Vom Faltenwurf und der Freude am Verhüllen
Die Verhüllungen Christo und Jeanne-Claudes begleiten mich schon eine ganze Weile. Als Sternchenthema des Kunstabiturs kauten wir in der Abschlussklasse die Thesen, Diskurse und Werkbeispiele Christos bis zum Umfallen durch. Wir erstellten eigene Verpackungen, zeichneten Faltenwürfe verschiedener Materialien und erstellten Fotocollagen. Was mich immer daran faszinierte: Das Künstlerpaar suchte sich ein Bauwerk aus und entzogen es den Blicken der Menschen. Diesen wiederum wird erst dadurch die Anwesenheit des Gebäudes bewusst. Erst verpackt wird die Monumentalität der Architektur deutlich, die Präsenz im Raum, die Grundformen des Baukörpers. Auf einmal ist das Gebäude wieder im Bewusstsein der Menschen, die anhand der Umrisse der Verhüllung versuchen, sich an die Architekturdetails zu erinnern. So wird die Verhüllung – trotz aufwändiger Organisation, langer Planung, Installation mit schwerem Gerät – zum leichten, wie zufällig erdachten, Versteckspiel.
Das Werk, das sich selbst finanziert
Die Autonomie ihrer Installationen garantierten Christo und Jeanne-Claude durch die 100%ige Finanzierung mit eigenen Mitteln. Unzählige vorbereitende Skizzen und Collagen wurden im Vorfeld verkauft und finanzierten so die Verwaltungs- und Materialkosten des eigenen Projekts. Auch die mehreren tausend Quadratmeter Stoff wurden in kleinen Portionen an Kunstfreund*innen veräußert. Dadurch entzog das Künstlerpaar ihre Werke nicht nur finanziellen Verpflichtungen potenzieller Spender*innen, sondern auch dem Argument “Das können wir uns nicht leisten”. Sie wurden so als Künstler*in zum Anbieter einer kostenfreien Dienstleistung, eines ästhetischen Geschenks für kurze Zeit.
Slapstick und hohe Kunst
Jede der planerischen Skizzen und Collagen ist ihr eigenes Kunstwerk: Die detaillierten Zeichnungen, die scheinbar zufällige Komposition der Detailausschnitte und die skulpturale Vision der Verhüllung auf Papier kann auch für sich stehen. Viele Kunstwerke führen so zum großen Ganzen. Daneben gehören zu den Werken Christos immer auch die sie begleitenden Anekdoten, etwa die Bundestagsdiskussion, in der das Parlament über eine Kunstaktion– die Verhüllung des Reichstags– abstimmen sollte. Beim Pont Neuf nimmt es eher humoristische Züge an: Der damalige Pariser Bürgermeister Jaques Chirac war gegen die Verhüllungsaktion. Als er eines Tages eine größere Menge Papiere unterzeichnete, soll ein Befürworter des Projekts den Antrag einfach in den Unterlagenstapel geschoben haben. Im Automatismus des Unterschreibens kam so Chiracs Unterschrift auf die Genehmigung. Ob das stimmt? Es fügt dem Werk auf jeden Fall eine neue Dimension hinzu.
Christo und Jeanne-Claude heute
Gerade im Jahr 2021 sind die Verhüllungen von Christo und Jeanne-Claude wichtig. Weil die Erwartung des großen Projekts für einen kurzen Moment die Pandemie vergessen lässt. Weil “endlich wieder was los ist”. Und weil die raumgreifenden Installationen immer Anlass zur Diskussion geben, nicht nur über Kunst. In der aufgeheizten gesellschaftlichen Atmosphäre zwischen Genderdebatte, Impfpflicht und Klimaproblematik bietet die Verhüllungsaktion einen geschützten Raum, der zur Diskussion einlädt und damit zum Einüben einer Debattenkultur, die in anderen gesellschaftlichen Bereichen dringend benötigt wird.