NEW&COMING im Kunstverein Reutlingen                                                                           

Die Ausstellung „NEW&COMING“ im Kunstverein Reutlingen zeigt sechs unterschiedliche Positionen, die vielseitige Themen und Medien verbindet, wobei gleichzeitig überraschende Überschneidungen autauchen. Welche Verbindungen sich unter den erst einmal sehr unterschiedlichen Werken erkennen lassen, werden wir Euch hier genauer vorstellen.

Junge Künstler:innen am Beginn ihrer Karriere zu begleiten ist eines der spannendsten Erlebnisse, die man als Kunsthistoriker:in haben kann. Die Ausstellung „NEW&COMING“ im Kunstverein Reutlingen zeigt sechs unterschiedliche Positionen, die vielseitige Themen und Medien verbindet, wobei gleichzeitig überraschende Überschneidungen autauchen. Welche Verbindungen sich unter den erst einmal sehr unterschiedlichen Werken erkennen lassen, werden wir Euch nun genauer vorstellen.

Ausstellungsansicht "NEW&COMING", Kunstverein Reutlingen, 2024. Foto: Frank Kleinbach.
Ausstellungsansicht „NEW&COMING“, Kunstverein Reutlingen, 2024. Foto: Frank Kleinbach.

Achtsamkeit und Keksläufer bei Naomi Semma

Schon die Auftaktperformance von Naomi Semma und Luana Gräbe war ein Experiment der Sonderklasse. Die beiden Künstler:innen gingen mit den Besucher:innen mal so richtig „auf den Keks“ – und das wortwörtlich in Form eines langen Keks-Läufers. Was nach einem lustigen Wortspiel klingt hatte tatsächlich viel mit Achtsamkeit zu tun. Auf was – oder wen – treten wir bewusst – oder unbewusst, Tag für Tag. Welche Krümel hinterlassen wir und wer fegt sie wieder zusammen? Wie gehen wir mit Lebensmitteln um, wo wird Verschwendung schon gar nicht mehr wahrgenommen?

Ausstellungsansicht „NEW&COMING“, Kunstverein Reutlingen, 2024. Foto: Frank Kleinbach.

Naomi Semmas Arbeiten haben häufig etwas mit Sensibilität zu tun. Ihre Serie „das Leben unterwegs“ besteht z. B. aus kleinen Fahrkarten, die ein breites Grinsen, aber auch ein Innehalten auslösen können. Jede der Karten skizziert eine andere Alltagssituation: „Heute im Bus hat mich eine Frau tatsächlich darum gebeten, leiser zu atmen, weil sie sonst nicht denken könne. Ihre Gedanken scheinen empfindlich zu sein, aber ich muss doch atmen oder nich.“

Naomi Semma spricht nahbare, hochaktuelle Themen an, wie auch die Wohnungsnot in den Städten der Region. Ein Knäuel von Menschen zeigt in „besser wohnen“ auf ironische Weise, was Wohnraum für viele, gerade junge Menschen in der Realität bedeutet. Sich auf engstem Raum verbiegen und verdrehen müssen, gleichzeitig verschiedensten Regeln und Normen gerecht werden, um in der heutigen Welt ein „besseres Leben“ zu führen.

Ausstellungsansicht „NEW&COMING“, Kunstverein Reutlingen, 2024. Foto: Frank Kleinbach.

Ihre Videoarbeit pastikē zeigt wiederum, inwiefern ein Körper mit seiner Umwelt verschmelzen kann – oder eben auch nicht – und das auf gleichzeitig zynische und beeindruckende Weise. Naomis eigener Körper wurde hier in verschiedenste Materialien gehüllt, mal in Plastikfolie, auf einer Mülldeponie stehend, mal von Blättern umhüllt oder völlig in Gips getaucht, wie eine reglose Statue. Das Verhältnis vom Menschen zu seiner Umwelt ist mittlerweile allgegenwärtig und selten ohne eine Bewertung. Bei Naomi Semma wird allerdings keine Wertung getroffen, vielmehr stellt sie sich als „Fremdkörper“ zur Schau und damit ihr Verhältnis zu den Umwelten auf ironische Weise zur Debatte.

Naomi Semma, plastikē, 2023, Video 16:9, 06:19 min, Mit Lea Champagne, Paul Cortot, Felicitas Jander, Laura Mendoza, Paolo Raeli und Uwe Wüst

Hannah J. Kohlers bizarre Fotocollagen

Wo sich die Menschen bei Naomi Semma gegeneinander, ineinander verbiegen, wird sich in den Arbeiten von Hannah J. Kohler auf ganz andere Weise „verbogen“. Sie nutzt ebenfalls Humor, um ernste Themen anzusprechen. In alle Richtungen gereckt, zeigt sich die Künstlerin in sportlich dynamischen Posen, die auch genauso anstrengend waren, wie sie aussehen. In die heute gesetzten Rahmen zu passen und sich, als am Beginn seiner Karriere stehender Mensch, zu bewähren ist ein Kraftakt, der hier seine bildliche Übersetzung findet.

Hannah J. Kohler, Hannah J. Kohler, Zweites Fenster, 2024, Inkjet-Print auf PVC-Plane, 130,4 x 200 cm. VG Bild Kunst, 2024.

Die Fotoarbeiten „Übergang“ und „Zweites Fenster“ sind tatsächlich ganz neu entstanden und zeigen Orte aus dem schönen Langenargen am Bodensee. Dort hatte Hannah im letzten Jahr das Kavalierhausstipendium, bei dem diese Fotos entstanden sind.

Ausstellungsansicht „NEW&COMING“, Kunstverein Reutlingen, 2024. Foto: Frank Kleinbach.

Einer besonderen Form von Humor begegnen wir auch in der Serie „Atlantikwall“. Dort treffen zwei badende Damen auf Überbleibsel des 2. Weltkriegs. Üblicherweise würde man seinen gemütlichen Schwimmausflug wohl nicht unbedingt vor einem Bunker durchführen, daher haftet der Szene etwas Bizarres an. Am Ende des Bunkers sehen wir einen hellen Lichtstreif, eine Art Tor, das die beiden Damen anzuziehen scheint. Vielleicht ist dies der Weg in eine glücklichere Welt? Türen, Fenster und Tore tauchen in den Fotografien immer wieder auf, sie fokussieren den Blick und leiten ihn durch das Bild hindurch.

Künstliche Intelligenz als künstlerisches Medium

Hannah J. Kohler nutzt für ihre Fotocollagen häufig künstliche Intelligenz, allerdings weiß man als Betrachter nicht unbedingt, an welchen Stellen. Genau dieser fließende Übergang zwischen künstlerischer und künstlicher Intelligenz ist es, der ihren Arbeiten eine besondere Spannung verleiht. Sie stellen neue Realitäten in Aussicht und tarnen sie dabei gleichzeitig als fotografische Dokumentationen. Die Fotografie war schließlich das Medium, das Fiktion von Realität trennen sollte.

Ausstellungsansicht „NEW&COMING“, Arbeiten von Levente Szücs, Kunstverein Reutlingen, 2024. Foto: Frank Kleinbach.

Eine andere Form der Spannung zweier Medien zeigt sich bei den farbenfrohen Malereien von Levente Szücs. Die Serie „Augmented Nature“ lässt an das Prinzip der „Augmented Reality“, einer „erweiterten Realität“, denken, wo ein Blick durchs Handy oder Tablet die reale Welt um digitale Inhalte erweitert.

Eine Symbiose zweier Gegensätze – „Augmented Nature“ von Levente Szücs

Bei Levente Szücs wird die reale Welt allerdings um künstlerische Inhalte erweitert, indem er abstrakte Farbschichten unter und über feine Fotodrucke von Naturansichten legt. Der Prozess des Verwebens von Farbe und Foto ist komplex, da für den Betrachter hinterher nicht mehr zu erkennen ist, welche Schichten in welcher Reihenfolge aufgetragen wurden. Die kleinteiligen Äste der Wälder stehen dabei in bewusstem Kontrast mit den dynamischen und undurchdringlichen Farbgewalten, die er uns vor die Augen legt. Dennoch entsteht eine bildliche Einheit, eine Symbiose zweier Gegensätze, die Spannung erzeugt.

Ausstellungsansicht „NEW&COMING“, Arbeiten von Levente Szücs, Kunstverein Reutlingen, 2024. Foto: Frank Kleinbach.

Das erstaunliche an diesen Bildern ist, dass sich beim Betrachten immer wieder neue Details bemerkbar machen. Wie bei einem Wimmelbild wandert der Blick zwischen den Schichten hin und her, sucht und findet, wird mal geblockt und wieder auf den nächsten Pfad geführt. Diese „Augmented Nature“ – also „erweitere Natur“ – versperrt uns in gewisser Weise den Ausblick auf bekannte Naturformen, fokussiert den Blick allerdings gleichzeitig auf das Eigenleben von Farbe.

Häuser ohne Fenster, Bäume als Gerippe

Die Reihe „Serene Memories“ von Levente Szücs nimmt ebenfalls Natur zur Grundlage und zeigt anhand von schroffen Gesteinsbrocken, wie monumentale Berge beschaffen sind. Als Betrachter:in fühlt man sich beinahe in eine ferne Gebirgslandschaft entführt. Häuser und Bäume säumen die Steine, mal entdeckt man eine Sitzbank, eine Schaukel oder einen Brunnen. Diese, auf den ersten Blick, fast schon verspielten Modell-Landschaften vermitteln im nächsten Moment etwas ebenso Surreales. Keine der Hütten hat ein Fenster, die Bäume sind lediglich Gerippe und manche der Sitzbänke könnte man ohne Kletterausrüstung oder Hubschrauber wohl kaum erreichen.

Es sind letztlich karge Orte, an denen eine Spannung zwischen Ruhe und Unruhe herrscht. Wie in den Malereien von Levente Szücs treffen auch hier Kontraste aufeinander: die abstrakten Gesteinsformen und die minuziös gearbeiteten Holz-Elemente, mal urban, mal natürlich. Jede der Hütten wurde speziell für ihren Standort angepasst und kann keinen Millimeter verschoben werden. Sie sind eins mit ihrem Untergrund, dadurch strahlen sie auch eine Beständigkeit und Sicherheit aus.

Innere Außenräume bei Leo Staigle

Mit dem natürlichen und urbanen Raum befasst sich ebenfalls Leo Staigle. Er kombiniert geometrische Klarheit mit bizarren organischen Elementen und erhält dabei wundersame Hybride zwischen Innen- und Außenraum, Fläche und Tiefenwirkung. Berge, Palmen, Seen und entfernte Horizonte bilden eine Art Kulisse, vor der sich eigenartige Kuben und mikrobenartige Gebilde formieren. Treppen führen ins Nirgendwo und die Schwerkraft scheint hier auch ihren ganz eigenen Gesetzen zu folgen.

Lange Schattenwürfe und schwebende Elemente betonen die Künstlichkeit dieser Szenen, was auch die harten Farbkontraste unterstützen. Farbe spielt hier eine besondere Rolle, denn jede Farbkombination ist fein aufeinander abgestimmt. Es sind sorgfältig komponierte Flächen, bei denen die zahlreichen Schichten schlussendlich gar nicht mehr sichtbar sind oder nur noch als zarte Linien hindurchscheinen. Es lohnt sich also nah an die Werke heranzugehen, dann wird auch der monumentale Effekt verstärkt.

Leo Staigle, Scheinland, 2024, Acryl auf Baumwolle, 220 x 150 cm

Leo Staigles Malerei ist keine Illusion des Realen, und doch entstehen hier Räume, die der Realität entlehnt sind. In der Arbeit „Scheinland“ wird uns der Blick sogar durch einen Vorhang freigegeben, wie bei einer Bühne. Es sind in gewisser Weise „innere Außenräume“. Bekannte Motive werden zu etwas Fremdem, zu einer experimentellen Neuinszenierung von Land und Stadt. Dabei ziehen sie einen gleichzeitig in den Bann und verwehren uns auch den Zugang.

Brezeln als Kapitän und angstgeplagte Sushihäppchen – Fortune Hunters belebte Alltagswelt

Joaquin LeMaitre alias Fortune Hunter nutzt das Element des Surrealen in Form von plakativen (Alltags-)Motiven, denen meist ein besonderer Humor anhaftet. Eine Brezel als Mannschafts-Kapitän – als eine Art Superheld – das ist „Captain Pretzel“. Von Kindern und Erwachsenen geliebt und begehrt, hat dieser Captain so manche heikle Situation entschärft. Wer kennt es nicht, die Pausen-Brezel hebt bei jedem die Stimmung, nicht nur in Süddeutschland! So hat er ganz klar seine Kapitäns-Scherpe am Brezel-Arm verdient.

Ausstellungsansicht „NEW&COMING“, Werke von Fortune Hunter, Kunstverein Reutlingen, 2024. Foto: Frank Kleinbach.

Wehrhaft scheinen auch die beiden boxhandschuh-ähnlichen Gebilde direkt daneben. „The paradox of innovation“ ist der Titel dieser Arbeit, der einen ersten Hinweis darauf gibt, was es mit diesen geschwülstartigen Elementen auf sich haben könnte. Schauen wir genau hin entdecken wir im Hintergrund die Tastatur eines PCs. Sind die Fäuste im Begriff darauf einzuprügeln oder sich davor zu verteidigen? Der Ursprung dieser paradoxen Szene bleibt bewusst offen. Trotzdem drängt sich einem der Gedanke auf, dass Innovation nun mal nicht immer harmonisch von statten geht, sondern auch seine Schattenseiten hat – und vor diesen kann man sich nicht einmal mit Boxhandschuhen schützen.

Ausstellungsansicht „NEW&COMING“, Kunstverein Reutlingen, 2024. Foto: Frank Kleinbach.

Schützen möchte sich auch das Stück Sushi, das Ihnen direkt am Eingang begegnet ist. Angstschweiß steht dem Lachs-Nigiri auf die Stirn geschrieben, das gerade mit zwei riesigen Stäbchen Richtung Soya-Soße steuert. Fortune Hunter gelingt es, Dingen einen Charakter und sogar eine Mimik zu verleihen.  

Beruhigungstabletten als Nachtlicht bei Vanessa Luschmann

Mit düsterem Humor und den Themen „Überforderung“ und „Angst“ arbeitet auch Vanessa Luschmann, wenn sie z. B. Beruhigungstabletten wie „Tavor“ als schimmerndes Nachtlicht umfunktioniert. Dieses wirksame, allerdings auch leicht abhängig machende Medikament wird unter anderem gerne bei Erwachsenen, die ihren Alltag anderweitig nicht bewältigen können, aber auch Kindern und Jugendlichen mit ADHS verordnet. Das fast schon giftig grüne Licht umhüllt die Murmelbahn und andere Spielzeuge, was eine beklemmende Stimmung fördert. Der Zynismus wird hier noch durch den Titel „Lullaby“, also Schlaflied, abgerundet.

Vanessa Luschmann, Lullaby, 2024, Öl auf Leinwand, 60 x 80 cm

In ihre Serie der „Ghost Stories“ vermittelt sie ebenso tiefgreifende Themen, die gleichzeitig zum Lachen und Innehalten animieren. Hier zeigt sie, in einer Comicästhetik verkleidet, verschiedenste Angst- und Erschöpfungszustände, bei denen der Protagonist an Munchs „Schrei“ oder auch die Maske aus dem Film „Scream“ erinnert.

Ob beim Baden in einem See aus Tränen, wo bereits die Kraft fehlt, den Hahn wieder zuzudrehen. Nur die Badeente scheint hier Freude an dem eigentlich entspannenden Ritual zu haben. Oder: beim Frühstück, wenn sich die Cornflakes in der Schüssel zu dem Satz „You’re a failure“ verbünden, neben der Zeitung mit der Headline „More Bad News“. Jede Szene der „Ghost Stories“ ist mit so vielen Details versehen, dass sie oftmals erst auf den zweiten Blick erfasst werden können.

Obwohl die Malereien und die Linolschnitte von Vanessa Luschmann ästhetisch völlig unterschiedlich sind, ziehen sich inhaltliche Verknüpfungen hindurch. Sie animieren dazu, über die Akzeptanz bzw. Inakzeptanz von Angst in unserer Gesellschaft nachzudenken, über den großen Leistungsdruck und wie man ihn – wenn alles andere scheitert – mit Tabletten am besten bedient.

Die Ausstellung läuft noch bis zum 26. Mai 2024. Ein Text von Julia Berghoff und Elisabeth Weiß.