„Kunstschätze aus Niederösterreich“ in der Kunsthalle Tübingen

Das Thema „Kunst aus Niederösterreich“ wirkt zunächst wie ein Nischenthema. Wer die Leiterin der Kunsthalle kennt, weiß dass sie gerne mit bestehenden Sammlungen arbeitet und diese auf überraschende Art und Weise in den Räumen der Kunsthalle inszeniert. Nach der Ausstellung über Sigmund Freud zeigt sie nun die zweite Kooperation mit einem österreichischen Museum – was für sie auch mit dem europäischen Gedanken zu tun hat.

Internationale Kunstgeschichte: Kunstschätze als Stellvertreter

„Die Kunstgeschichte wird oft mit einer nationalen Brille gesehen, obwohl die künstlerischen Strömungen in Westeuropa zumeist international wirkten“, betont Dr. Nikolaus Kratzer von den Landessammlungen Niederösterreich beim Pressetermin und Dr. Nicole Fritz stimmt ihm zu: „Für mich ist diese Kooperation auch ein Ausdruck des europäischen Gedankens.“ Die internationalen kunsthistorischen Strömungen wirkten sich schon immer vor Ort in nationalen oder regionalen Varianten aus. Die „Kunstschätze“ aus Niederösterreich zeigen genau das: Die künstlerische Produktivität des österreichischen Bundeslands im Kontext der internationalen Kunst. Das war schon das Konzept, als die Ausstellung in der Landesgalerie Niederösterreich gezeigt wurde. Für die Kunsthalle Tübingen hat Nicole Fritz sich zentrale Werke ausgesucht, die nun das erste Mal in Deutschland gezeigt werden.

Mit den Kunstschätzen durch die Epochen der Kunstgeschichte

Die Ausstellung nimmt die Besucher:innen an der Hand und führt sie Raum für Raum durch die verschiedenen Epochen (zumeist) der Malerei. Im ersten Raum, der dem Barock und Biedermeier gewidmet wurde, steuert man direkt auf ein Highlight zu: Zwei Altarbilder des bekannten niederösterreichischen Barockmalers Martin Johann Schmidt, genannt „Kremser Schmidt“. Die beiden großformatigen Malereien sind typisch für den Maler – in der Tübinger Präsentation werden sie durch ein Genrebild desselben Künstlers ergänzt, dessen Bandbreite für seine Zeit eher ungewöhnlich war.

Typisch Österreich: Kunstschätze der Jahrhundertwende

Der große Saal der Kunsthalle ist der Sezession um 1900 gewidmet und wartet mit einigen Werken Egon Schieles auf, der an der Grenze zu Niederösterreich geboren wurde. Nicole Fritz und Dr. Gerda Ridler von der Landesgalerie setzen aber bewusst einen Gegenpol. „Der Kunstbetrieb in Wien um 1900 war extrem männlich dominiert, daher freuen wir uns, dass wir mit unserer Sammlung einige bedeutende Künstlerinnen zeigen können“, so Gerda Ridler und verweist auf die Werke von Helene Funke und Broncia Koller-Pinell. Diese unterhielt in Krems, Niederösterreich, einen bedeutenden Salon, über den sie mit den großen Künstlern ihrer Zeit im Austausch stand.

Kunst nach 1945: Kunstschätze einer neuen Zeit

In der unmittelbaren Nachkriegszeit verarbeiteten Künstler:innen die Erfahrungen des Krieges. Einer der Kabinetträume widmet sich der Kunst der Nachkriegszeit, in der die Künstler:innen versucht haben, den Krieg in einen überzeitlichen Kontext einzuordnen. Sie stellen außerdem die Frage nach der eigenen Identität in Österreich, das erst 1955 seine Souveränität wiedererlangte. Im Raum zur Kunst der 1970er Jahre liegt der Schwerpunkt auf geometrischer konkreter Kunst. Vor allem die Bildmandalas von Isolde Maria Joham prägen den Raum. Ihr umfassendes Schaffen in Form von Malerei und Glaskunst wird erst seit einigen Jahren von der Kunstgeschichte entdeckt und gewürdigt.

Erweiterung der Kunstschätze: Kunst der 1980er Jahre

Die 1980er werden in der Ausstellung vor allem durch feministische Positionen vertreten. Die Erweiterung des konventionellen Werk- und Kunstbegriffs umfasst auch die Infragestellung des männlich dominierten Kunstbetriebs. In der Gruppe DIE DAMEN schlossen sich Künstlerinnen zusammen und gründeten eine Agentur für selbstbewusste Kunst von Frauen. Die Lichtinstallation Die Göttin schuf Eva von Margot Pilz ist in dem dabei ebenso visuell ansprechend, wie sie augenzwinkernd auf die politische Brisanz des Feminismus hinweist – als Werk aus dem Jahr 2010.

Aktuelle Kunstschätze: Blick in die Gegenwart der niederösterreichischen Kunst

Die Diversität der Werke im letzten Raum, der Positionen der Gegenwart präsentiert, zeigt die Bandbreite des aktuellen Kunstbetriebs in Niederösterreich. Verschiedene Genres, Materialien und künstlerische Methoden stehen gleichberechtigt nebeneinander. Sie zitieren Gesten, Motive und Malweisen der Vergangenheit und fragen danach, was Kunst sein kann, während partizipative Projekte die Institutionen des Kunstbetriebs reflektieren und hinterfragen.

Eine Ausstellung voller Kunstschätze

Die Ausstellung „Kunstschätze vom Barock bis zur Gegenwart“ ist keine Leistungsschau der niederösterreichischen Kunst. Vielmehr zeigt die sorgfältig gewählte Auswahl von Nicole Fritz Strömungen und Entwicklungen der europäischen Kunstgeschichte durch die Brille der niederösterreichischen Kunst. Dabei geht es der Ausstellung nicht um ein Best-Of, sondern um Beispielhaftigkeit: Dafür ist jedes Werk bedeutungsvoll und erhält ausreichend Platz, um seine Wirkung zu entfalten. Über die Wandtexte und die durchdachte Hängung werden die Besucher:innen eingeladen, eigene Querbezüge herzustellen, was die Ausstellung zu mehr als einem Rundgang durch die Kunstepochen macht.

Kunstschätze vom Barock bis zur Gegenwart aus Niederösterreich
23.03.–15.09.2024

Kunsthalle Tübingen
Philosophenweg 76
72076 Tübingen

www.kunsthalle-tuebingen.de
@kunsthalletuebingen