Skulpturale Gedichte in der Produzentengalerie Pupille – Reinhard Köhlers „Entrückungsmaschinen“

Bis zum 18. Juni sind in der Produzentengalerie Pupille Reinhard Köhlers „Entrückungsmaschinen“ zu sehen. Die Objekte des Ulmer Künstlers wurden schon als „skulpturale Gedichte“ bezeichnet. Sie verbinden alltäglich Gegenstände und Fundstücke, sodass sie ein geradezu poetisches Potential entfalten.

Reinhard Köhlers Werke zu beschreiben ist eine so schöne wie ungewöhnliche Herausforderung. Denn unmittelbar erschließen sich die Arbeiten ganz und gar nicht. Und das ist auch gut so. Genau darin liegt ihr besonderer Reiz. 

Der Ulmer Künstler Reinhard Köhler ist an zahlreichen künstlerischen Fronten zu finden. Er hat Kunst und Literatur studiert, ist aber auch als Fotograf, Komponist, Musiker und Performancekünstler tätig, war Programmleiter eines Jazzkellers und Initiator eines Künstlerhauses, spielt Bass in einer Rockband, begleitet Lichtinstallationen musikalisch und beteiligt sich an Aufführungen, die Musik und Literatur vermischen – kurzum, Reinhard Köhler ist ein „Verknüpfer“ von künstlerischen Tätigkeiten, was man auch und ganz besonders in seinem bildnerischen Schaffen sehen kann. 

Reinhard Köhler als „Verknüpfer“

Er verknüpft, was unter „gewöhnlichen“ Umständen nicht zusammengehört. Mit „gewöhnlichen“ Gedankengängen also keinen Sinn ergibt. Nun könnte man beim Betrachten einer Walnuss über einem Tuffbrocken, verbunden mit einem feinen Draht entweder denken, „Was hat die Nuss mit einem Stück Stein zu tun und wieso das ganze mühsam mit einem Draht verbinden?“ Oder man könnte seine eigenen, gewöhnlichen Gedankengänge überdenken und neue Wege beschreiten.

Sinkt der Draht unter dem Gewicht der Nuss schon langsam in sich zusammen? Sie ist schließlich viel größer als der Tuffbrocken, gefüllt mit allen wertvollen Nährstoffen, die ein riesiger Walnussbaum zum Wachsen braucht. Ein Energiespeicher, der vielleicht sogar einen Tuffbrocken als Anker nutzt? Dieser ist wiederum auf einem Holzbrett verankert, womöglich Walnussholz? Zeigt sich hier der Lebenskreislauf der Walnussschale auf ironische Weise? 

  • Dunkel, geboren im Januar oder Februar, Nuss und Tuffbrocken auf Holzplatte, 11 x 12 x 12. Foto und ©: Reinhard Köhler.

Poetische Fähigkeiten alltäglicher Gegenstände 

Dunkel, geboren im Januar oder Februar lautet dann noch der Titel, um der eigenen Verwirrung vollends den Rest zu geben. Etwas wird geboren, aus dem Dunkel der Nuss. Dieser Gedanke hat etwas mystisches und rätselhaftes.

Sich Reinhard Köhlers Werken anzunähern, gleicht tatsächlich der Entschlüsselung eines Rätsels, für das es allerdings nicht die eine Lösung gibt. Kein Wunder, dass seine Werke schon als „skulpturale Gedichte“ bezeichnet wurden und das trifft es letztlich auf den Punkt. Sich als Betrachter den poetischen Fähigkeiten alltäglicher Gegenstände zu öffnen, zeichnet Köhlers Werke aus. 

Dabei kombiniert er unterschiedlichste Fundstücke, Zivilisationsmüll und organische Materialien, denen man ihre Geschichte zwar ansieht, sie aber nicht unbedingt enträtseln kann. Aus ihrem ursprünglich nützlichen Kontext wurden sie wohl schon vor langer Zeit herausgelöst und treten hier plötzlich in ganz neue Rollen. Gerade die Objektkästen muten tatsächlich wie kleine Bühnen an, auf denen sich zum Teil abenteuerliches abspielt. 

Gasse der Hoffnung, abgesperrt der Himmel

Drei Haltegriffe ausgemusterter Schulsportgeräte sind an sich schon gruselig genug, erhalten hier aber eine völlig bizarre Ausstrahlung. Eingepfercht in eine zu enge Holzkiste, könnten es auch zerlegte Werkzeuge sein. Für welche Profession bleibt allerdings ungewiss und vielleicht möchte man das auch gar nicht so ganz genau wissen. 

Der Titel klingt dabei so lyrisch wie aggressiv: Gasse der Hoffnung, abgesperrt der Himmel. Ästhetisch, aber auch phonetisch ist der Satz einfach grandios, mit seinen gedoppelten Buchstabend und der symmetrischen Anordnung. Auch hier scheint zudem Köhlers Technik der absurden Verknüpfungen Anwendung gefunden zu haben. Denn im klassischen Sinne ergibt dieser Halbsatz überhaupt keinen Sinn. Titel und Werk stehen sich also als ästhetische Konstrukte gegenüber, die man gerade in ihrer neckischen Wechselwirkung genießen sollte. An dieser Stelle ist Köhlers Affinität zur Sprachkunst deutlich zu sehen.

Köhlers arme Materialien mutieren zu neuen (Un)Sinnhaftigkeiten

Er stellt die vermeintliche Banalität der Gegenstände auf die Probe und damit auch die selbstverständlich in uns verankerten Bedeutungen der Objekte in Frage. Scheinbar „arme“ Materialien mutieren so nicht selten humorvoll zu neuen (Un)Sinnhaftigkeiten, ohne dabei aber ins Willkürliche oder Theatralische abzurutschen. Reinhard Köhlers Objekte überhöhen die Dinge nicht. Vielmehr zeigen sie ihn ihrer schlichten Ästhetik eine unwahrscheinlich eindringliche Präsenz. Man spürt bei jedem Werk, dass ihnen trotz aller Verspieltheit ein ernsthafter Kern zugrunde liegt. 

So ist es auch mit der Arbeit Ich fragte einmal einen Vogel. „Wie kannst du in dieser Schwere der Dunkelheit fliegen?“ Er antwortete: „Liebe trägt mich empor.“ Hier muss man aber erst einmal ganz nah herangehen, um überhaupt zu sehen, was passiert. Eine winzige Menschenfigur mit zwei echten Libellenflügeln bestückt posiert auf einem mit Vogelfedern gefüllten Plastikrohr, in dem sich wiederum eine tote Stubenfliege befindet.

Die Fliege als barockes Vergänglichkeitssymbol

Die blonde Männerfigur, oben ohne, athletisch und in Badehose, sitzt nun ziemlich selbstbewusst allerdings recht gefährlich nah an der Kante des Plastikrohrs, in dem passenderweise auch die verschiedene Fliege liegt. Weich gebettet auf Vogelfedern findet sie ihre letzte Ruhe – zum Glück muss man sagen – denn der direkte Größenvergleich lässt die Stubenfliege geradezu monumental wirken. In Köhlers Miniaturwelt besitzt sie nämlich Menschengröße.

Das Spiel mit Proportionen erzeugt hier komisch-absurde Züge, wobei er mit der Fliege gleichzeitig auch einen morbide-humorvollen Wink auf die barocke Vanitas-Symbolik einbaut. Vor allem in niederländischen Stillleben findet man ja gerne Fliegen auf faulendem Obst als Zeichen der Vergänglichkeit. 

Fundstücke literarischer und materieller Natur

Eine hoffnungsvolle Melancholie ist auch im Titel zu spüren, wenn der Vogel davon berichtet, dass ihn aus der Schwere der Dunkelheit gerade die Liebe empor trägt. Das Textfragment ist wiederum von einem persischen Lyriker des 14. Jahrhunderts geliehen. So gesehen kombiniert Köhler auch hier verschiedenste „Fundstücke“, literarischer als auch materieller Natur. 

Könnten wir mit Vögeln sprechen, würden wir sie sicherlich vieles fragen wollen. Unser winziger Badegast könnte diese Fragen ebenso beantworten und doch schaut er unbeteiligt zur Seite und scheint gar nicht zu bemerken, dass er sich unmittelbar auf einem Grab niedergelassen hat. Hochmut kommt vor dem Fall, auch wenn die imposanten Libellenflügel einem das Gefühl von Unsterblichkeit verleihen. Sie sind letztlich ebenfalls nur geborgt. 

Libellenfiguren als Vermittler einer parallelen Welt

Die Begeisterung fürs Fliegen finden wir auch in anderen Werken Köhlers, häufig in Form von Flügelpaaren, wie bei der Arbeit mit dem besonders verschmitzten Titel: Nur war es ihm manchmal unangenehm, dass er nicht auf dem Kopf gehn konnte. Wer auf dem Kopf geht, meine Damen und Herren, der hat den Himmel als Abgrund unter sich. Wie kleine Feen sitzen die Geflügelten auf Köhlers Objekten, als Vermittler einer anderen, parallelen Welt, deren Gesetze wir nur erahnen können. 

Gerade die Werktitel richten sich scheinbar gezielt gegen die immer öfter praktizierten, plumpen Interpretationsversuche u. a. von Kunsthistorikern. Dass sie den Betrachter mit einem zynischen Augenzwinkern begrüßen und man sich schon fast bildlich vorstellen kann, wie sich die kleinen Libellenfiguren ins Fäustchen lachen, über die Hilflosigkeit der verbissen interpretierenden Betrachter. 

Nur war es ihm manchmal unangenehm, dass er nicht auf dem Kopf gehn konnte. Wer auf dem Kopf geht, meine Damen und Herren, der hat den Himmel als Abgrund unter sich, HO-Figur sitzendes Mädchen, Insektenflügel, Vogelfedern, Eisenteil, Sockel mit Metallrohr, Flies, 140 x 21 x 21 cm. Foto und ©: Reinhard Köhler.

Köhlers Titel erzählen keine konventionellen Geschichten

Die häufig recht langen Titel sind dementsprechend eben nicht als Unterschriften oder Anleitungen zum besseren Verständnis zu sehen, sondern als Zugang zu einer weiteren Dimension. Widersprüche werden hier weder erläutert noch aufgelöst. Köhlers Titel erzählen keine konventionellen Geschichten, sondern beziehen sich oftmals auf Literarisches und poetische Texte. Die bewusste Mehrdeutigkeit spiegelt dabei auch das Konzept der Werke selbst, da ihre Einzelteile nun ebenfalls mehrere Bedeutungen – neben ihrer ursprünglichen – bekommen haben. 

Als Betrachter können wir an Reinhard Köhlers Werken also unsere eigene Reflektionsfähigkeit schärfen und der Sinnhaftigkeit von Kunst einen neuen Maßstab geben – wenn wir es zulassen. Denn ein weiterer Aspekt, der Köhlers Werke auszeichnet, ist nämlich die unaufdringliche, unbelehrende Art, mit der sie sich mitteilen. Sie heben eben keinen Zeigefinger, sondern lenken vielmehr unsere Wahrnehmung, auf das, was man vor lauter Wirtschaftlichkeit und Pragmatik schnell anfängt zu übersehen.

Eine Hommage an Joseph Beuys‘ Materialsymbolik

Ein Künstler, an dessen Werk man bei der Beschäftigung mit solchen Fragen unweigerlich denken muss ist natürlich Joseph Beuys. Seine Werke schätzt Köhler sehr, was in manchen Werken sogar explizit durchscheint. Eine direkte Hommage mit dem Titel Josephs Rettungsmaschine wurde auch das Titelbild dieser Ausstellung. 

Die Themen Tod und Vergänglichkeit sind stetige Begleiter im Schaffen beider Künstler, was sich in dieser Arbeit sogar verbindet. Ein schon leicht abblätterndes, metallenes Rotkreuzschild erhebt sich hier über einem Stück Treibholz. Das Kreuzsymbol löst seine Bedeutung als Hoffnungsträger aber kaum ein, vielmehr wirkt es längst aufgegeben. 

Scheinbar provisorisch an einem morschen Stück Holz befestigt gleicht es eher einem Grabkreuz als einer Rettungsstation. Diese morbide Zweideutigkeit ist auch im Titel Josephs Rettungsmaschine zu finden. 

Dass das ganze zudem noch auf einer Kupferplatte fixiert wurde, vervollständigt einerseits die Hommage an Beuys, andererseits nimmt es seinen Ansatz auf, Materialien mit Energien zu verbinden. Kupfer als energetischer Leiter kann an dieser Stelle auch eine wärmende, lebendige und schützende, Funktion einnehmen. Sozusagen als Basis der hoffnungslosen Rettungsmaschine. 

Alle Werke Reinhard Köhlers sind „Entrückungsmaschinen“

Dasselbe haben eben auch Reinhard Köhlers Werke an sich. Sie „entrücken“ unser Verständnis und rütteln es gewissermaßen wach, entführen es vielleicht sogar in eine andere Welt. So gesehen sind alle Werke Köhlers„Entrückungsmaschinen“, auch wenn nur ein Werk diesen Titel tatsächlich trägt. Aber das Werk trägt es vielleicht am gerechtfertigsten. 

Aus was die „Entrückungsmaschine“ zusammengebaut wurde, ist auf den ersten Blick kaum auszumachen. Selbst nach einer detaillierten Beschreibung der einzelnen Bestandteile und ihrer ursprünglichen Funktion des Künstlers selbst, erschließt sich die Arbeit nicht wesentlich mehr. Und das ist völlig in Ordnung. 

Dieses Werk zeigt schließlich, worum es in Reinhard Köhlers Werken eigentlich geht. Sie sind eben nicht darstellend oder werden zwingend verständlicher, wenn ihre Einzelteile bekannt sind. Im Gegenteil, gerade die ursprüngliche Funktion gar nicht erst zu erkennen, erleichtert es sogar, sich von den erlernten Bedeutungen freizumachen. Nicht das Bewusstsein muss (oder sollte) hier arbeiten, sondern das Unterbewusstsein darf sich ausleben – und entrücken, also entzücken lassen. 

Die Ausstellung ist bis zum 18. Juni jeweils freitags und sonntags von 14–17 Uhr geöffnet.

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