Kannst du dich selbst für die Lesenden vorstellen? Wie ist dein künstlerischer Werdegang bis jetzt verlaufen?
Jedenfalls nicht geradlinig – diese Frage wirft mich sofort in eine kleine Krise: Was bin ich eigentlich? Tänzerin, Choreografin, Kulturarbeiterin, Aktivistin, Netzwerkerin? Nach einem abgebrochenen Architekturstudium habe ich mein Bühnentanzstudium an der Folkwang Universität der Künste abgeschlossen – noch unter Pina Bausch. Geprägt hat mich dann vor allem die intensive Zeit als Tänzerin bei NEUER TANZ in Düsseldorf (Wanda Golonka / VA Wölfl), die meine ästhetische Haltung stark beeinflusst hat. Aber das Leben als Performerin in den 90ern war oft ein echt ermüdendes Dasein – die Strukturen waren hart, soziale Absicherung quasi nicht vorhanden. Mir hat es auch widerstrebt, dass die Gestaltungsräume als Performerin begrenzt waren. Irgendwann habe ich begonnen, selbst zu choreografieren. Es entstanden erste Arbeiten mit dem Komponisten Achim Bornhöft, mit dem mich bis heute eine enge Zusammenarbeit verbindet. Mit der Geburt meiner zweiten Tochter wurde das Dasein als Freelancerin immer schwieriger. Ich bin zurück nach Tübingen gezogen und habe dort das Tanzstudio DANZON gegründet. Gleichzeitig habe ich meine choreografische Arbeit weiterentwickelt, oft mit einem Fokus auf kulturelle Teilhabe. Es folgten Lehraufträge, choreografisches Coaching, Kulturmanagement, Projektleitungen wie bei der Tübinger Kulturnacht – und 2020 dann die Gründung von PACT e.V., einem Zusammenschluss freier darstellender Künstler:innen, mit dem Ziel, bessere Strukturen für die Freie Szene zu schaffen. In den letzten Jahren habe ich wieder vermehrt eigene Choreografien entwickelt, wie citizencage und Artificial Normal. Derzeit entwickle ich im Team ein Toolkit für kreative Körperarbeit – und bin gerade dabei, die gemeinnützige UG Collectiveskin zu gründen. Ich bin also eine Art Multitool. Oft genieße ich die Vielseitigkeit meiner Arbeitsbereiche – manchmal bewundere und beneide ich Menschen mit einem nerdigen Nischenwissen.

Was hat dich dazu bewegt, vom Architekturstudium in den Bereich Tanz und Choreografie zu wechseln?
Schon als Kind mit riesigem Bewegungsdrang wollte ich Tänzerin werden. An der Cranko Schule wurde ich nicht aufgenommen. Der Klassiker: Zu wenig Turnout, also Beweglichkeit im Hüftgelenk. Nach dem Abitur habe ich dann angefangen, Architektur und Städtebau zu studieren. Ein fantastisches Studium, das mit sehr vielen Themen verwoben ist. Genau richtig für jemanden wie mich mit breiten Interessen. Ich bin aber weiterhin täglich ins Training gegangen – das Tanzen war der Ort, an dem ich ganz bei mir selbst war. Während des Studiums habe ich Leute kennengelernt, die an der Folkwang Universität der Künste Bühnentanz studiert haben. Das war ein völlig anderes Konzept als die Ausbildung zur klassischen Tänzerin, die im Regelfall mit zehn Jahren beginnt. Als zeitgenössische Performerin war es normal, erst nach dem Abitur mit dem Studium zu beginnen. Ich bin also zur Audition und wurde aufgenommen. Und das war es dann mit Architektur.
Inwiefern beeinflusst dein Wissen über Architektur deinen Blick auf Räume und wie diese bespielt werden können?
In der Architektur geht es sehr darum, Bewegung zu lenken. Körper sind architektonische Gebilde, der Körper im Raum erzählt eine Geschichte, allein dadurch, wie er positioniert ist – das ist vielleicht das Offensichtliche. Es gibt sehr viele Parallelen und Überschneidungen von Architektur und Choreografie. Was ich davon mitgenommen habe: Ich arbeite extrem gerne site-specific – also angepasst an den jeweiligen Ort. Mich interessiert, wie ein Raum atmet und sich bewegt. Wie er klingt. Ob er sich öffnet oder schließt, ob man Beklemmung oder Weite empfindet. Die Möglichkeiten, Strukturen, Beschaffenheiten, aber auch die Geschichte eines Ortes oder Raums. Wie er Menschen, Verkehr in Bewegung bringt. Welche Wege er zulässt. Oder verwehrt. Das sind für mich entscheidende Inspirationsquellen. Natürlich hat die Blackbox, sprich Theaterraum, total ihre Berechtigung – ich liebe es, im dunklen Zuschauerraum zu sitzen und diesen voyeuristischen Blick zu genießen. Der Bühnenraum schafft Klarheit, eine gezielte Rahmung, lenkt die Aufmerksamkeit und erlaubt eine andere Form von Konzentration. Aber im offenen Raum – sei es ein leerstehendes Gebäude, eine Straße oder ein Museum – setzt man sich mit einem Ort auseinander, der bereits eine Geschichte erzählt, und ich kann als Choreografin in einen Dialog mit ihm treten. Die Komponente des wenig Planbaren kommt dazu. Es ist ein bisschen wie instant composition, man muss immer wach bleiben, um mit dem Unvorhergesehenen interagieren zu können.



Welche Themen greifst du als Tanzaktivistin in deinen Projekten auf? Und wie wählst du deine Themen aus?
Mein übergeordnetes Thema ist „What can Dance do?“ – also: Was kann ich mit körperbasierter Kunst gesellschaftlich bewegen? Meine Antwort ist: sehr viel! Es beginnt schon beim physischen Erscheinen, beim Zusammenkommen, beim geteilten Raum. Wie können wir mit Mitteln der körperbasierten Kunst gesellschaftlich ins Gespräch kommen? Oder auch Konflikte austragen. Das fühlt sich komplett anders an als im virtuellen Raum, wo ich meinem Gegenüber nicht in die Augen schaue. Mir gefällt der Begriff „Tanzaktivistin“, weil er das Politische meines Tuns betont. Ich sehe Tanz nicht nur als ästhetische Praxis, sondern als Mittel, um gesellschaftliche Fragen auf körperliche Weise zu verhandeln. Ich mag auch den Begriff „embodied reflexive practice“. Teil meiner Vermittlungspraxis war immer ein feministischer Aspekt. Tanz wird zu 90 % von weiblich gelesenen Personen praktiziert. Irgendwann dachte ich: „Was für eine großartige Möglichkeit, mit Frauen und Mädchen einen supported space zu teilen.“ Ich benutze den Begriff „supported space“ anstelle von „safe space“, den es meiner Meinung nach nicht gibt. Also ein Training und einen Raum, der Anderssein, Kreativität und diverse Körper schätzt. Das ist auch der Kern des Toolkits für kreative Körperarbeit, das wir im Team entwickeln. Hier geht es darum, wie wir mit Mitteln der Kunst und der kreativen Körperarbeit anders über Dinge nachdenken können, im Sinne der embodied reflexive practice. Ich glaube, auch der Schulsport könnte sehr viel von kreativer Körperarbeit profitieren. Hier wird immer noch viel gemessen, normiert, geleistet. Wie toll wäre es, wenn wir schon in der Schule einen positiven Zugang zu diversen Körpern, Körperlichkeit, Kreativität und Bewegung implementieren könnten. Wahnsinnig spannend finde ich performative Kulturpraktiken, wie Prozessionen, Beerdigungs- oder Essensrituale und würde gerne noch mehr darüber verstehen. Auch hier spielt die Verkörperung von etwas – z. B. Trauer – eine Rolle. Gleichzeitig wird die Trauer inszeniert, sichtbar gemacht, bekommt einen Rahmen und eine Choreografie. Ein super Thema, das so viele Ebenen hat.
Wie siehst du die Rolle des Tanzes in der heutigen Gesellschaft, insbesondere in Bezug auf soziale und politische Themen?
Politisch ist für mich der Körper an sich. Alles daran. Der Körper ist Teil unserer Identität. Wie wir körperlich erscheinen, wie wir gelesen werden. Wer gesehen wird – und wer nicht – ist politisch. Wer Raum einnimmt und wer nicht. Tanz und die körperbasierten Künste spielen eine enorm wichtige Rolle in dieser sehr entkörperten Zeit. Sie können meiner Meinung nach einen großen Beitrag zu den großen Krisen leisten. Tanz hat oft einen Community-Charakter. Wir tanzen und bewegen uns in der Gruppe. Tanz kann den Charakter eines Rituals haben, eine Praxis des Zuhörens, des Austauschs, des Miteinander-Seins werden. Eine Form des Widerstands gegen Entfremdung, gegen Vereinzelung und Einsamkeit. Tanz kann spielerisch und explorativ sein. Er muss nicht einem Leistungsgedanken folgen. Er kann nur er selbst sein. Neulich habe ich ein schönes Zitat gehört: „The totally inefficient process that we call art“. Das war in einem Podcast, in dem es um AI ging. Tanz ist oft spielerisch und selbstverloren. Tanz kann, wie viele Künste, Dinge erfahrbar machen. Und trotzdem: Es muss immer wieder dafür argumentiert werden. Für Tanz. Für Körperwissen. Für kulturelle Teilhabe. Kunst und Kultur werden zu oft als nice to have wahrgenommen.

Welche Freuden und Herausforderungen entstehen durch deine Tätigkeit als freie Künstlerin?
Die größte Freude ist für mich der kreative Prozess. Ich mag es, mit spannenden Menschen zusammenzukommen und gemeinsam etwas entstehen und wachsen zu lassen, das vorher noch nicht da war. Diese Phase in einer Kreation, in der noch alles möglich ist, liebe ich am meisten. Es ist eine Spielwiese – man kann die Dinge einfach eine Weile laufen lassen, Ideen ausprobieren. Ohne sich selbst dauernd daran zu erinnern, dass man ein Produkt liefern muss. „The totally inefficient process that we call art“. Leider nimmt die Vorarbeit, sprich Fördergelder, Anträge stellen, Planung etc. wahnsinnig viel Raum ein. Neben den 1000 Dingen, die man tun muss, bis man endlich die eigentliche choreografische Arbeit machen kann, steht an erster Stelle der Herausforderungen die finanzielle Unsicherheit – das Leben von Projekt zu Projekt, ohne langfristige Absicherung. Es bleibt oft wenig Raum für Erholung oder tiefergehende Recherchephasen, obwohl genau diese Zeit essenziell für die künstlerische Entwicklung ist. Insgesamt ist der Beruf Choreografin herausfordernd – man braucht Kompetenzen in so vielen Bereichen. Man muss sich mit Scheinwerfertypen genauso auskennen wie mit Musikschnitt, mit Teamführung, Selbstvermarktung oder dem Ausfüllen von Formularen und darf dabei aber die Kunst nicht aus den Augen verlieren. Herausfordernd finde ich auch, dass man als Kunstschaffende immer in die Rolle einer Bittstellerin gedrängt wird. Dass wir nicht als das gesehen werden, was wir sind: Menschen, die einen großen Beitrag leisten, indem wir die Dinge anders betrachten. Deshalb plädiere ich sehr für ein Grundeinkommen für Künstler:innen – als notwendige Grundlage für eine nachhaltige, vielfältige Kulturlandschaft. Denn kreative Arbeit braucht nicht nur Inspiration, sondern auch Zeit, Ruhe und ein Mindestmaß an Sicherheit.
Was waren für dich als Gründungsmitglied von PACT die Hauptgründe für diesen Zusammenschluss von freien Kunstschaffenden? Welche Ziele habt ihr?
Der Hauptgrund war, sich mit anderen darstellenden Künstler:innen zusammenzuschließen, um etwas gegen die Vereinzelung vorzunehmen, etwas in Bewegung zu bringen – und gemeinsam mit einer lauteren Stimme zu sprechen. Wir wollten sichtbar machen, wie viele wir eigentlich sind, welches kreative Potenzial in der freien Szene steckt – und gleichzeitig darauf aufmerksam machen, wie viele großartige Künstler:innen die Stadt verlassen (müssen), weil es an Strukturen, Räumen, Förderung und Wertschätzung fehlt. Wir hatten – und haben – den Wunsch, ein zeitgenössischeres Kunstverständnis nach Tübingen zu bringen. Eines, das offen ist für neue Formen, für Prozesshaftigkeit, für gesellschaftliche Relevanz. Wir wollten Bedingungen schaffen, unter denen sich eine freie Szene hier wirklich entfalten kann. Leider bleiben diese Ziele schwer erreichbar, solange es keine Stadtverwaltung gibt, die den Mut zur Gestaltung aufbringt, das Potenzial erkennt und ihre Verantwortung wahrnimmt – nämlich eine Kunst zu ermöglichen, die auf Teilhabe basiert und die Gesellschaft aktiv mitgestaltet.

Wie siehst du die Entwicklung der freien Szene in Tübingen und der Region?
Momentan sehe ich vonseiten der Stadt keinen echten Willen, die freie Szene strukturell zu fördern. Es fehlt an ausreichender finanzieller Unterstützung, an Räumen und an einem Dialog auf Augenhöhe. Vieles hängt vom persönlichen Einsatz der Künstler:innen selbst ab – das ist auf Dauer nicht tragfähig. Besonders ernüchternd war für mich die jüngste Entscheidung der Stadt, einen 70-jährigen Intendanten zu berufen – nichts Persönliches gegen den sicherlich sehr kompetenten Kollegen. Ich empfinde das als deutliches Zeichen gegen Erneuerung, gegen Diversität, gegen eine zukunftsorientierte Kulturpolitik. Es sendet die falsche Botschaft an eine freie Szene, die nach zeitgemäßen Formen des Arbeitens, nach Teilhabe und neuen Narrativen sucht. So wandern Talente ab und bei denjenigen, die bleiben, macht sich Frustration und Ermüdung breit.
An welchen Projekten arbeitest du aktuell und welche Themen möchtest du in Zukunft künstlerisch beleuchten?
Aktuell arbeite ich an einem neuen Stück mit dem Titel Redhot – Ultra Deluxe, einer Game-Performance, die sich mit Entscheidungsfreiheit, Manipulation und Machtstrukturen beschäftigt. Das Publikum durchläuft eine interaktive Spielwelt, in der Prinzipien des Gamedesigns – wie Spielerführung, Belohnungssysteme und Entscheidungsarchitekturen – auf den realen Raum übertragen werden. Inspiriert von Computerspielen wie The Stanley Parable erleben die Zuschauer:innen, wie vermeintlich freie Entscheidungen gelenkt und beeinflusst werden. Jedenfalls stelle ich mir das so vor. Die Entwicklung eines Stücks ist wie ein eigenes Wesen: Man fängt mit einer Idee an und das Wesen führt einen in eine ganz andere Richtung – on verra sozusagen. Wir hoffen, das Stück im November in der Shedhalle Tübingen zur Premiere zu bringen. Parallel entwickeln wir im Team ein Toolkit für kreative Körperarbeit – eine modulare Sammlung von Methoden, Formaten, Denkansätzen aber auch praktischen Übungen, die körperbasierte Arbeit für künstlerische, pädagogische und soziale Kontexte zugänglich und anwendbar machen. Immer wieder bieten wir Fortbildungen an, um das Toolkit möglichst praxisnah zu überprüfen – zuletzt bei der kit-Jugendhilfe. Und der größte Brocken: Ich bin gerade dabei, Collectiveskin – eine gemeinnützige UG – zu gründen. Es soll eine Plattform für künstlerische Praxis, Körperarbeit und Performance sein. Es will Labor und Netzwerk sein für Bewegung, Kunst, Kollaboration. Welche Themen und Kooperationen sich daraus ergeben, wie sich das entwickelt – darauf bin ich gespannt. Ich möchte Menschen einladen, mitzumachen und mitzuexperimentieren. Wer ein Vorhaben oder eine Idee hat, die in dieses forschende, körperliche Profil passt – oder wer sich einfach vernetzen will: Melde dich! Das Projekt wird von Austausch und Kooperationen leben.