Zufall oder nicht – Die Galerie Peripherie im Sudhaus liegt am Stadtrand Tübingens. Der Off Space, den Künstler:innen der Region seit 1989 auf verschiedene Arten nutzen, wirkt wie gemacht für die Ausstellung mit dem Titel „sitting in a tin can“.
Kurz vor Ausstellungseröffnung trafen wir Kristof Georgen, Initiator des Ausstellungsprojekts, zu einem Gespräch über die Hintergründe, das Konzept und die Umsetzung.
Ausgangspunkt: Rand und Zentrum
„Das Thema Rand und Zentrum ist etwas, was ich eigentlich immer wieder seit vielen Jahren für einen Überbegriff und ein interessantes Setting halte, was überhaupt die künstlerische Tätigkeit angeht“, so der Bildhauer Kristof Georgen.
Rand und Zentrum – Georgen erklärt, dass die Thematik nicht nur in der klassischen Bildkomposition eines jeden Werkes zu finden ist. Auch die allgemeine künstlerische Produktion sei davon betroffen. „Wo will ich arbeiten? MUSS ich nach Berlin? Kann ich auch auf dem Dorf arbeiten?“, sind nur einige Fragen, die dem Künstler einfallen. Die Öffentlichkeit für eine:n jede:n Künstler:in sei unabdingbar. Künstler:innen wollen und müssen gesehen werden und sich somit in den Mittelpunkt rücken, dort einen Platz finden.
Dahingegen könne der Standort der künstlerischen Tätigkeit nach Belieben variieren und sich problemlos am Rand abspielen. Eng daran verknüpft sei schließlich auch die Thematik von Kooperation und Vernetzung. Wie finde ich Anschluss? Wie kann ich ein Zusammenarbeiten oder Zusammenkommen an verschiedenen Orten strukturieren?
Der Titel der Ausstellung: „sitting in a tin can“
Dass „Rand und Zentrum“ ein sperriger Ausstellungstitel ist, sei Kristof Georgen sofort bewusst gewesen. So erinnert er sich an das Musikvideo zu „Space Oddity“ von David Bowie, das Ende 1969 erschienen ist. Einem Jahr, das durch die erste Mondlandung geprägt war. Das erste Mal konnte die Menschheit auf ihren eigenen Planeten schauen und ihn aus der Distanz reflektieren.
„Das Zentrum bin Ich“
In dem Musikvideo sitzt Bowie zunächst in einer Blechbüchse und fliegt schließlich im All umher.
For here
Am I sitting in a tin can
Far above the world
Planet Earth is blue
And there’s nothing I can do
– Ausschnitt aus dem Songtext „Space Oddity“ von David Bowie
Für Kristof Georgen steht die Blechbüchse als Sinnbild für das eigentliche Zentrum. Ausgehend von einer individualistischen Kunst lebe jede:r Künstler:in als Autor:in in seiner:ihrer eigenen Blechbüchse, frei nach dem Motto: Das Zentrum bin ich.
Georgen zählt auf: „Egal ob Künstler:in oder nicht, beschäftigen wir uns mit den Fragen: Wie gesellschaftlich aktiv bin ich? Bin ich gefangen in meiner „tin can“? Welche Handlungsmöglichkeiten habe ich?“
Galerie Peripherie als dreidimensionaler Ausstellungsraum
Die Ausstellung „sitting in a tin can“ in Tübingen entstand in Kooperation mit dem künstlerischen Leiter der Galerie Peripherie Reinhard Brunner. Architektonisch bildet der Kubus der Galerie eine Art Raum ohne Richtung. Umso intensiver bilden die ausgewählten Kunstwerke der Ausstellung kleine Zentren.
Trüffelsuche vom Künstlerbund Baden-Württemberg
Insgesamt sind zehn zeitgenössische Positionen in der Ausstellung zu finden. Alle Künstler:innen sind Mitglieder des Künstlerbundes Baden-Württemberg. Seit Juli 2022 realisiert der Verein das Projekt „Trüffelsuche“. Dabei liegt der Fokus in erster Linie auf Vernetzung bestehender, von Künstler:innen betriebener Ausstellung- und Projekträume, kleinerer Kunstvereine, privater Initiativen, Off Spaces und temporären Kunstorten mit Mitgliedern des Künstlerbundes Baden-Württemberg. Im Vordergrund steht die Sichtbarmachung der Kunstlandschaft, der Netzwerke und lokaler Produktionsräume.
Wirklich vernetzen – „sitting in a tin can“ in Tübingen & Stuttgart
Die Besonderheit von „sitting in a tin can“ ist die parallele Laufzeit der Ausstellung in zwei Städten. Neben der Ausstellung in der Galerie Peripherie in Tübingen, beginnt um einen Tag versetzt die Schau unter dem gleichen Namen im Kunstverein Wagenhalle in Stuttgart. Gemeinsam mit der Stuttgarter Künstlerin Florina Leinß wurde die Idee Georgens weitergesponnen. Man wollte den Netzwerkcharakter in die Tat umsetzen und sich „wirklich vernetzen“, so der Bildhauer.
Obwohl die Vernetzung der beiden Ausstellungsmöglichkeiten in den jeweiligen sozio-kulturellen Räumen im Vordergrund stand, wurde klar aufgeteilt. Florina Leinß und Bildhauer Daniel Mijic waren verantwortlich für die Künstler:innenliste und das Projektmanagement in Stuttgart, während Kristof Georgen mit Reinhard Brunner in Tübingen zuständig war. Kurz vor der Vernissage wussten die jeweiligen Duos nicht, wie das Ausstellungspendant schlussendlich aussehen würde.
Klammern der Ausstellung
In der Gruppenausstellung „sitting in a tin can“ sind in Tübingen und Stuttgart insgesamt 25 Künstler:innen vertreten. Ulla Rauter, Jochen Damian Fischer, Jordan Madlon, Reinhard Brunner und Barbara Hindahl sind an beiden Orten vertreten und bilden mit ihren Werken Klammern um die beiden Ausstellungen.
Ganz direkt reagieren die zwei Arbeiten „TACET“ von Ulla Rauter auf den jeweils anderen Ausstellungsort. Der Begriff TACET (lat. er/sie/es schweigt) ist eine Pausenbezeichnung in der Musik. Zwei Stille-Detektoren sind miteinander über die Distanz hinweg verbunden und messen die Lautstärke im Raum. Ist es still in der Pendantausstellung, leuchtet der Schriftzug TACET auf.
Objekte aus der Werkserie „in situ“ von Jordan Madlon sind ebenfalls in Stuttgart und Tübingen zu entdecken. Die zwei roten Pfeilobjekte aus Stahl „(in situ) Yahayā Rouge“ von 2014 sind in der Galerie Peripherie an einer Wand nach oben gerichtet angebracht. Der Blick der Betrachter:innen wird sofort auf die rechteckige Nische in der Wand gelenkt. Es scheint, als ob etwas darin fehlen würde: Ein Bild? Ein Fenster? Man fragt sich, worauf der Künstler aufmerksam machen möchte. Mit dem minimalistischen Charakter dieser Werkserie verweist Madlon auf die architektonischen Besonderheiten des Raumes hin und gleichzeitig weg vom Kunstwerk.
Die Durchschlagzeichnungen von Reinhard Brunner aus der Serie „dots and lines“ bilden eine weitere Klammer in den beiden Ausstellungen. In der Galerie Peripherie sind 12 dieser Papierarbeiten auf einem Tisch unter Glas in den Raum hinein angeordnet. Von oben herabblickend kann man die genauen Studien des Künstlers betrachten.
lla Rauter, Jochen Damian Fischer, Jordan Madlon, Reinhard Brunner und Barbara Hindahl
Bei diesen thematisiert er die Vorder- und Rückseite eines Skizzenpapiers: Die Vorderseite wird mit Filzstift oder Marker bemalt, doch ist es schließlich die Rückseite, die zum Kunstwerk wird. Studiert hat Brunner unter anderem die Faktoren Materialien, Stifthaltung, Druck und Führungsgeschwindigkeit, die Einfluss auf die Komposition eines Blattes haben.
Barbara Hindahls großformatige Zeichnung „Dirt Fiction 3“ von 2013 verwendet vorgefundenen Staub und Schmutz vom Boden. Aus den damit dokumentierten Überresten von Leben entsteht eine Komposition, die sich für die Betrachter:innen in Landschaften oder Galaxien wandeln. Jochen Damian Fischer beschäftigt sich in seinen Bronze-Arbeiten mit dem Raum. Sein Modell „Abstieg“, das in der Galerie Peripherie zu sehen ist, erinnert an einen Einstiegsschacht zur Kanalisation oder zu einem Keller, der jedoch völlig aus seinem Kontext herausgelöst ist. Die Assoziationen ermöglichen die Reflexion der Realität.
Werke in Tübingen
Mit „Be a PART“ hat der Tübinger Performance-Künstler Andreas Hoffmann mit Paul Siemt, Padungsak Kochsomrong aus Thailand und Frauke Huhn aus Australien, bei der Vernissage eine Performance mit Live-Simultanschaltung realisiert. Die Dokumentation ist beim Eingang der Ausstellung zu sehen.
Simone Demandt widmet sich in ihren zwei Fotoarbeiten „Shaken 7“ und „Shaken 8“ den Bewegungen von Materialien per Direktbeleuchtung. Christoph Poetsch erstellt in „13.09.2017 (Küche)“ mit dem Kaffeetassenabdruck auf dem Bilduntergrund ein minimalistisches Zentrum. Die Arbeit „Cybersyn Chile“ von Andreas Mayer-Brennenstuhl greift thematisch das sozialistische Chile in den frühen 1970er Jahren auf. Er baute die die Steuerzentrale des Projekts „CYBERSYN“ nach – Unter der Regierung von Salvador Allende wurde versucht, die Wirtschaft in Echtzeit rechnergestützt zu steuern. Am 11. September 1973 verschwand die visionäre Idee durch den Militärputsch in Chile.
Eine Ikone in der Galerie Peripherie
Ein absolutes Highlight der Ausstellung in der Galerie Peripherie ist Sophie Innmanns „The Shrine (Icon)“, das mit seinen 3 x 2,2 x 1 m von der Decke des Raumes herunterhängt. Die Werkbeschreibung im Handout fasst es perfekt zusammen: „Wie eine Ikonenmalerei schwebt die Installation aus den sonst so bodenständigen Biertischen unter der Decke im Eck des Ausstellungsraums, einem ehemaligen Sudhaus. Die Ecke wird zum Herrgottswinkel erhoben, aus dem die strahlende orangene Oberfläche der Tische ihre Erlebnisse zahlreicher Festivitäten in das Herzstück der ehemaligen Brauerei, nun den Ausstellungsraum, reflektiert.“
Die Ausstellung „sitting in a tin can“ in der Galerie Peripherie zeigt wie „Rand und Zentrum“ nicht nur in den ausgewählten Kunstwerken, sondern auch zwischen den Künstler:innen, den ausgewählten Off Spaces, den Städten und im nächsten Schritt auch bei den Ausstellungsbesucher:innen auf vielfältigen Ebenen thematisiert werden kann, ohne plakativ zu sein.
Die Ausstellung „sitting in a tin can“ ist in der Galerie Peripherie noch bis zum 14. Mai 2023 zu sehen. Im Kunstverein Wagenhalle ist die Ausstellung nur noch bis zum 16. April 2023 zu sehen.