Soziale Topographie – „Randærscheinung“ von Lisa Moll im IFCA

„Randærscheinung“ heißt die Ausstellung von Lisa Moll im Institut culturel franco-allemand in Tübingen, die wir als KuneProjects in Kooperation mit dem ICFA organisiert haben. Um euch die Ausstellung vorzustellen, haben wir uns mit der Künstlerin über ihre künstlerische Praxis unterhalten.

Schon auf den ersten Blick ist klar: Lisa Moll setzt sich gezielt mit dem Raum auseinander, in dem sie ihre Kunstwerke ausstellt. Sie platziert ihre Leinwände, Zeichnungen, Plastiken und Assemblagen an ungewohnten Stellen und spielt mit dem Gebäude: Eine Plastik aus Stoff liegt auf dem Klavier im Foyer, kleine Tonfiguren finden auf Fenstersimsen Platz und ein Gemälde hängt an der Decke, so dass man zu ihm aufsehen muss. Die Künstlerin stellt Korrespondenzen zwischen einzelnen Arbeiten her und verbindet sie zu einer Ausstellung, die mehr ist als die Summe ihrer Teile. Diese Ausstellung ist zurzeit unter dem Titel „Randærscheinung“ im institut culturel franco-allemand in Tübingen, kurz ICFA zu sehen. Sie entstand als eine Kooperation zwischen dem ICFA und KuneProjects.

Verschiedene Bedeutungen von Randærscheinung

Der Titel der Ausstellung „Randærscheinung“ ist durchaus auch wortwörtlich zu verstehen – manche der Kunstwerke muss man sogar ein bisschen suchen. Neben den üblichen Ausstellungsräumen im ICFA, dem Foyer und dem Seminarraum bespielt Lisa Moll die Kellerräume, die als Archiv genutzt werden – Räumlichkeiten, die man als gewöhnliche:r Besucher:in des ICFA sonst nicht zu Gesicht bekommt. Die Kunstwerke sind zum Großteil neu für die Ausstellung und im Dialog mit dem Gebäude entstanden.

Darüber hinaus ist der Titel auch im übertragenen Sinne beziehungsweise programmatisch zu verstehen. Thematisch beschäftigt sich Lisa Moll in den Arbeiten mit Randbereichen in unserer Gesellschaft. Identitäten unterschiedlicher sozialer und regionaler Herkunft, vor allem aber natürlich aus unterschiedlichen Sprachgemeinschaften treffen aufeinander. An diesen Rändern kann es zu Reibungen und Verständnisschwierigkeiten kommen. Als Lösung plädiert die Künstlerin für Kommunikation über Grenzen hinweg und packt hierfür auch immer eine Portion Humor mit rein.

Eine Denkfigur, die immer wieder vorkommt, ist der Tapir. Für unsere europäischen Augen ist er ein Exot, der wie ein Mischwesen aus Schwein und Elefant erscheint. Analog dazu tauchen immer wieder die Worte „Ja“ und „Nein“ auf – sowohl in den Titeln der Arbeiten, vor allem aber direkt in den Kunstwerken. Das zustimmende „Ja“ und das ablehnende „Nein“ verbinden sich letztlich zu einem ungewissen „Jein“. Der Tapir und das Jein stehen dafür, dass es nicht immer klare Antworten geben muss. Vielleicht muss man andere nicht immer in Schubladen stecken. Vielleicht muss man selbst auch nicht immer in vorgefertigte, gesellschaftliche Formen passen, sondern kann einfach man selbst sein. Unterstützend zu ihren Kunstwerken hat Lisa Moll poetische Texte entwickelt, die genau diese Fragen aufgreifen. Sie liegen in der Ausstellung aus.

Zwischen

Ja und nein.
Null und Eins.
Frau und Mann.
Ja und nein.
Jain.

Wirbellos. Willenlos. Geschlechtslos.
Wirbelfrei. Willensfrei. Geschlechtsfrei.

Tapir.
Dazwischen.
Sagt das Schwein zum Elefant.
Er sei ein Zwischenwesen.
Zwischen Schwein und Elefant.
Interessant.

Es liegt auf der Zunge. Das …
Ein verschlucktes Ja. Ein verdautes Nein.
Ein vergessenes Jain.
Es liegt auf der Hand.
Sie lieft auf der Zunge.
Die Entscheidung.

Vier Fragen an Lisa Moll

Liebe Lisa, erst einmal ganz grundlegend: Wie kam das Thema für die Ausstellung Randærscheinung zustande?

Meine Ausstellungstitel entstehen immer im Spannungsverhältnis zwischen meinen aktuellen Arbeiten und dem Ausstellungsort. Zuletzt habe ich mich viel mit inneren Bildern beschäftigt, die unser Denken und Handeln bestimmen: Dualistische Weltbilder wie das Eigene und das Fremde, Geschlechterordnungen oder Hülle und Inhalt sind etablierte Vorstellungen. Das institut culturel franco-allemand trägt schon im Namen ein weiteres dualistisches Bild: „franco-allemand“, also die Vorstellung von Nationalstaaten, die einander begegnen. Der Buchstabe æ in „Randærscheinung“ verkörpert den gedanklichen Twist meines konzeptionellen Ansatzes. Zudem lassen sich meine runden Bilder aus Textil und Zeltstange wie Pop-Up-Zelte mit einer solchen Drehbewegung zusammenfalten.

Wie hat sich das Thema sich im Verlauf deiner Beschäftigung verändert?

Das bisher der Öffentlichkeit verborgene Archiv des ICFA, das in die Ausstellung eingebunden ist, hat meinen Fokus auf die kulturelle und politische Ebene gelenkt. Selbstdarstellungen wie sie zum Beispiel mit der Sammlung von literarischen Klassikern, Schallplatten und Reisführern propagiert werden, weckten mein Interesse. Darin kommen auch wechselseitige Klischees von Deutschland und Frankreich zum Ausdruck; meine eigenen natürlich mit eingenommen.
Es bleibt immer die Frage: Was hat das mit uns zu tun? Mich interessiert, was am unscharfen „Rand“ dieser konstruierten Konzepte passiert. Wie gehen Menschen mit dem vermeintlichen Fremden um? Im Archiv des ICFA sind neben sogenannten Klassikern viele Bücher, die auf die Kolonialzeit hinweisen. Ein Erbe, das auch Deutschland zu verantworten hat. Die Ausstellung stellt auch die Frage, was Tattoos und Hawaiihemden mit diesen Themen zu tun haben.

Was ist Dir am Gebäude des ICFA besonders aufgefallen? Was hat dir hier vielleicht auch besonders Spaß gemacht?

Das historische Gebäude des ICFA – eine ehemalige Prinzenresidenz – hat eine prominente Ausstrahlung. Damit zu spielen, hat mir große Freude gemacht. Meine Ausstellungsobjekte loten – oft humorvoll – die Ränder, Keller und Nischen des Gebäudes aus, um den Fokus formal und inhaltlich zu verschieben. Ich habe im Gebäude so manche Kuriosität entdeckt und teilweise auch unauffällig eingebaut. Wer findet zum Beispiel die Fußspur? Wohin führt sie?

Hat eines deiner Kunstwerke dich dann selbst überrascht? Vielleicht schon im Studio oder auch bei der Installation im ICFA?

Die große Überraschung für mich ist immer der Aufbau. Viele Installationen erhalten ihre Bedeutung erst im Zusammenspiel mit dem Raum und den Objekten darin. So sind einige Bücher und Gegenstände des ICFA integriert. Die Regale im Archiv sind nicht nur Kulisse, sondern kommunizieren mit den Zeichnungen und Objekten. Gefreut hat mich zum Beispiel ein Triptychon, bei dem eine Regalwand ein bemaltes T-Shirt perfekt ergänzt hat.

Ausstellungsansicht Randærscheinung, Lisa Moll im ICFA mit der Arbeit die mitte, Installation mit T-Shirt, Handschuhen und Regal, 2024

Die Ausstellung „Randærscheinung“ läuft noch bis zum 14. März 2024. Sie kann zu den üblichen Öffnungszeiten des institut culturel franco-allemand besucht werden.

Deutsch-Französisches Kulturinstitut Tübingen e.V.
Doblerstraße 25
72074 Tübingen

Öffnungszeiten:
Di: 14:00 – 18:30 Uhr
Mi: 10:00 – 12:00 und 14:00 – 18:30 Uhr
Do: 14:00 – 18:30 Uhr
Fr: 12:00 – 17:00 Uhr