Wir haben uns mit der Künstlerin Anna Gohmert per Skype getroffen. Unser Gespräch über Kunst, ihren Arbeitsprozess und den Kunstbetrieb war aber so vielseitig und hat so viele Denkanstöße gegeben, dass es mit einem einfachen Interview nicht getan wäre. Daher soll der Text heute vielmehr ausgehend von unserem Gespräch Gedanken versammeln und vor allem zum Mitdenken und Mitdiskutieren anregen.
Anna Gohmert lebt und arbeitet in Stuttgart, studierte an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart und war 2016 Meisterschülerin im Weissenhof-Programm. Ihre Arbeiten setzen sich oft auf assoziative Weise mit dem Individuum und seinem Platz in der Welt auseinander.
Lebendige Steine in der Galerie Stadt Sindelfingen
Ausgangspunkt unseres Gesprächs war das Kunstwerk Lebendige Steine, das für die Ausstellung Beyond the Pain in der Galerie Stadt Sindelfingen entstanden ist. Lebendige Steine ist eine raumgreifende Installation, die unterschiedliche Elemente verbindet. Zentral im Raum steht Steinwolle, von breiten Spanngurten als Rolle in Form gehalten, wie sonst Matratzen transportiert werden. Auf ihnen sind die namensgebenden lebendigen Steine, beziehungsweise Lithops (griech.: λίθος / lithos = Stein + ὄψις / opsis = Aussehen) – kleine Sukkulenten, die Steinen ähnlichsehen – in ein Bett aus Lithopserde und (echten) Steinen gepflanzt. In einer Ecke des Raumes befindet sich ein Kleiderständer, an dem Perücken hängen. Diese erkennt man zunächst aber nicht unbedingt als solche, da sie mit Alaunkristallen bewachsen sind. Dieser Alaun bildet fast farblose Strukturen aus, die zu Oktaedern kristallisieren. Auch auf Stoffbahnen hat Gohmert einen Kristallrasen gezüchtet. Drei der Stoffbahnen bilden einen Vorhang, der den Raum trennt und einen Gang zu den Ausgängen schafft. Eine weitere Stoffbahn hängt flach vor einer Wand und dient als Untergrund für eine hochformatige Videoprojektion. Dieses zeigt Gohmert selbst mit einer Auswahl ihrer weiblichen Verwandten – alle sind sie barfüßig und tragen rote Kleider, die sich ebenso wie ihre Haare im Wind bewegen. Sie sind in Rückansicht gefilmt, wie sie auf Juist vor und auf einer spärlich bewachsenen Sanddüne in Richtung Nordsee in die Ferne blicken. Mal halten sie sich an den Händen, dann ist wieder jede für sich alleine.
Was bisher noch nicht zur Sprache kam, ist die Lichtdramaturgie, mit der Anna Gohmert arbeitet: Kleine Leuchten werfen gezielt ein Schlaglicht auf die Lithops, die Perücken werden von unten mit einem gelben, warmen Licht angestrahlt; die Vorhangwand bekommt einen kühl glitzernden Schimmer. Insgesamt entsteht eine spezifische Atmosphäre: Der abgedunkelte Raum mit einzelnen angestrahlten Elementen weckt Neugierde und Entdeckungsdrang. Dies regt Besucher*in an, sich auf diese einzelnen Elemente und ihre Querverbindungen einzulassen.
Gedankenanstoß 1: Arbeitsprozess und Bedingungen des Raumes
Ein Thema, das gleich zu Beginn unseres Gesprächs aufgekommen ist, behandelt die Bedingungen, in deren Zusammenhang das Kunstwerk entstanden ist. So meinte Gohmert, dass die Lichtsituation im Raum gar nicht geplant war, sondern erst in der Auseinandersetzung mit dem Raum entstanden ist. Die Situation als Durchgangsraum machte es notwendig, die Besucher*innen und ihre Blicke stärker zu lenken. Beim Betreten der Installation ist die Projektion zunächst nicht zu sehen, die Spots auf die Lithops und die von unten beleuchteten Perücken ziehen im dunklen Raum als erstes die Aufmerksamkeit auf sich. Erst von der dem Eingang gegenüberliegenden Wand aus ergibt sich eine Position, von der aus man die ganze Arbeit im Blick hat. Die Leuchte, die die Stoffbahnen zum Glitzern bringt, lädt ein, die Kristallstruktur von Nahem zu betrachten. Die starren Falten der Vorhänge ergeben eine Abfolge von verschatteten Bereichen und hellem Funkeln – ein auf die Seite gedrehtes Gebirgsmassiv in Miniatur. Dabei macht das Leuchten unbewusst auch auf den Vorhang an sich aufmerksam:
„Die Vorhänge begrenzen den Raum, sodass gleichzeitig hinter dem Vorhang ein neuer Raum entsteht. Der Raum wird eingeteilt, um verschiedene Perspektiven zu ermöglichen. Die einzelnen Elemente der gesamten Installation zeigen sich mit Abstand betrachtet von einer anderen Seite: Mikro-, Meso- und Makrokosmos. So ermöglich der Blick durch die Vorhänge einen rückblickenden Blick auf eine Szene, die man davor durchschritten hat.“
Anna Gohmert hatte vor dem Aufbau schon Skizzen zu ihrem Raum gemacht und dort Elemente der Installation arrangiert. Als sie aber während des Aufbaus viele Tage dort verbrachte, änderte sich nochmals Einiges. So zum Beispiel die letztendliche Position der Steinwolle-Rollen. Dieses prozessorientierte Arbeiten, das Arbeiten mit den jeweiligen Umständen ist für die Künstlerin ein wichtiges Merkmal ihrer Praxis.
Gedankenanstoß 2: Kunst lebt!
Auch der zweite Gedankenanstoß ist mit dem Arbeitsprozess verbunden: Anna Gohmert erzählte davon, welche Ideen und Überlegungen in das Kunstwerk miteinflossen. Leitthema der Arbeit Lebendige Steine ist der Gedanke, dass ohne ausgewogenen Mineralhaushalt langfristig kein Leben möglich ist. Ausgangspunkt war hierfür eine persönliche Erfahrung: Nach einem Unfall musste der Künstlerin über einen langen Zeitraum täglich Blut abgenommen werden, um den Gehalt an Natriumchlorid (NaCl = Tafelsalz) in ihrem Blut zu bestimmen. Jeden Tag wurde eine neue Dosis berechnet, die sie daraufhin als reines NaCl in Tablettenform zu sich nahm.
Dieser Erfahrung verband Gohmert unter anderem mit einem Gemälde aus ihrem Bildgedächtnis: Caspar David Friedrichs Kreidefelsen auf Rügen von 1818, bei dem sie Aspekte wie die Kontemplation der Weite und der salzigen Nordsee ansprachen. In ihrer Arbeit Lebendige Steine kombiniert sie das NaCl im übertragenen Sinne als Alaun-Kristalle, gezüchtet auf totem Anfangsmaterial, wie Haaren und Stoffbahnen mit dem Blick auf die weite salzigen Nordsee. Als lebendige Lebewesen setzt sie die Lithops in das Zentrum der Installation. Kreidefelsen Auf Rügen greift sie visuell mit dem Video auf: Dieses ist auf Juist gedreht und hat den Titel Lebendige Steine / Totes mehr; Version: Juist anstatt Rügen. Details wie das Meer und das rote Kleid können als direkte Zitate gelesen werden – aber vielleicht nur wenn man diese Vorgeschichte kennt!
In der Veränderung von einer ursprünglichen Inspiration zum fertigen Kunstwerk passiert also einiges an Übersetzung und Gedankenarbeit. Wobei die Rede vom „fertigen Kunstwerk“ auch nicht wirklich zutrifft. Denn die Lithops machen augenscheinlich klar, dass es sich immer weiterentwickelt, immer weiterwächst. Die Lithops müssen gegossen werden, wachsen, bilden neue Blätter, die alten Blätter vergehen. Die Lithops blühen! Genau das lässt sich auch auf Kunstwerke an sich übertragen: Jedes Mal, wenn man sich ein Kunstwerk von neuem ansieht, entdeckt man neue Zusammenhänge innerhalb der Arbeit selbst und neue Referenzen zur Welt.
„Obwohl Lithops als pflegeleicht gelten, weil sie ein halbes Jahr ohne Wasser auskommen, darf man nicht vergessen, dass sie tatsächlich eingehen würden, bekämen sie in diesem Zeitraum permanent Wasserzufuhr. Das Anpassen an einen neuen Lebensraum, ein Prozess der Jahre / Jahrzehnte / Jahrhunderte braucht, bringt seine Opfer mit sich. Wie Pflanzen, so ist auch Kunst von einem Lebensraum abhängig, der sie am Leben erhält.“
Gedankenanstoß 3: Die Rolle der Kunst
Ein drittes großes Thema unseres Gesprächs war Kunst in der Corona Pandemie: Wie verändern sich Kunst und Kunstgenuss, wenn diese kaum mehr vor Ort und im Original angesehen werden kann, sondern nur medial vermittelt? Was machen die Betrachter*innen eigentlich, wenn die Kunst zum Großteil in den Ausstellungshäusern weggesperrt bleibt?
Die Fragen zeigen hierbei zwei wichtige Aspekte auf: Zum einen geht es um die mediale Vermittlung bzw. Übersetzung von Kunst und zum anderen um die Rolle der Betrachter*innen für die Kunst. Zum ersten Aspekt denke ich, dass Kunst fundamental eine Erfahrung ist. Und diese Erfahrung entsteht an einem spezifischen Ort mit spezifischen Objekten. Natürlich kann ein Abbild des Ortes und der Objekte für diese einstehen und die Kunsterfahrung simulieren. Es bleibt aber dennoch eine Distanz – wenn ich Kunst auf meinem Computermonitor sehe, sitze ich eben auf meinem Stuhl in meinem Zimmer und bin nicht im Ausstellungsraum und kann mich nicht unmittelbar mit dem Objekt auseinandersetzen. Auch für Anna Gohmert ist diese Erfahrung mit dem Original wichtig: Sie will ihre bestehenden Kunstwerke nicht verändern, um sie etwa besser reproduzierbar zu machen oder vermehrt auf Videoarbeiten setzen, die beispielsweise im Internet einfacher ein Publikum finden. Für eine Präsentation im Internet bedarf es zunächst der Analyse der spezifischen Bedingungen des Internets als Plattform und Ausstellungsraum sowie der darüberhinausgehenden Restriktionen und des Zeitgeistes.
Darüber hinaus ist für die Künstlerin auch der zweite Aspekt bedeutsam: Für sie ist Kunst nicht nur als Erfahrung gedacht, sondern vielmehr eine Einladung zu gemeinsamem Denken. Sie, als Künstlerin, gibt ihren Gedanken mit dem Kunstwerk eine Form. Indem das Kunstwerk ausgestellt wird, wird es zum Kommunikationsangebot, das auf Mitdenker*innen wartet. Die Betrachter*innen des Kunstwerks vollziehen Gohmerts Gedanken nach und fügen ihre eigenen Gedanken hinzu. Somit sind sie integraler Bestandteil des Kunstwerks und nicht nur dessen Rezipient*innen. Ohne das gemeinsame Denken ist das Kunstwerk nicht vervollständigt. Die Corona Pandemie stört nun diese Kommunikation. Wenn man nicht selbst vor Ort das Kunstwerk erfährt, kann man sich zum Beispiel die Größe im Vergleich zum eigenen Körper kaum vorstellen. Als Abbildung bleibt das Kunstwerk also ebenfalls ein Schatten seiner selbst und kann nicht weiterwachsen.
Lebendige Steine ist als Teil der Ausstellung Beyond the Pain in der Galerie Stadt Sindelfingen noch bis zum 30.05.2021 zu sehen. Auch wenn die Ausstellung zurzeit pandemiebedingt geschlossen ist, gibt es eine Onlineversion und die Dokumentation auf Anna Gohmerts Website.
„Wer eine Patenschaft fürs Leben für einen Lithops übernehmen möchte oder noch auf der Suche nach einer Perücke für die eigene Garderobe ist oder einen funkelnden, mit Alaun bewachsenen Vorhang als Raumteiler oder Wandschmuck in Betracht zieht, möge sich gerne bei mir melden.“