Brüderstreit als Archetypus
Die Ausstellung beginnt mit einer Art Prolog: Ein Kupferstich von Jan Harmensz. Muller nach Cornelis van Haarlem von 1589 ist das erste Bildwerk, das den Besucher:innen präsentiert wird. Er zeigt die Totschlagszene von Kain und Abel, wobei sich der Künstler ganz auf das Brüderpaar konzentriert und wenig erzählerischen Kontext einfügt. Die Geschichte von Kain und Abel wird hier als Beispiel für mythologische Geschwisterpaare angeführt.
Die Erfindung der geschwisterlichen Beziehung
Der eigentliche Erzählstrang der Ausstellung beginnt mit Werken der Romantik. Im Kontext des Freundschaftskultes des 18. Jahrhunderts wird erstmals die Seelenverwandtschaft, das Freundschaftsgefühl über die familiären Beziehungen gestellt – mit Auswirkungen auf das Geschwisterbild. Schwestern und Brüder wurden zu Freund:innen stilisiert, die mehr als Blutsverwandtschaft verbindet. Diese neue Interpretation der geschwisterlichen Beziehung ist eine zutiefst bürgerliche Interpretation, die zunächst dem fürstlichen Dynastiegedanken gegenübersteht. Doch mit der „Verbürgerlichung“ der Kunst im 18. Jahrhundert werden die bürgerlichen Ideale auch auf fürstliche Familien übertragen. Die Gegenüberstellung dieser beiden Vorstellungen von der geschwisterlichen Beziehung werden im Ausstellungsraum bildgewaltig durch raumhohe Fotoinstallationen verdeutlicht.
Brüder und Schwestern im bürgerlichen Umfeld
Dem 19. Jahrhundert ist der erste große Ausstellungsraum gewidmet. Hier werden die verschiedenen Facetten von Kindheit und Geschwistern im bürgerlichen Milieu vorgestellt: Die Überhöhung der Kindheit in der Kunst, die Unschuld des Kindes in der Welt, die Vermittlung bürgerlicher Werte durch neue Erziehungsideale und nicht zuletzt das Einüben der Mutterrolle älterer Schwestern gegenüber ihren jüngeren Geschwistern.
Brüderchen und Schwesterchen im Märchen
Eine wichtige Rolle bei der Vermittlung von gesellschaftlichen Werten übernehmen in der bürgerlichen Gesellschaft Märchen, in denen zunehmend Geschwisterpaare eine zentrale Rolle einnehmen. Eine Skulpturengruppe der japanischen Künstlerin Asana Fujikawa widmet sich der Verbindung von japanischen und europäischen Märchentraditionen und bricht die streng chronologische Erzählstrategie der Ausstellungsmacherinnen Nicole Fritz, Lisa Maier und Zita Hartel auf.
Geschwister als Schicksalsgemeinschaften
Beeinflusst von der Leidenserfahrung des Ersten Weltkriegs, wandelt sich das Bild des lieblichen Geschwisterpaares hin zu einer Schicksalsgemeinschaft: Die Darstellungen zeigen wilde Kinder, mit schmerzverzerrten Gesichtern. Die Bilder von Otto Dix und Max Beckmann paart die Ausstellung mit einer Filmsequenz eines unbekannten Filmemachers und schlägt so gekonnt den Bogen in die Moderne.
Radikal individuell nach 1945
Selten habe sie so einen Bruch in der Kunst erlebt, wie im Geschwisterbild nach 1945, sagte die Direktorin der Kunsthalle Nicole Fritz im Pressegespräch. In der Kunst nach 1945 arbeiten die Künstler:innen immer analytischer, persönlicher und psychologisierender. Private Beziehungen werden in den Kunstwerken verarbeitet und präsentiert. Für die politische Vereinnahmung des Motivs steht das Werk von Eine und Christine Hohenbüchler, das Brunnenfiguren mit Bruder- und Schwestermotiven der DDR in Form von Zeichnungen dekonstruiert und die Beziehung der Figuren hinterfragt.
Das Zwillingspaar im Fokus
Der letzte große Raum widmet sich dem Interesse der 1990er Jahre an Zwillingspaaren, das Nicole Fritz im Pressegespräch als Antwort auf die Individualisierung der Nachkriegsjahrzehnte liest. Vor allem Zwillingspaare, die gemeinsam Kunst erschaffen, werden hier gezeigt und verkörpern eine Gemeinschaftsutopie, deren positive Energie Nicole Fritz als Botschaft der Ausstellung verstanden wissen möchte.
Unser Fazit: Hingehen
Die Kunsthalle präsentiert gewohnt souverän eine Ausstellung, die Neuland betritt. Als erste Ausstellung zum Thema „Geschwister“ liegt der eher konventionelle chronologische Aufbau nahe und erfüllt seinen Zweck. Aufgebrochen wird die Erzählung nicht nur durch den Einschub der Werke von Asana Fujikawa, sondern auch durch Blickachsen in andere Räume, die Nicole Fritz in ihrer Hängung stets clever zu nutzen weiß. Die Mischung aus Film, Malerei, Grafik, Skulptur und Installation garantiert einen abwechslungsreichen Museumsbesuch – garniert mit hochkarätigen Leihgaben.
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