Experimentelles Arbeiten mit handwerklichem Geschick.
Wenn Jürgen Klugmann in seinem Atelier ein neues Werk beginnt, ist das Ergebnis zunächst offen. Die experimentelle Arbeitsweise steht im Mittelpunkt seines künstlerischen Prozesses und auch die Werke, die KuneProjects gemeinsam mit ihm in der Akademie der Kreiskliniken Reutlingen zeigt, entstanden durch ein künstlerisches Experiment. Seine kreative Arbeit beginnt handwerklich. Am Anfang steht die Konstruktion der Apparatur, die die Farbe auf das Bild bringen soll. An einer Halterung wird ein Seil befestigt, das einen Akkuschrauber trägt. Dieser wiederum ist bestückt mit einem Draht, an dessen Ende ein Stift montiert ist.
Über den so entstandenen Zeichenapparat hat der Künstler hat dann verschiedene Interventionsmöglichkeiten, mit denen er das fertige Werk steuern kann:
Zum einen an den Einstellungen der Zeicheninstrumente. Den Abstand der Stifte zum Maluntergrund beispielsweise oder die Anzahl der Stifte und deren Farben. Zum anderen am Akkuschrauber: Die Geschwindigkeitseinstellungen beeinflussen die Gestaltung der Linien. Sind diese Weichen gestellt, startet Jürgen Klugmann den Entstehungsprozess.
Zwischen Autarkie und künstlerischem Eingriff
Die Apparatur lässt dann einen fast autarken Zeichenprozess zu. Nach dem Anschalten surrt der Schrauber und der Stift tanzt über das Papier. Durch die Konstruktion mit dem flexiblen Draht entstehen keine durchgezogenen Linien, sondern ein Muster aus Punkten und kleinen Strichen. Diese verdichten sich zu Farbflächen im Laufe des mehrere Stunden dauernden Entstehungsprozesses. Dieser Prozess ist zunächst geprägt durch Zufall und durch die Wirkungsweise des Zeichenapparats, doch ist die Entstehung nie ganz ohne Einflüsse von außen. Der Künstler muss z.B. eingreifen, um den Akku zu wechseln oder leere Stift auszutauschen, Falten im Untergrund oder Auf- und Abwickelungsprozesse der Schnur beeinflussen die Bahnen des Stiftes, der so ins Stolpern kommen oder sich verhaken kann.
Die Werke, die in der Ausstellung „Kreislauf und Lagerung“ zu sehen sind, können also als Versuchsergebnisse verstanden werden. Und wie das bei wissenschaftlichen Versuchen so üblich ist, müssen diese Ergebnisse erst interpretiert werden. Welche Ergebnisse produziert die Versuchsanordnung also?
Ergebnis 1: Individualität
Trotz der scheinbar seriellen Anfertigung der Werke, gleicht keines genau dem anderen. Nicht nur wegen der schon erwähnten Interventionsmöglichkeiten des Künstlers, sondern auch wegen der zum Entstehungszeitpunkt gegebenen Umstände. Hat sich das Papier etwas bewegt, beeinflusst es die Bahn des Stifts. Hat sich etwas unter das Papier verirrt, wird es durchgepaust oder es lenkt den Stift von seiner kreisförmigen Bahn ab. Selbst wenn also die Apparatur für zwei Werke unter der gleichen Prämisse installiert wurden, ist das Ergebnis jeweils ein anderes.
Ergebnis 2: Gesellschaftliche Relevanz
Jürgen Klugmann nähert sich seinen Werken aus der Perspektive der Performance und nennt John Cage als wichtige Inspiration. Bevor der Begriff des „Happenings“ in den 1950er Jahren gebräuchlich wurde, führte er das Format ein. Im Mittelpunkt steht die Öffnung des traditionellen Kunstbegriffs und die Miteinbeziehung des Publikums und dessen alltägliches Leben. Die Verbindung von Kunst und Alltag soll die Besucher:innen zum Nachdenken über gesellschaftliche Fragen anregen. Während beim Happening der Werkprozess und die Werkidee über dem entstandenen Werk stehen, sind in unserer Ausstellung „Kreislauf und Ladung“ die Werke von Jürgen Klugmann die Zeugnisse der Happenings. Die großformatigen Werke stammen aus der „Corona series“ werden zum ersten Mal gemeinsam in einer Ausstellung gezeigt. Sie entstanden in den Coronajahren 2020-2022, in denen einiges Kopf stand und auch im künstlerischen Betrieb niemand wusste, wann und wie es weitergehen würde. Sie sind die Ergebnisse von Performances ohne Publikum. Jürgen Klugmann nutzte die freie Zeit im Atelier, um den Begriff „Corona“ für sich zurückzuerobern und wieder positiv zu besetzen. Er besann sich bei der Entwicklung der Zeichenapparatur auf die lateinische Bedeutung „Kranz“ oder „Krone“. Im Rahmen der Vernissage führte Jürgen Klugmann, gemeinsam mit Rüdiger Tschacher, eine Performance durch, die den Prozess veranschaulichte.
Ergebnis 3: Ästhetische Qualität
Die Leinwände und Grafiken sind mehr als Ergebnisse von etwas anderem. Über den Entstehungsprozess hinaus, sind sie Kunstwerke in eigenem Recht. Die kreisförmigen Motive bespielen die Grenze zwischen Grafik und Malerei, bestehen aus Punkten und Strichen und bilden doch in ihrer Gesamtheit Farbflächen. Diese können pastellig schimmern oder in knalligen Farben leuchten und interagieren miteinander und mit dem sie umgebenden Raum. Neben den Zeichen-Apparaturen mit Akkuschraubern, die die Grundlage für die Corona-Serie bildeten, experimentierte Jürgen Klugmann in den letzten Jahren auch mit anderen Zeichen-Apparaten. Die Corona-Serie wird in der Ausstellung daher durch jüngere Werke ergänzt, die mit einem Milchschäumer-Apparat erstellt wurden. Hier sind die Farben der Stifte deutlich voneinander abgegrenzt, zeichnen durchgängige Linien und bilden so einen Kontrast zu den Corona-Werken.
Allgemeine Informationen
„Kreislauf und Ladung
Jürgen Klugman“
6. Juni bis 30. September 2024
Akademie der Kreiskliniken Reutlingen
Daimlerstr. 23
72793 Pfullingen
Mo-Fr 8-17 Uhr