukt und so für den Künstler rekonstruierbar. Mit Stempeln, die er sich vorweg schon zu einem Muster überlegt hatte, arbeitete er wochenlang an der Serie. Ob es geklappt hat, etwas Lebendiges aus so emotionslosen geometrischen Strukturen zu schaffen, diese Frage lässt er seinen Betrachtenden offen.
Man begegnet umgeben von diesen Werken, die sich hauptsächlich von Naturphänomenen und natürlichen Strukturen haben anregen lassen, immer wieder der Frage, die Ralf Bertscheit seit seiner ersten Ausstellung mit 20 Jahren umgibt und zu weiteren Werken bewegt: „Wer gestaltet hier wirklich?“ Ob man als Zuschauer:in nun eine Antwort auf diese Frage finden mag oder nicht, bleibt offen. Ralf Bertscheit allerdings wird es gewiss schon beim Betreten der Ausstellung schaffen, ein Lächeln auf die Gesichter der Besucher:innen zu zaubern. „Vögel“ nennt sich die Installation im Vorraum, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, Vogelstimmen einen Namen zu geben.