Tesfaye Urgessa wurde 1983 in der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba geboren. Dort erlangte er Anfang der 2000er Jahre ein Diplom in Technischem Zeichnen und einige Zeit später einen Bachelor in Kunsterziehung. Nach seiner dreijährigen Tätigkeit als Assistenzdozent an der Addis Abeba University for Arts and Design kam Tesfaye Urgessa nach Deutschland und studierte bei Cordula Güdemann an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart. 2014 schloss er das Studium mit dem Akademiepreis ab und arbeitet seither als bildender Künstler in Nürtingen.
Mehr als Fakten
Das sind die Fakten, die es zum Werdegang von Tesfaye Urgessa zu erwähnen gilt. Seine Kunst jedoch benötigt einen offeneren und sinnlichen Blick. Mehr als es diese Stationen seiner Ausbildung im Ansatz zu vermitteln vermögen. Außer Acht lassen darf man bei der Betrachtung von Urgessas Werken seine Herkunft und die Etappen seiner künstlerischen und persönlichen Reise allerdings nicht, denn sie tauchen in unterschiedlichster Form in seinen Gemälden auf.
Holy Criminals
Bereits 2011, während seines Studiums in Stuttgart, erregte er mit seiner Werkserie „Holy Criminals” die Aufmerksamkeit einiger interessierter Besucher*innen des alljährlichen Rundgangs an der Akademie, sowie die so mancher Galerist*innen aus der Landeshauptstadt. Die Serie zeigt Männer und Frauen, die unbekleidet an einen Pranger gestellt werden und ein unbeschriebenes Blatt vor ihrer Brust tragen. Der erste Blick auf die fünf Werke der Serie eröffnet Assoziationen einer Verhaftung, eines Polizeifotos, einer Straftat. Bei genauerer Betrachtung entsteht allerdings das Gefühl von Schuld- und Wehrlosigkeit. Die Dargestellten blicken den / die Betrachter*in meist direkt an. Ungeschönt und ohne jegliche Möglichkeit sich gegen eine Beurteilung oder gar eine Verurteilung durch den Blick des Betrachtenden zu wehren.
Künstlerische Energie
Urgessa malte diese „Holy Criminals” in der Folge eines Vorfalls mit der Polizei. Innerhalb eines Tages wurde er in Stuttgart dreimal von der Polizei kontrolliert. Ohne triftigen Grund. Lediglich seine Hautfarbe scheint ausreichend, um ihn zu beurteilen, zu verurteilen und an den Pranger zu stellen. Während seine Freunde ihm erzählten, dass er sich mit der Zeit an solche Vorkommnisse gewöhnen würde, wandelte Urgessa die Frustration, die er in sich trug, in künstlerische Energie um. Es entstanden fünf Bilder, die Menschen unterschiedlichster Herkunft an den Pranger der Vorurteile, der Wehrlosigkeit und der öffentlichen Verurteilung stellen. So weitet er die Grenzen seiner persönlichen Erfahrung aus und kreiert einen künstlerischen Schrei nach Gleichberechtigung. Nicht im bürokratischen Sinne, sondern in den Köpfen der Bevölkerung.
Körper
Der Körper als unmittelbarste Form des eigenen Ausdrucks spielt eine wichtige Rolle im Werk Urgressas. Unverkleidet und ungeschützt zeigt er die Protagonist*innen seiner künstlerischen Erzählungen. Das Fleisch, die Formen und die Farben der Körper wirken in den Bildern beinahe als Gleichmacher. Unterschiede, die ein Vorurteil ermöglichen würden, werden entfernt. Keine Kleidung, keine Statussymbole. Nackt und unmittelbar blicken uns die Figuren an, denn es geht nicht um die gesellschaftliche Position oder das aufgesetzte Äußerliche. Es geht um etwas Größeres, für das die Figuren sinnbildlich stehen: Um die Gesellschaft selbst. Um die Kulturen unserer Welt und um den Mensch mit all seinen Emotionen, Ängsten und Hoffnungen.
Überwachung
„Die Beobachteten”, eine Werkserie aus dem Jahr 2014 verdeutlicht diesen Umgang mit übergeordneten Themen, die der Künstler auf einen Moment, auf eine Figur herunter bricht. Die Serie thematisiert den gesellschaftlichen Umgang mit der Überwachung durch die Elite, die Mächtigen oder den Staat. Der Künstler setzt sich mit der Frage auseinander, was Überwachung und Manipulation mit den Werten einer Gesellschaft machen. Fördern sie das Vertrauen, die Liebe und die gefühlte Freiheit oder machen sie diese Werte gar zunichte? Ist es denn erstrebenswert in einer Gesellschaft zu leben, die diese Werte verloren hat? Was bedeutet das für jeden einzelnen Menschen?
Der Blick zurück
Die Beobachteten blicken den / die Betrachter*in ebenfalls direkt an. Nicht nur das. Sie scheinen mit ihrem durchdringenden Blick in unser Inneres zu blicken und berühren uns auf eine unmittelbare Art und Weise. Die Protagonist*innen der Serie werden somit nicht nur von uns intensiv beobachtet, auch sie werfen einen durchdringenden Blick auf uns zurück. Als Betrachter*in befinden also auch wir uns in der Lage des / der Beobachteten. Auch wir sollten uns Gedanken über unsere Position in der Gesellschaft, unseren Umgang mit Menschen in unserem Umfeld und unsere Be- und Verurteilung dieser Menschen machen, denn in diesem kontinuierlichen Kreislauf können auch wir uns bald in der Situation unseres Gegenübers befinden.
Nackte Körper
Bei all diesen Werken steht nicht der nackte Körper als anstößiges Objekt im Mittelpunkt, denn der Künstler beleuchtet das Innenleben der Figuren. Die Nacktheit wirkt so auf den / die Betrachter*in natürlich und selbstverständlich. Als wäre es den Besucher*innen bewusst, dass es nicht um das realistische Abbild eines menschlichen Körpers, sondern vielmehr um die Verbildlichung menschlicher Emotionen geht. Diese Darstellungen werden in manchen Fällen von erzählerischen Elementen begleitet, die Aufschluss über die Geschichte geben, die hinter dem Motiv steckt.
Opfergaben
Das Bild „Opfergabe” aus dem Jahr 2018 zeigt eine solche fragmentarische Erzählung, die sich erst in der Fantasie des / der Betrachter*in zusammensetzt. Ein Teller, auf dem eine Wurst und ein Stiefel zu sehen sind. Handelt es sich um Symbole für das Deutsche? Stellen sie die im Titel genannten Opfergaben dar? Der Mann im Hintergrund hält sich eine Sprühflasche an die Schläfe. Verweist die Geste auf einen Suizid? In welchem Zusammenhang steht die Handlung zu der Zimmerpflanze im Vordergrund?
Jedes Element im Bild wirft neue Fragen auf, bis sie sich in den Gedanken der Besucher*innen zu individuellen und sehr persönlichen Geschichten zusammensetzen. So bleiben die elementaren Themen und Fragen, die Urgessa in seinen Gemälden aufwirft nicht alleine in dem Empfinden der kreierten Figuren, sondern finden einen Weg in unsere Realität.
Ich halte dich fest halten
Die Bildelemente erinnern partiell an christliche Darstellungen und Symbole, die uns auf eine seltsame Art bekannt vorkommen. Eine konkrete Zuordnung fällt jedoch oft schwer. So vereint das Werk „Ich halte dich fest halten 2” persönliche und scheinbar alltägliche Objekte, wie einen Beistelltisch, ein Kuscheltier oder eine Tasche mit christlichen Elementen. Der Mann im Mittelpunkt des Bildes, dessen Kopf von der Deckenlampe verdeckt oder gar ersetzt wird, breitet seine Arme aus, sodass seine Körperhaltung an den gekreuzigten Christus erinnert. Das Mädchen im Vordergrund scheint eine Art Heiligenschein zu tragen. Oder doch nur einen Sonnenhut? Die Bilder bewegen sich in einer Welt zwischen den Interpretationen, zwischen den Kulturen und zwischen den Gesellschaften, die dem / der Betrachter*in einen individuellen und persönlichen Zugang zum Kunstwerk eröffnet.
Schloss Mochental
So kann man sich die Werke von Tesfaye Urgessa durchaus in einem sakralen Raum vorstellen. Anfang Mai fand der Aufbau zu Urgessas aktueller Ausstellung in der Kapelle von Schloss Mochental statt. Die Galerie Schrade nutzt die gesamte Anlage des Barock Schlosses für Ausstellungen zeitgenössischer Kunst, sodass auch die Werke des äthiopischen Künstlers den Weg nach Ehingen und in das Schloss finden konnten. Ab Sonntag, den 10. Mai 2020 ist die Ausstellung wieder für den Publikumsverkehr geöffnet. Unter den mittlerweile gewohnten Hygienebedingungen können das Schloss, die Kapelle und die eindrucksvollen Gemälde von Tesfaye Urgessa also ab sofort bestaunt werden.
Hier und Jetzt
Die Zeit scheint also perfekt für Urgassas Malerei und eine Ausstellung seiner Werke zu sein. Die elementaren Fragen der Gesellschaft, der Kulturen und der Menschlichkeit, die Urgessa in seiner Kunst aufwirft, stellen wir uns momentan wohl alle. Vielleicht ist also genau jetzt in Zeiten von Isolation, Pandemie und Existenzangst der richtige Zeitpunkt die Ausstellung zu besuchen, sich mit den Werken Urgessas auseinanderzusetzen und über die eigene Gefühls- und Gedankenwelt zu reflektieren. Sobald dies möglich ist nicht mehr nur virtuell, sondern mit Leib und Seele vor Ort.