„Klang von Tusche“ – Gerburg Stein in der Galerie auf dem Podest (Stadtbibliothek Reutlingen)

Mit "Der Klang von Tusche" zeigt die Reutlinger Künstlerin Gerburg Stein erstmals ihre Tuschearbeiten. Farbharmonien und direkte emotionale Ansprache stehen dabei für die Künstlerin im Vordergrund. So hat sie die "Galerie auf dem Podest" in einem Raum voller Farbverläufe, Fantasie und expressiver Farbwerte verwandelt.

Tusche – der unbekannte Werkstoff

„Tusche“ ist etwas, das uns allen irgendwie bekannt ist. Etwas, das in großer Vielzahl im Künstlerbedarf erhältlich ist. Doch es ist auch ein Material, das nur selten in einer eigenen Ausstellung gewürdigt wird. Viele Museen, Galerien und große Teile des künstlerisch interessierten Publikums bevorzugen nach wie vor Skulptur und Malerei. Die Graphik, zu welcher im Allgemeinen Werke mit Tusche gezählt werden, erfreut sich dagegen weniger großer Beliebtheit. Umso schöner, dass Gerburg Stein ihre Ausstellung hier in der Stadtbücherei nun ganz dem „Klang von Tusche“ widmet.

Tusche in der Kunstgeschichte

Kunsthistorisch werden Werke aus Papier und Tusche der Graphik zugeordnet. Ihre Geschichte verläuft jahrhundertelang in Form von Zeichnungen im Schatten der großen Gattungsschwester „Malerei“. Werke mit Tusche und Tinte – beide Begriffe werden in der Kunstgeschichte lange Zeit synonym verwendet – sind vor allem eines: Mittel zum Zweck. Graphische Werke wurden bis in die frühe Moderne gar nicht als eigenständige Kunstwerke gewertet. Als Studien und Vorzeichnungen wurden sie lange Zeit als Brücke zu Malerei angesehen. Zeichnen war fester Bestandteil der Ausbildung in mittelalterlichen Malerwerkstätten, später im Studium an den Kunstakademien, in bürgerlichen Haushalten und im Kunstunterricht an den Schulen. Das Zeichnen mit Stift oder Feder musste gemeistert werden, um den Schritt zur Malerei gehen und endlich Kunst schaffen zu können.

Heute gilt Albrecht Dürer als einer der frühen, einer der großen, begabten Tuschekünstler. Er selbst hätte das vermutlich als Blödsinn abgetan, denn für ihn waren Zeichnungen Gebrauchsgegenstände zur Vorbereitung seiner Bilder. Eines seiner berühmtesten Werke aber ist eine Tuschezeichnung: Seine „betenden Hände“ gelten als besonderes Meisterwerk. Das Werk, eigentlich eine Vorzeichnung für den einen Altar 1508 erfuhr vor allem nach 1945 einen massiven Aufschwung an Popularität. Nicht weil es sich um eine qualitätiv hochwertige Zeichnung handelt. Sondern vor allem, weil der berühmte Maler Albrecht Dürer sie gezeichnet hat. Das, was Kunstrezipient:innen als Talent, als Künstlergenie, als Begabung bezeichnen, konnte sich jahrhundertlang nur in den großen Kunstgattungen, Malerei und Skulptur zeigen.

Für Gerburg Stein also ein gewagter Schritt, keine Malerei zu zeigen?

Tusche als Experimentierfeld der Kunst

Zum Glück ist die Kunstwelt heute aufgeschlossener und die Forschung hat sich vor allem in den letzten 20 Jahren intensiv mit den besonderen Qualitäten der Grafik beschäftigt.

Im beschriebenen traditionellen System des Kunstbetriebs, das die Kunstgattungen streng hierarchisierte und das in dieser Form bis ins 20. Jahrhundert beinah unverrückbar Bestand hatte, existierte die Graphik immer als eine Zwischenform: Nicht wirklich Malerei, aber auch nicht wirklich etwas eigenes. Ohne die strengen Vorgaben der Kunstakademien aber, wie sie für Malerei oder Skulptur galten, bot die Graphik den Künstler:innen Freiheiten, Techniken zu erproben und sich auszuprobieren. Die Graphik entwickelte sich also langsam zum Spielfeld der Künstler:innen.

„Tusche“ im engeren Sinne eroberte Europa im 17. und 18. Jahrhundert und erweiterte den Horizont der europäischen Künstler:innen. Im Gegensatz zur europäischen Tinte, die aus Flüssigkeit und Pigment bestand, enthielt die asiatische Tusche zusätzliches Bindemittel, dass für eine dickflüssige Konstistenz sorgt. So verläuft die Flüssigkeit nicht so schnell auf dem Papier (oder zieht ein), sondern trocknet langsamer und bildet farbintensivere Flächen.

In Asien war die Tusche vor allem in der Kalligrafie und in Landschaftsdarstellungen verwendet worden und auch die europäischen Künstler:innen integrierten den neuen Werkstoff in Landschaftszeichnungen. Landschaftsmotive erfuhren im 18. und 19. Jahrhundert eine große Beliebtheit und Landschaftszeichnungen waren beliebte Geschenke und Schmuckstücke im bürgerlichen Zuhause.

Ähnlich wie die Graphik in der Gattungshierarchie, so stand das Landschaftsmotiv in der Hierarchie der Genres am unteren Ende (mit der Historienmalerei an der Spitze). Und ähnlich wie die Graphik den Künstler:innen technische Freiheiten bot, so bot die Landschaft inhaltliche Freiheiten. In Naturformen wie Bäumen, Büschen und Wolken konnte die Fantasie der Künstler:innen Formen erfinden und die Tusche bot dafür neue technische Möglichkeiten: Klecksen, Kleckern, Tupfen, Pusten – in der Tusche und der Landschaft konnte Kreativität abseits der Normen des offiziellen Kunstbetriebs erforscht werden.

In der Gattung Graphik, dem Motiv Landschaft und dem Werkstoff Tusche vereinen sich also Qualitäten, die abstrakte Darstellungsweisen begünstigen und als Katalysator der Entwicklung der Kunst hin ins Abstrakte gedient haben.

Tusche als Imaginationsraum

Ein berühmter Baden-Württemberger hat sich hier besonders engagiert und kann als schwäbischer Begründer der Abstraktion gelten: Der Ludwigsburger Arzt und Künstler Justinus Kerner. Seine Technik der Klecksographie, die er im frühen 19. Jahrhundert erfand, kennen Sie sicherlich alle aus persönlicher Erfahrung: Er ließ Tinte auf ein Blatt Papier tropfen, bewegte das Papier hin und her, faltete es und suchte dann darin nach Formen. Diese arbeitete er aus und verfasste kurze Texte dazu, um ihre Bedeutung zu vertiefen.

Diese Technik wurde Anfang des 20. Jahrhunderts zu den bekannten „Rorschachtests“ der Psychodiagnostik weiterentwickelt, in denen die Betrachtenden durch die Bildinterpretation über ihre Gefühlswelt Auskunft geben konnten. Was eine zweite Eigenheit der Graphik unterstreicht: Ihre Nähe zur Wissenschaft. Abseits des Kunstbetriebs, waren Zeichnungen jahrhundertelang ein fundamentales Werkzeug zur wissenschaftlichen Dokumentation. Wir werfen nochmal einen Blick zurück zu Albrecht Dürer und dessen Naturbeobachtungen und Zeichnungen von technischen Erfindungen. Oder wir blicken zurück ins 18. und 19. Jahrhundert, in denen Zeichnungen die Grundlage für die Vermittlung der umfassenden Erkenntnisse naturwissenschaftlicher Forschungen bildeten.

Tusche bei Gerburg Stein

Gerburg Steins ausgestellte Werke knüpfen an diese Traditionen der Graphik an. Mit ihrem eigenen naturwissenschaftlichen Hintergrund erschafft sie künstlerische Experimentierfelder, die mit fast wissenschaftlicher Präzision bearbeitet werden. Sie sind abstrakte Imaginations- und Resonanzräume für die Emotionen der Betrachtenden.

Für die Erstellung der zumeist kleinformatigen Bilder entwickelte Gerburg Stein eine Art Versuchsanordnung. Sie experimentierte beispielsweise mit verschiedenen Papierarten, Techniken des Auftrags und Farbvarianten. Die Beobachtungen wurden dann analysiert und bei der Erstellung der nächsten Bilder neu berücksichtigt. So arbeitete sie eigene Techniken heraus und konnte ganz unterschiedliche Darstellungsweisen und Bildwirkungen entwickeln. Dabei begeistert die Künstlerin vor allem die Leichtigkeit der Arbeit mit Tusche.

Auf einige Aspekte der Ausstellung, die es beim Betrachten zu beachten lohnt, soll an dieser Stelle hingewiesen werden.

1.) Der Detailreichtum. Manche Werke, wie beispielsweise die der Landscape-Reihe, sind extrem detailliert. Schauen Sie also nachher genau hin! Die erdigen Farbtöne bilden differenzierte Muster und die Strukturen an den Rändern der Farbflächen evozieren Bilder von Landschaften oder kleinen Planeten. Dabei ist es der Künstlerin aber wichtig, dass die Bildtitel keine Deutungsrichtung vorgeben sollen. Sie sind vielmehr Ideenangebot. Also keine Angst: Ihre eigene Interpretation kann nicht falsch sein.

2.) Die Plastizität. Die Werke sind skulptural und raumgreifend. Durch gezieltes Gießen der Tusche und geschickte Kombination von Farbtönen erzielt Gerburg Stein eine dreidimensionale Wirkung. Hier ist wichtig zu erwähnen, dass die Werke nur durch das Ausgießen der Tusche über dem Papier entstanden sind und nur sehr selten mit dem Pinsel nachbearbeitet wurden. Bei Werken wie denen der Metamorphose-Reihe sind die Hell-Dunkel-Kontraste so geschickt gesetzt, dass sie wie nachbearbeitet aussehen.

3.) In der Ausstellung sind auch Werke in der Tradition unseres abstrakten Schwaben Justinus Kerner zu sehen. Sie sind zwar nicht gefaltet worden, doch die Tuscheflächen auf dem Papier beflügeln die Fantasie: Sieht das hier nicht aus wie ein Tier? Oder das hier wie eine Person? Mit der Farbigkeit der Tusche fügt Gerburg Stein aber noch eine zusätzliche Gestaltungsebene hinzu, die bei Justinus Kerner fehlte. Zusätzlich zur Form beeinflussen die Verläufe unterschiedlicher Farbe die Darstellung.

Der Klang von Tusche

Nun wurden die Werke der Ausstellung mit der Tradition der Graphik in Verbindung gesetzt, doch diese war jahrhundertelang schwarz-weiß. Die Werke der Ausstellung sind dagegen farbintensiv. Sind sie vielleicht doch eher Malerei?

Für die Künstlerin stehen die Farben und deren harmonisches Zusammenspiel im Mittelpunkt der Bildkomposition. Tatsächlich bespielt Gerburg Stein mit der Ausstellung auch die Grenze zwischen Graphik und Malerei. Dabei untersucht sie mit ihren Werken vor allem die Bildwirkung auf die Betrachtenden und stellt sich damit in die Tradition Mark Rothkos. Wie verhalten sich die Farben zueinander? Welchen Effekt haben die Farbkombinationen auf die Betrachtenden? Und welchen Einfluss hat dabei das Verhältnis der Bildgröße zur Farbfläche? Während Rothko diese Fragen im Großformat stellte, das das Sichtfeld der Betrachtenden komplett einnehmen sollte, überträgt Gerburg Stein das Prinzip auf das kleine Format. Sie ist auf der Suche nach der stimmigen Farbkomposition, die im Betrachtenden eine emotionale Reaktion entfacht. So entstehen einzelne Bildharmonien, die gemeinsam den „Klang von Tusche“ bilden.

„Klang von Tusche“ in der Galerie auf dem Podest
bis 31.05.2024

Stadtbibliothek Reutlingen
Spendhausstr. 2
72764 Reutlingen