Schon der Ausstellungstitel „Ton in Ton“ bringt eine besondere Doppeldeutigkeit mit sich. Das Material Ton bzw. das Feld der Keramik ist zwar das verbindende Element, „eintönig“ ist die Zusammenstellung der Werke des Forum Türk in der Nürtinger Villa Melchior aber ganz und gar nicht. Denn das Werk der drei Künstler:innen zeigt genauso viele Verbindungen wie Gegensätze – was die Ausstellung so spannend und vielseitig macht.
Heidi Degenhardt und Elke Mauz arbeiten mit Porzellan bzw. Ton und schaffen Skulpturen, die häufig von verschiedensten Naturformen inspiriert wurden. Samenkapseln, Kapselfrüchte, Knollen, Schwämme, Zapfen und Blätter dienten als Vorbilder. Gleichzeitig ist aber sofort zu sehen, dass es keine bloßen Nachbildungen von Natur sind. Beide Künstlerinnen erzeugen völlig eigenständige Gebilde, die sich als Mischwesen zwischen Naturform und Abstraktion bewegen.
Die Grenze zischen Erkennbarem und Abstraktion – Heidi Degenhardts Porzellanskulpturen
Der haptischen Anziehungskraft von Heidi Degenhardts feingliedrigen Porzellanskulpturen ist dabei kaum zu entgehen. Zart und zerbrechlich, aber auch selbstbewusst, stark und stabil, strahlen sie eine subtile Spannung aus. Ihre Oberflächen machen neugierig, man möchte sie anfassen und gleichzeitig beschützen, so fragil scheinen die hauchdünnen weißen Objekte mit ihren unzähligen Porungen, spitzen Zapfen und schmalen Graten. Sind es versteinerte Korallen oder noch ganz unbekannte Lebewesen? Sie bewegen sie sich an der Grenze zwischen Erkennbarem und Abstraktion, wie Metamorphosen einer unerforschten Umwelt.
Dabei sind sie statisch und organisch zugleich. Sie nehmen Dynamiken von Natur auf und überführen sie in das Material Porzellan, mit dem Heidi Degenhardt nun schon jahrzehntelang auf unterschiedlichste Weise experimentiert. Man könnte sagen, es gibt kaum eine Form, die vor Heidi sicher ist. Beim letzten Interview im Winter 2022 war die Antwort darauf, was ihr denn am meisten Spaß an ihrer künstlerischen Arbeit macht: „Experimentelle Dinge ausprobieren und auf das Ergebnis gespannt sein, wenn dann der Brennofen aufgeht.“
Experimentelles wird auf 1300° C erhitzt
Und wenn Heidi „experimentelle Dinge“ sagt, meint sie das auch so: Moos, der Inhalt ihres Staubsaugers, Cornflakes und eines der Highlights vom letzten Atelierbesuch: auch Käsebällchen kommen zum Einsatz. Sie werden in Porzellan getaucht und dienen dann als Formgeber für die sahneartige Masse. Formgeber deshalb, weil nach den bis zu 1300° von den ursprünglichen Käsebällchen natürlich nicht mehr viel übrig ist – bis auf die hauchdünne, fast schon transparente Porzellanhaut.
Bei einem Workshop mit Heidi Degenhardt kann man selbst erleben, was Porzellan für ein besonderes Material ist. Wie geschmeidig es sich in der Hand formen lässt, man sich aber nicht zu lange davon in Trance versetzen lassen darf. Denn wenn das Material trocknet, ist es vorbei. Was allerdings am meisten überrascht, ist der riesige Unterschied von frischem Porzellan und dem gebrannten Ergebnis zum Schluss. Aus einem Grau-Beige wird plötzlich ein strahlendes, reines Weiß. Allzu verständlich, dass es auch das „weiße Gold“ heißt. Die Eleganz von Porzellanweiß ist kaum zu übertreffen, was Heidi Degenhardt durch gezielte goldene Akzente sogar noch hervorhebt und verstärkt.
Deformieren, zerhauen, raspeln, schmirgeln: Heidi Degenhardts Porzellanvasen
Diese Akzente sind auch in ihrer Serie aus Vasen oder Gefäßen zu finden, die letztlich doch keine funktionalen Objekte sind oder sein sollen. Vielmehr dient die Grundform der Vase als Ausgangspunkt, um sie Schritt für Schritt zu deformieren – sie fallen zu lassen, mit Zapfen und Dornen zu übersäen oder mit dem Daumen gezielt Löcher einzudrücken.
Speziell für die Serie an zylindrischen Skulpturen werden dabei erst dementsprechende Gipsformen angefertigt, die dann zerhauen, geraspelt, geschmirgelt und wieder zusammengebaut werden. Flüssiges Porzellan als Gießporzellan kommt in die Form und nach einigen Stunden werden die Gipsteile vorsichtig entfernt. Was herauskommt ist auch für Heidi jedes Mal eine Überraschung.
Es erfordert Mut, etwas so zartes zu zerstören und sie, zumindest teilweise, in die Hand des Zufalls zu geben. Aber gerade aus der Gebrochenheit und der Asymmetrie entsteht eine bezwingende Schönheit. Mit jedem Arbeitsschritt werden die Gefäße deformierter und skurriler, bis von der ursprünglich glatten Oberfläche nichts mehr übrig bleibt. Der Prozess dahin bleibt mit jeder Vase allerdings sichtbar und erhalten. Die Betrachter:innen werden quasi in den Arbeitsprozess mitgenommen, ganz ohne Erklärung durch Worte.
Archaisches und Modellhaftes bei Elke Mauz
Wo Heidi Degenhardt vor allem den organischen Charakter des starren Materials betont, sind die Ton- und Porzellanarbeiten von Elke Mauz wiederum häufig bewusst von Geometrie durchzogen. Oftmals aus Tonsträngen oder Bändern geformt, haftet ihnen etwas Archaisches und Modellhaftes an. Meist sind die Formen auch überlebensgroß, was den Eindruck noch verstärkt. So werden z. B. aus Ginko- oder Eichenblättern monumentale, kantige Stelen.
Mit einer überzeugenden Klarheit und einem gezielten Minimalismus schafft Elke Mauz so etwas wie Architekturen von Natur, die das Wesentliche bzw. das Gerüst der Pflanzenformen betonen – und ein Gerüst muss akribisch geplant werden, um nicht einzustürzen. Jede Arbeit aus Tonbändern erfordert demnach eine entsprechende Vorarbeit, durch Zeichnungen und Konstruktionen, die vor allem statische Fragen miteinbeziehen.
Fruchtbarkeit und Vitalität in Elke Mauz Mohn- und Samenkapseln
Es sind eben keine Kopien, sondern vielmehr „übersetzte“ Natur. Gleichzeitig bestehen sie teilweise aus echten Samenkapseln oder Physalis-Früchten, was zum einen die enge Verbundenheit mit der Natur bestärkt, aber zum anderen auch die abstrakten Qualitäten der originalen Naturelemente zeigt. Für die Arbeit „Safe“ vergoldete Elke Mauz z. B. echte Samenkapseln, die sie in einem Turm aus Tonbändern verteilte. Natürlich und artifiziell in einem. Dass sie gerade die Kapseln in Gold hüllte, damit also nochmals verschloss und symbolisch aufwertete passt wiederum zum Titel „Safe“: Es ist ein Aufbewahrungsort für Wertvolles, sozusagen ein Turm der Vitalität.
Das Thema der Fruchtbarkeit taucht auch bei anderen Naturformen auf, wie der Mohnkapsel, die hier monumental in dreifacher Ausführung auftaucht. Kaum zu glauben, aber so eine Mohnkapsel enthält tatsächlich bis zu 2.000 Samen, die 100 Jahre keimfähig bleiben können. Kein Wunder also, dass sie schon in der Antike als Attribut der griechischen Göttin Demeter zugeordnet wurde, die für Fruchtbarkeit und den Ackerbau stand.
Der formalen Klarheit von Elke Mauz Keramiken kommt auch die Beschaffenheit der Oberflächen entgegen. Wie bei Heidi Degenhardt sind sie edel und glänzend, was durch eine zarte Porzellanschicht beim 2. Brand entsteht. Für die weitere Farbgebung „übergibt“ Elke Mauz ihre Werke allerdings dem Feuer, wobei Rauch und Flammen ihren Teil beitragen. Der Naturverbundenheit entsprechend, walten hier also auch rohe Naturkräfte.
Sichtbarkeit und Gleichberechtigung: Der lange Weg der Frauen
Neben der Natur als Formenrepertoire und Inspirationsgeber spielt bei Elke Mauz noch ein zweites Thema eine zentrale Rolle – der Mensch, genauer gesagt, der weibliche Mensch. Der lange Weg von Frauen in die politische Öffentlichkeit beginnt tatsächlich erst in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts, im Zuge von Bürgerrechtsbewegungen, die auch die Rechte der Frauen stärker in den Fokus rückten. Daraufhin dauerte es allerdings nochmals fast ein Jahrhundert, bis 1949 der Frauenrat gegründet und im gleichen Jahr auch das Wahlrecht für Frauen errungen wurde.
Ihre Menschengruppen aus Tonbändern sind dabei so bewegt wie statisch. Ihre Körper bestehen zwar aus fließenden, organischen Strängen, sind aber doch mit beiden Beinen fest an einer Bodenplatte fixiert. „Wir sind viele und wir kämpfen“ scheinen sie als Gruppe leise zu sagen. Kämpfen noch immer für Sichtbarkeit und Gleichberechtigung, was bei einer Weltbevölkerung von Stand Februar 2023 mit ca. 4 Milliarden Frauen geradezu bizarr ist. Dabei bestehen die meisten von den Figuren lediglich aus Umrissen, was die gesichtslosen Gerüste sogar noch anonymer wirken lässt.
Elke Mauz‘ Göttinnen
Im Kontrast dazu stehen Elke Mauz‘ „Göttinnen“ mit ihren alles umspannenden, vollen und runden Leiben. Sie verkörpern eine uralte Kraft, die den Frauen schon seit Jahrhunderten innewohnte, wenn auch nicht immer zu Tage treten konnte. Diese Göttinnen sind eng verbunden mit den Kräften der Natur als Symbol für Fruchtbarkeit und Leben. So gesehen verbinden sich die beiden Themenfelder von Elke Mauz gerade in den regenerativen Kräften von Mensch und Natur.
Eigentümliche Eleganz in Manfred Degenhardts Drahtfiguren
Frauenfiguren und menschliche Körper bilden wiederum auch ein wesentliches Element in Manfred Degenhardts Werken. So wenig wie bei Elke Mauz betonen die Körper hier aber erotische Züge, sondern haben vielmehr surreale Qualitäten. Dürre Gliedmaßen, freiliegende Draht-Wirbelsäulen und ornamentale Brustgebilde durchziehen seine Skulpturen. Dennoch oder gerade deshalb strahlen sie eine ganz eigentümliche und eigensinnige Eleganz aus.
So zerbrechlich sie aussehen, so stabil sind sie allerdings. Denn das weiße Gemisch ist hier ausnahmsweise kein Porzellan, sondern eine Art Papiermasse, die das innenliegende Drahtgestell ummantelt. Als Manfred beim letzten Atelierbesuch eine der Figurenskulpturen mit Boot einfach hochnahm und in alle Richtungen wendete, war der Kommentar nur: „Was ich zusammenbaue muss auch halten“.
Satirische Zeitgeistkritik und eine nahendes Weltende: Sebastian Brants „Das Narrenschiff“
Gerade die Figurenreihe in Booten taucht in den Werken von Manfred Degenhardt vielfach auf: als Skulptur und auch in seinen Holzschnitten. Hier hat er Sebastian Brants europäischen Bestseller von 1494 „das Narrenschiff“ gleich in unterschiedlichen Medien verarbeitet. Als satirische Zeitgeistkritik machte der Basler Jurist und Humanist in seinem Werk die Lasterhaftigkeit der Menschen verantwortlich für wiederkehrende Kriege, Hungersnöte und Seuchen.
Er ging dabei so weit, ein nahendes Weltende zu prophezeien. Damit traf er den Nerv seiner Zeit. Und in gewisser Weise lässt sich das Narrenschiff auch über 500 Jahre nach seiner Entstehung auch heute noch anwenden – was die wirklichen Bestseller ja in der Regel gemeinsam haben.
Brachiales trifft auf Filigranes in den Narrenschiff-Skulpturen, wo feine Drahtgeflechte die schweren Steinbrocken der Schiffteile zusammenhalten. Ganz unabhängig von einer bevorstehenden Apokalypse muss man allein physikalisch gesehen in diesen Booten schon untergehen. Manfred Degenhardt verbindet also gekonnt Gegensätze, die Spannung erzeugen und auch einen gewissen Humor anklingen lassen.
Der Charme einer längst vergangenen Zeit in Manfred Degenhardts Holzschnitten
Und das sieht man auch in seinen Holzschnitten zum Thema. Es sind streng konstruierte Kompositionen mit hart abgegrenzten, monochromen Flächen, die gleichzeitig voller Bewegung sind. Geometrische Grundformen treffen auf archaische Symbole und keltische bzw. mythologische Motive. Kreise, Wellen, Spiralen, Augen und Pfeile tauchen auf, die sich in einer Art Metamorphose zu gleichzeitig figürlich und abstrakten Formen verknüpfen. Räumlichkeit als konstruierte Perspektive wird dennoch bewusst vermieden, was gerade die ornamentalen und flächigen Strukturen betont.
Manfred Degenhardts Holzschnitte tragen den Charme einer längst vergangenen Zeit und sind gleichzeitig höchst ästhetische, zeitlose Gebilde, für die man sich Zeit nehmen sollte. Denn ihre zahlreichen Schichten und Formverdichtungen sind auf den ersten Blick kaum zu erfassen und man entdeckt immer wieder etwas neues.
Das haben die Arbeiten tatsächlich auch alle gemeinsam – trotz ihrer unterschiedlichen Ausführungen und Techniken. Sie alle wurden mit einem sicheren Gespür für Ästhetik geschaffen und machen in dieser Ausstellungen deshalb zusammen auch eine so gute Figur.
Wer die Werke vor Ort sehen möchte, hat noch bis zum 14. Mai 2023, Sa und So von 14–17 Uhr die Möglichkeit.
Forum Ilse und K.H. Türk e.V. in der Villa Melchior
Neckarstraße 13, 72622 Nürtingen