Mittlerweile würde ich sagen, dass ich mit meinen jungen Jahren schon einige Kunstwerke gesehen habe und mich mit vielen sehr intensiv beschäftigt habe; sicherlich mit einem Schwerpunkt auf europäische Malerei von mittlerweile alten (oder schon verstorbenen) weißen Männern. Rückblickend würde ich sagen, dass dieser Umstand insbesondere durch das Kunstgeschichtsstudium geprägt wurde. Natürlich kann ich an dieser Stelle nicht für alle Universitäten in Deutschland sprechen, aber ich würde behaupten, dass Seminare über Global South, Digitale Kunst, Gender, oder aktuelle, junge Positionen die Ausnahme sind. „Klassische” Inhalte bleiben für die Ausbildung wichtig, keine Frage.
Die Aufgabe unserer Generation wird es sein sich im Laufe der Jahrzehnte wissenschaftlich mit den neuen Themen zu befassen und den Kanon damit zu revolutionieren. Trotzdem braucht es mehrere Anstöße, Input und Gedankenaustausch. Dies scheinen insbesondere die großen internationalen Ausstellungen wie die documenta oder die Biennale di Venezia zu versprechen. Zwei Ausstellungskonzepte, die in Europa ihre Wurzeln haben und aktuelle internationale Kunst und Künstler*innen ausstellen.
Man müsste also meinen, dass man in Venedig und in Kassel (oder wo schlussendlich auch immer) aktuelle, interessante Positionen finden kann, die einen zum Nachdenken anregen und den aktuellen Zeitgeist eines Menschen, einer Kultur oder des Planeten näher bringen. Wenn ich aber nun ehrlich bin, habe ich nur wenige Kunstwerke auf der Biennale oder auf der documenta 14 in Kassel entdecken können, die mir genau das vermittelten. Vieles hat mich zwar ästhetisch angesprochen, wurde aber in meinem Bildgedächtnis sofort mit anderen bereits vorhandenen Kunstwerken der eurozentrischen Kunstgeschichte abgeglichen. Natürlich gibt es mittlerweile bei mir viele Treffer. Auf der einen Seite ist dies genau das, was ein Kunsthistoriker*innen-Gedächtnis ausmacht und das erste Handwerk zur Analyse und Interpretation.
Dennoch bin ich umso mehr sofort hin und weg, wenn ich etwas sehe, dass neu für mich ist. Das nicht sofort Ähnlichkeiten und Vergleiche aufruft. Werke, die mir neue sinnliche Impulse, Gedanken oder Fragen bieten. Kunst, die mich durch das raffinierte Nutzen von Techniken oder durch das Behandeln aktueller Themen meiner Generation anspricht. Diese Momente habe ich nur selten auf den internationalen Kunstschauen oder in den großen Museen erfahren dürfen. Mittlerweile sind es häufig intimere Begegnungen, wie in Ateliers, in Kunstvereinen oder Galerien, die diese Erfahrung ermöglichen.
Erst in letzter Zeit hatte ich einige dieser Begegnungen. Ich erinner mich stark an die Werke von Sophie Reinhold. Unzählbar viele Schichten, bearbeitet mit Marmormehl auf Jute. Die Bearbeitung dieser Materialien sowie das erneute Addieren und Abtragen dieser, ermöglicht es eine große Facette an Oberflächenstrukturen zu gewinnen.
Doch auch die Ausstellung „we grew some eyes” in der Villa Merkel, die die Meisterschüler*innen der Akademie der Bildenden Künste Stuttgart ausstellt, bot eine dieser neuen Begegnungen. Johanna Mangold beschäftigt sich in ihren ausgestellten Werken mit den gesammelten Erfahrungen des luziden Träumens, einer Art bewussten Träumens, in der man weiß, dass man träumt und ggf. die Träume steuern kann. Das ausgestellte Tagebuch mit Schriften und Bildern legt die Träume Mangolds offen. Intime Momente werden dargelegt, die häufig absurde Sprünge machen, mit denen man auch seine Traumerfahrungen abgleichen kann und sich parallel Gedanken um die Träume der Künstlerin aber auch um die eigenen macht.
Die Galerie Thomas Fuchs in Stuttgart stellte im Sommer 2019 Werke des Künstlers Ruprecht von Kaufmann aus. Intime Momente, in welchen er uns ganz nah heran lässt und gleichzeitig mit einer herausragenden Technik und Kompositionen begeistert. Kaufmann nutzt das Material des Linolschnitts und die Möglichkeit der Abtragung und Entfernung von Schichten des Materials, um fast räumliche Leerstellen realisieren zu können.
Es sind nur einige Begegnungen, die ich hier aufzähle, aber sie zeigen ganz klar: Da draußen gibt es noch viel Kunst zu entdecken. Kunst bleibt nicht still, sie bewegt sich stetig und erfindet sich immer neu. Auch wenn hin und wieder das Bildgedächtnis reingrätscht und meint, dass es da draußen nichts Neues oder Interessantes mehr gibt. Es irrt sich.