Kunst, die beim Vorbeilaufen betrachtet werden kann. Die beim Einkauf in der Stadt, genauer gesagt beim Schaufensterbummel zufällig im Laden nebenan steht. Ganz unverfänglich, ohne Eintritt, ohne Kaufzwang – unter dem Motto „Kunst neu entdecken. Kunst live erleben” stellt die Bürgerstiftung Rottenburg Künstler*innen einen Raum mitten in der Rottenburger Einkaufsmeile für Ausstellungen und Performances zur Verfügung.
Momentan könnt ihr Werke von Ralf Ehmann betrachten – ein Künstler, der für viele von uns kein Unbekannter ist. In Tübingen geboren, hier in Rottenburg aufgewachsen, merkt man doch diese Verbundenheit mit der Region, die sich auch in seinem Werk widerspiegelt.
Ralf Ehmann – Der Weg zum Künstler
Vor ungefähr einem Jahr durften wir Ralf Ehmann in seinem Atelier in Rottenburg-Kiebingen besuchen. In unserem Interview hat er uns verraten, dass er bereits mit 12 Jahren wusste, dass er Bildhauer werden möchte. Einige seiner Arbeiten sind entstanden, als er gerade mal vier Jahre alt war. Viele von uns träumen als Kind von solchen Berufen – einmal Ballerina sein, oder Astronaut. Diese dann aber tatsächlich zu ergreifen, scheint für die wenigsten von uns machbar oder realisierbar. Wir können an dieser Stelle also mehr von einer Berufung des Künstlers als von einem Beruf sprechen.
Diesem gefestigten Wunsch folgte dann später ein Studium der Bildhauerei an der Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart unter Prof. Karl-Henning Seemann und mehrere Studienaufenthalte in Italien und Frankreich. Wie er uns verraten hat, war gerade der Aufenthalt in der geschichtsträchtigen italienischen Marmorstadt Carrara für ihn nachhaltig beeindruckend.
Pop-up-Ausstellung in Rottenburg am Neckar
Die Ausstellung schenkt einen ganz guten Überblick über das künstlerische Werk von Ralf Ehmann. Neben Druckgrafiken und Gemälden machen die bildhauerischen Arbeiten den größeren Teil der Kunstwerke aus. In der genaueren Betrachtung merken wir alle relativ schnell, dass die Beschäftigung mit der menschlichen Figur alle diese Arbeiten eint.
Wir haben mit Ralf Ehmann also einen Künstler, der künstlerische Lösungen nicht in der Abstraktion findet, sondern immer wieder – und dies durchaus auf unterschiedliche Arten – den menschlichen Körper, dessen Bewegungen, aber auch Charaktereigenschaften von Individuen in den Fokus seiner Arbeit stellt.
Die Thematik oder auch Inspiration in seinen Werken findet Ralf Ehmann teilweise in der Literatur und der Philosophie. Oft eben auch gepaart mit der Verbundenheit zu den eigenen Wurzeln in der Region.
Ein bisschen Tübingen
Hier auf der Abbildung sehen wir auf der linken Seite ein Gemälde. Wir erkennen darauf eine Straßenszene, die bei genauerem Betrachten konkret verortet werden kann. Es handelt sich um das Gebäude in Tübingen, das sich am Eck zur Gartenstraße befindet und das man erblickt, wenn man von der Neckarbrücke kommend, Richtung Neckargasse einbiegt.
Die Szene wirkt trotz der abgebildeten Figuren zwar real aber auch irgendwie nicht alltäglich. Die Figuren spielen für die Funktion des Gemäldes keine Rolle. Denn die menschliche Figur als solche wird in diesem Kunstwerk nicht thematisiert. Vielmehr werden sie zur Staffage, um Form und Farbe innerhalb des Bildgefüges zu thematisieren und zu analysieren.
Interessant ist auch die Tatsache, dass die zwei Figuren uns in verschiedenen Ansichten präsentiert werden. So sehen wir uns mit der vordersten Figur im Halbprofil konfrontiert, die hintere menschliche Person zeigt ihr Gesicht im Dreiviertelprofil. Die Entscheidung, die Figuren auf diese Art und Weise zu platzieren, unterstreicht die Intention des Künstlers, in der die Figuren in einer inhaltlichen Bedeutung zurückweichen und stattdessen der bewussten Betonung von Form und Farbe weichen.
Tübingen und Rottenburg im Portrait
Direkt am Eingang der Ausstellung werden wir begrüßt von Franz Anton Hoffmeister – keine unbekannte Persönlichkeit in Rottenburg. Er war Komponist, ein sehr guter Bekannter Wolfgang Amadeus Mozarts und ist bis heute bekannt als Musikverleger von unter anderem Franz Joseph Haydn, Ludwig van Beethoven und eben Mozart. Der gebürtige Rottenburger gründete bereits 1800 gemeinsam mit Ambrosius Kühnel in Leipzig das Bureau de musique, das heute noch als Verlag C. F. Peters existiert. Ein Portrait, in diesem Fall eben als Büste, einer berühmten, aus Ehmanns Gegend stammenden Persönlichkeit.
So finden wir in seinem Œuvre immer wieder Berühmtheiten, Köpfe von Personen, die wir kennen, die uns an jemanden erinnern. Auf der folgenden Abbildung ist eine von Ehmanns Darstellungen des bekannten Dichters Friedrich Hölderlin zu sehen. Spazierend, in Gedanken versunken und die Umgebung beobachtend, stellt Ralf Ehmann den deutschen Lyriker dar. Wohin blickt Hölderlin? Über was denkt er wohl gerade nach?
Ralf Ehmann öffnet mit seinen Skulpturen Gedankenräume in uns Betrachter*innen. Orte für einen Austausch mit dem Dargestellten und dem eigenen, ganz persönlichen Vorwissen, das man als Rezipient*in mitbringt. Sofort stellt man sich Friedrich Hölderlin am Neckar vor, wie er durch den Garten der Familie Zimmer schlendernd über den nächsten Vers in seinem Gedicht sinniert.
Ralf Ehmanns lebendige Darstellungen
Es sind Mimiken und Gestiken, die die Plastiken lebendig werden lassen, die uns suggerieren, als wären sie just in diesem Moment real existent und ein Austausch – Auge zu Auge, Gedanke zu Gedanke – wäre möglich. Unterstrichen wird dies durch die zu erkennende Bewegung. Dieses Zusammenspiel bringt uns auch die dargestellte Persönlichkeit, auch wenn wir sie nicht kennen und zuordnen können, so Nahe, dass wir fast glauben, sie wirklich zu kennen.
Diese unglaublich sensible Umsetzung zeugt von einer enormen Auseinandersetzung mit dem gewählten Material, mit der Materialität und auch der dargestellten Person. Dies gilt nicht nur für Ralf Ehmanns Portraits. In all seinen Werken ist ein intensives Studium und ein enormes Vorwissen im Umgang mit dem Material und auch gestalterischen, philosophischen und handwerklichen Aspekten zu erkennen.
Unverkennbar ist die intensive Beschäftigung mit Darstellungen aus der Zeit der Renaissance, mit Arbeiten der alten Meister wie Michelangelo. So stehen wir in der Ausstellung in Rottenburg wohl proportionierten und ausgeklügelten figurativen Darstellungen gegenüber. Immer ersichtlich: eine enorme Vorarbeit, sowohl eine gedankliche, als auch eine handwerkliche.
Das Material selbst tritt nicht in den Hintergrund. Es unterstreicht die Figur, es rahmt sie, es lässt sie aus ihr heraustreten. Ob Stein, Bronze, Papier – jegliches Material verarbeitet Ehmann zu Bühnen seiner Darstellungen. Er vermittelt Andeutungen und Hinweise – subtil und äußerst poesievoll, sodass sie zur Selbstreflexion aufrufen. Sie schulen das genaue Betrachten, das Hinschauen, das wir in unserem schnelllebigen Alltag verlernt haben. Sie laden zum Entdecken und Hinterfragen ein, sie bitten zum Dialog.
Ein Titan mitten in Rottenburg
Wenn wir uns nun dieser sehr zentral platzierten Figur in der Mitte des Pop-up-Kulturladens zuwenden, sehen wir, welche unterschiedlichen Arbeitsweisen und Interessen hinter dem Künstler Ralf Ehmann stecken. Die Figur trägt den Titel „Atlas” – eine Figur aus der griechischen Mythologie. Atlas war ein Titan, der das Himmelsgewölbe am westlichsten Punkt der damals bekannten Welt stützte. Dementsprechend ist er die Personifizierung des Atlasgebirges.
Die Darstellung von Atlas ist in der Kunstgeschichte weit verbreitet. Interessant an der Interpretation von Ralf Ehmann ist die Bewegung der Figur an sich. Der gedrehte Körper, der nach hinten zu kippen droht, zeigt in der einen Hand die Erdkugel, der andere Arm liegt in entgegengesetzter Richtung. Physikalisch scheint diese Pose in dieser Haltung unmöglich, aber genau hier liegt wiederum die Spannung, die sich für uns Betrachter*innen offenbart. Durch die Neigung der Figur, werden wir Zeug*innen eines Moments, der normalerweise nur für den Bruchteil einer Sekunde wahrnehmbar ist. Dadurch ergeben sich in unseren Köpfen automatisch Ergänzungen im Bewegungsablauf.
Interessant ist die fast schon spürbare Spannung des muskulösen Körpers, fast schon eine Anspannung, die das Moment der Bewegung verstärkt.
Was uns persönlich außerdem an dieser Plastik fasziniert, ist das Verständnis von Raum bzw. Räumlichkeit. Statt einer vertikalen Darstellung wählt Ralf Ehmann eine diagonale, ja fast schon horizontale Achse. Dadurch ist die Figur einem Kipp-Moment ausgesetzt, wodurch diesem starren Material Bronze Bewegung eingehaucht wird. Der Titan Atlas wird für uns in diesem Moment lebendig. Durch die ausladende Gestik, die Ehmann der Figur schenkt, beherrscht diese außerdem den gesamten Ausstellungsraum.
Zusätzlich wird der Bronzeguss durch die spezielle Bearbeitung der Oberfläche in Bewegung gesetzt. Die modulierte Oberflächenstruktur gibt dem starren Material Lebendigkeit und Vitalität und wir als Betrachter*innen automatisch an Arbeiten von Auguste Rodin oder Michelangelo.
So viele Aspekte, so vieles, was uns aufgefallen ist. Ralf Ehmanns Œuvre lässt zahlreiche Interpretationen zu, öffnet unzählige Momente und Ansatzpunkte. In diesem Artikel haben wir einige unserer Begegnungen mit euch geteilt und freuen uns auf eure Kommentare. Die Ausstellung läuft noch bis 21. August 2021. Nutzt also die kommenden drei Tage und begegnet Ralf Ehmanns Werken live. Öffnungszeiten: donnerstags und freitags von 16.00 bis 18.00 Uhr, samstags von 11.00 bis 13.00 Uhr.