Wände I Walls im Kunstmuseum Stuttgart

Das Kunstmuseum Stuttgart trifft mit der aktuellen Ausstellung Wände I Walls nicht nur den Puls der Zeit, sondern unser aller Blick auf die momentane Situation. Wände spielen in der modernen und zeitgenössischen Kunst eine wichtige Rolle und werden als Symbol und Gegenstand immer wieder aufgegriffen.

Wände begleiten uns in unserem Alltag. Seit letztem Jahr kommt ihnen allerdings eine Bedeutung zu, die wir uns zuvor nicht hätten träumen lassen. 

Sie dienen als Schutz vor der Außenwelt und aktuell vor allem vor dem Kontakt mit dem Virus und damit mit anderen Menschen. So nehmen sie gezwungenermaßen eine wichtige Position in unserer Routine mit Corona und unserer Wahrnehmung dessen ein. 

Die Wand in der Kunst

Das Kunstmuseum Stuttgart trifft mit der aktuellen Ausstellung somit nicht nur den Puls der Zeit, sondern auch unser aller Blick auf die Umstände. Wände spielen in der modernen und zeitgenössischen Kunst eine wichtige Rolle und werden als Symbol und Gegenstand immer wieder aufgegriffen. 

Das Kunstmuseum beleuchtet diese künstlerischen Positionen und wirft damit gleichermaßen einen Blick auf unsere aktuellen Verhältnisse. So sind es Wände, die uns momentan daran hindern die Ausstellung zu besuchen. Sie spiegeln damit als symbolisch aufgeladene Einrichtungselemente das Leben mit Corona wider, wie kaum etwas anderes. 

Wir hatten die Gelegenheit in der kurzen Zeit zwischen Distanzierung und Abgrenzung vor Ort zu sein und konnten uns von der überwältigenden Wirkungskraft der in der Ausstellung vertretenen Werke überzeugen.
Seit Wochen sind die Kunstwerke nun hinter den gläsernen Wänden des Kunstmuseums verschlossen. Deshalb möchten wir hier Gedankengänge, Emotionen und Erfahrungen des Ausstellungsbesuchs mit euch teilen. Auf dass wir bald wieder die Möglichkeit haben hinter die Wände zu blicken, durch sie hindurch zu treten und sie zu berühren. 

Yoko Ono: Telephone in Maze, 1971/2011/2020, Acrylglas, Acrylglas verspiegelt, Metall, Holz, Telefon, 380 x 380 x 240 cm, Sammlung der Künstlerin, Installationsansicht WÄNDE I WALLS, Kunstmuseum Stuttgart, Foto: Gerald Ulmann, Stuttgart, © Yoko Ono.

Kubus Ebene 1 

Ein Teil der Ausstellung auf Ebene 1 setzt sich mit dem Thema “Wand” als Raumgrenze auseinander. Als Symbol für emotionale und körperliche Abgrenzung und konkrete räumliche Begrenzung, wird die Wand in Werken von Bruce Nauman, Yoko Ono, Maurizio Cattelan und anderen Künstler*innen in den Blick genommen. 

Im Zusammenhang mit der intensiven künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Thema Raum und dessen Begrenzung, das seit den 1960er Jahren bearbeitet wird, taucht die Frage nach der Bedeutung des Raumes immer wieder auf. Als Handlungsraum für zwischenmenschliche Interaktion, ist die soziale Komponente dabei nicht außer Acht zu lassen. 

Bruce Nauman

Die Wand dient ihm nicht nur als Abgrenzung zum Außenraum. Auch innerhalb eines Raumes können Wände abgrenzen, zusammenführen oder den Weg in den Raumstrukturen lenken. Bruce Nauman macht diese Eigenschaften der Raumstrukturen in dem Werk Wall with two fans körperlich erfahrbar. 

Der Strom der Besucher*innen wird beim Betreten des Ausstellungsraums von dem Element “Wand” in eine bestimmte, vom Künstler beabsichtigte, Richtung gelenkt. Auf beiden Seiten der Wand ist ein Ventilator positioniert. Die Entscheidung der Besucher*innen, auf welcher Wandseite sie die Installation passieren, wird dadurch von einer weiteren körperlich spürbaren Auswirkung begleitet. 

Rücken- oder Gegenwind trifft die Betrachtenden. Bewusst oder unbewusst nehmen sie so das Element “Wand” auf unterschiedliche Art und Weise wahr. Der Luftstrom macht körperlich erfahrbar, was die Wand als raumtrennendes Element darstellt. Symbolische und reale Ebenen, die ihr innewohnen, werden vereint. Die Wand öffnet damit den Blick für die Beziehung zwischen Körper und Raum, sowie die darin vorhandenen Wechselwirkungen. 

Maurizio Cattelan 

“Mit dem Kopf durch die Wand.” Dieser Satz, der sich im alltäglichen Sprachgebrauch etabliert hat, findet meist negativ konnotiert Verwendung. Das Ziel scheint außerhalb des Erreichbaren, wird jedoch um jeden Preis weiterhin verfolgt. Stur und ohne Rücksicht auf äußere Umstände. 

Maurizio Cattelan verbildlicht diese Vorstellung anhand eines Pferdekörpers, der mit dem Kopf in der Wand des Ausstellungsraums zu stecken scheint. Hoch über den Köpfen der Besucher*innen befindet sich das bemitleidenswerte Tier. Eine Interaktion oder gar eine Hilfestellung durch die Betrachtenden ist nicht möglich, sodass lediglich die Betrachtung bleibt. 

Die Wand wird hier als Barriere sichtbar. Als unüberwindbares Element scheint es den Kopf des Pferdes in sich aufzunehmen und unserer Realität zu entziehen. Ein Zurückkehren zum ursprünglichen Zustand wird so unmöglich, wie auch das Voranschreiten. 

Maurizio Cattelan: Untitled, 2007, Präpariertes Pferd, 300 x 170 x 80 cm, Installationsansicht WÄNDE I WALLS, Kunstmuseum Stuttgart, Foto: Gerald Ulmann, Stuttgart, Courtesy Maurizio Cattelan’s Archive.

Kubus Ebene 2

Eines der vorherrschenden Ausstellungskonzepte der Kunstgeschichte ist das Modell des White Cubes (der weißen Zelle). Manifestiert in der Moderne, gilt die weiße, sterile Wand seither als Standard für die Präsentation von Kunst. 

Die Frage nach dem Kontext, in welchem Kunstwerke ausgestellt werden, prägt die Auseinandersetzung mit diesem Ausstellungskonzept, sodass die Beteiligung der weißen Wand zwangsläufig Bestandteil des Exkurses wird. 

Die zweite Ebene des Kunstmuseum Stuttgart setzt sich mit der künstlerischen Rezeption dieses Themas auseinander. Die Werke in diesen Räumen beleuchten die Wechselwirkung zwischen der Umgebung, den Betrachtenden und dem Kunstwerk selbst. Ein komplexes Geflecht, das in der Summe den gesamten Bedeutungsraum ausschöpfen, nicht aber autonom existieren kann. 

Felix Schramm 

Als Reaktion auf den Ausstellungsort entsteht ein Werk, das mit dem Raum und den Rezipient*innen interagiert. Als Resultat konkreter Beobachtungen der Architektur und den daraus entstehenden Raumstrukturen, installiert Felix Schramm sein Werk in der Wand. 

Das Betreten und die Bewegung im Ausstellungsraum wird von seinem Werk Over Horizon hidden geprägt. Einer Sprengung gleich, destabilisiert die Dekonstruktion der weißen Wand das Modell des White Cubes. 

Blicke in andere Räume öffnen sich und die Wand scheint aus der zweidimensionalen Realität, in der sie sich zurückgenommen im Hintergrund eines Kunstwerks befindet, in den Raum und die dritte Dimension auszubrechen. Die Wand selbst wird zum Werk und das Werk ist von ihr nicht mehr zu trennen. 

Der Kontext zwischen Wand, Betrachtenden und Werk wird aufgebrochen und neu kontextualisiert, denn die Positionen der einzelnen Elemente haben sich vermischt, verändert und verkehrt. Als Betrachter*in müssen wir uns nun selbst fragen, in welchem Verhältnis wir zu den Komponenten stehen und, ob wir uns tatsächlich in einem White Cube befinden. 

Daniel Buren

Die Anfänge der Auseinandersetzung mit der Wechselwirkung zwischen Werk, Wand und Betrachtenden liegt in den 1960er und 70er Jahren. Zu den Pionieren dieser künstlerischen Entwicklung gehört Daniel Buren. Die Grundlage für den Entstehungsprozess seiner Arbeiten stellt die Kontroverse mit dem klassischen Tafelbild dar. 

Die Rahmung, das Material, das Format, Höhe der Anbringung und gängige Abstände interessieren ihn bei der Konzeption seiner Arbeiten. Welche Aussage entsteht durch die Auswahl der einzelnen Elemente? Welche gängigen Interpretationen entwickeln sich daraus? Was sagt all das über das Verhältnis zwischen Werk, Wand und Betrachtende aus? 

Stoffe und Malerei, die direkt auf der Wand angebracht sind, kehren das Verhältnis um und machen die Wechselwirkungen in seinen Arbeiten sichtbar. So geht auch bei dem Werk Peinture sur Peinture im Kunstmuseum Stuttgart die bilderzeugende Kraft von der farbigen Wandmalerei aus. 

Felix Schramm: Over Horizon Hidden, 2020, Gipskarton, Holz, Farbe, Installationsansicht WÄNDE I WALLS, Kunstmuseum Stuttgart, Foto: Gerald Ulmann, Stuttgart, © Felix Schramm.

Kubus Ebene 3 

Kulturelle Handlungen und die individuelle Wahrnehmung ist maßgeblich von der Interaktion mit einem Gegenüber geprägt. Auch die Wand kann als Raumgrenze ein Gegenüber darstellen, das eine Wechselwirkung bedingt und unser Agieren beeinträchtigt. 

Die Werke auf der dritten Etage des Kunstmuseums Stuttgart schärfen den Blick für die Beziehung, die zwischen Individuum und Umgebung entsteht.

Sophie Innmann 

Ein Moment der Ruhe gehört zu einem Ausstellungsbesuch, wie die Aufnahme von Reizen und Anregungen, die von der Kunst ausgehen. Das Innehalten dient der Reflexion des Gesehenen, dem freien Denken, ohne direkt ausgelöste Assoziationen und der schlichten körperlichen Erholung. 

Sophie Innmann bietet den Besucher*innen mit ihrer Installation Chapel einen Raum für diese Prozesse – vordergründig mit der Absicht zum Niederlassen einzuladen. Auf den zweiten Blick wird deutlich, dass die Wand, vor der sich die beiden Bänke befinden, eingefärbt ist und als Bestandteil der Installation eine wichtige Rolle spielt. 

Die Anwesenheit der sich niederlassenden Besucher*innen hinterlässt über die Dauer der Ausstellung Spuren an dieser. Als Spiegel der Zeit werden so Bewegungen und Positionen der Personen, die mit der Installation agieren, sichtbar. Die Wand ist somit nicht alleine Bestandteil des Werks, sondern Kommunikations- und Speichermedium zugleich. 

Emily Katrencik 

In der Videoinstallation der Künstlerin Emily Katrencik wird einer der radikalsten Standpunkte in Bezug auf das Medium Wand sichtbar. Innerhalb von 41 Tagen hat sich die Künstlerin durch die Wand des Ausstellungsraums LMAKproject gefressen. Die Wand trennt den Galerieraum vom Wohnraum des Galeristen. Sie trennt also nicht nur einen Raum vom anderen, sondern trennt das Öffentliche vom Privaten.

Das Auffressen dieser Barriere stellt auf mehreren Ebenen ein Aufbrechen der Konventionen dar. Das Konstrukt “Wand” verliert seine Charakteristika und vor allem die wehrhafte Eigenschaft, die ihre Unüberwindbarkeit ausmacht. 

Die Wand, die sich ohne aktives Handeln, aufgrund ihrer Eigenschaften in einer aktiven Rolle befunden hat, wird durch die Handlung von Katrencik zu einem passiven Objekt. Eine Verschiebung der Wechselwirkungen findet statt, sodass diese grundlegend in Frage gestellt werden. 

Die Kunst in der Wand

Die künstlerische Auseinandersetzung mit der Wand findet auf vielseitige Weise statt. Die Ausstellung im Kunstmuseum Stuttgart gibt einen Einblick in die verschiedenen Auswirkungen, die die Wand auf unseren Alltag hat. Sie beleuchtet, wie sich das Verhältnis zwischen Wand, Kunstwerk und den Betrachtenden verändern kann, welche Komponenten dies bedingen und welche Blickwinkel bei dessen Betrachtung eingenommen werden können. 

Noch bis Ende Januar ist das Museum voraussichtlich geschlossen. Darüber hinaus können wir momentan leider keine genauen Angaben über die Dauer der Ausstellung machen. (Aktuell ist die Ausstellung bis 21. Februar 2021 angesetzt.) Die Wände, die uns vor der Außenwelt schützen, hindern uns also vorerst auch weiterhin an der unmittelbaren Auseinandersetzung mit den Werken. 

Digital herrschen diese Barrieren zum Glück nicht vor und wir freuen uns euch hier einen Vorgeschmack auf die Ausstellung und Vorfreude für den Besuch vor Ort bieten zu können.