Und alle Straßen führen zu den Menschen – Heidi Degenhardt, Birgit Hartstein und Antje Fischer im BBK/W Stuttgart

„Und alle Straßen führen zu den Menschen“ ist ein Zitat aus „Der kleine Prinz“ und der Titel einer Ausstelllung im BBK/W Stuttgart mit Arbeiten von Heidi Degenhardt, Birigt Hartstein und Antje Fischer.

Bei dieser Ausstellung im BBK/W Stuttgart wurde man nicht nur ermutigt, sondern vielmehr schon im Titel dazu aufgefordert, den erfrischend unbefangenen Blick eines Kindes einzunehmen. „Und alle Straßen führen zu den Menschen“ ist ein Zitat aus „Der kleine Prinz“ – ein Buch, an dem wohl niemand in der Schulzeit vorbeikam. Und das ist auch gut so. Denn es verbindet eine höchst fantasievolle Welt mit tiefgründigen Inhalten, die dann vor allem im Erwachsenenalter unter die Haut gehen.

Ausstellungsansicht „Und alle Straßen führen zu den Menschen“, 2023. Foto: Julia Berghoff.

Der kleine Prinz als Bindeglied

Gerade die Kunst ist ein „Ort“, an dem ungebremste Fantasie und damit auch Mut gefragt sind. Mut, sich nicht von Konventionen beeindrucken zu lassen oder in eine Norm einzupassen. Das kostet, aber gibt auch Kraft. Im „Kleinen Prinz“ gibt es dazu eine Szene, die einen erst in herzhaftes Lachen und anschließend in ebenso große Bedrückung versetzten kann: Als der kleine Prinz mit sechs Jahren sein allererstes Bild zeichnete, sah das ungefähr so aus:

Daraufhin fragte er die „großen Leute“, ob sein Bild ihnen Angst einflöße… Sie antworteten: Was soll an einem Hut denn angsteinflößend sein? Der kleine Prinz hatte aber keinen Hut gezeichnet, sondern eine Boa, die einen Elefanten verdaut. Daraufhin bekam der kleine Prinz von den großen Leuten den Rat, aufzuhören Boas zu zeichnen und sich lieber mit Geographie, Geschichte, Rechnen und Grammatik zu beschäftigen. So kam es also, dass er mit sechs Jahren eine „herausragende Karriere als Maler“ an den Nagel hängte. Der Misserfolg seines Bildes hatten ihn zutiefst entmutigt.

Diese Geschichte zeigt nun mit gezieltem Zynismus, worauf es letztlich ankommt: die Meinung der „großen Leuten“ eben nicht unhinterfragt zu lassen. Und: seine Kreativität niemals einzuschränken.

Heidi Degenhardts porzellanweiße Welt der Poesie

Heidi Degenhardt entführt uns mit ihren schneeweißen Porzellanarbeiten in eine geradezu magische Welt der Poesie. Das Material ist so hauchdünn, zart und zerbrechlich, dass man schon beim Anschauen eine gewisse Vorsicht walten lässt.

Wenn Sonne in das Material scheint, werden auch transparente Stellen sichtbar, die den fragilen Eindruck der Objekte sogar noch verstärkt. Sie verändern sich mit ihrer Umgebung und gehen so einen stillen Dialog ein, auch mit uns Betrachter:innen.

Ausstellungsansicht „Und alle Straßen führen zu den Menschen“, 2023. Foto: Julia Berghoff.

Um mit den Worten des kleinen Prinzen zu sprechen: Die zahlreichen Erscheinungs-Wege des Porzellans, mit ihren unzähligen Porungen, spitzen Zapfen und schmalen Graten, führen zu den Herzen der Menschen. Denn man möchte sie anfassen und gleichzeitig beschützen. Und wie schon der kleine Prinz bei seiner Begegnung mit dem Fuchs in der afrikanischen Wüste gelernt hat: „Man sieht nur mit dem Herzen gut.“

Heidis Porzellanwesen bewegen sie sich an der Grenze zwischen Erkennbarem und Abstraktion, wie Metamorphosen einer fantasievollen Parallelwelt. Sind es versteinerte Korallen oder ganz neue Blumenspezies? Sie nehmen Dynamiken aus der Natur auf und überführen sie in das Material Porzellan, mit dem Heidi Degenhardt schon jahrzehntelang auf unterschiedlichste Weise experimentiert. Sie formt es zu keinteiligsten Schnecken-Spiralen, lässt lange Zapfen wie Tentakeln ausgreifen, kombiniert völlig glatte mit fein durchporten Oberflächen und setzt subtile goldene Akzente, die jede Skulptur zu einer Art Königin werden lässt.

Ausstellungsansicht „Und alle Straßen führen zu den Menschen“, 2023. Foto: Julia Berghoff.

Fragiles trifft Stabiles

Neben den zarten und zerbrechlichen Objekten schafft Heidi Degenhardt aber auch Vasen, die Fragiles mit Stabilem kreuzen. Schmale Grate übersähen die glatten Zylinder, wie kleine Eisberge, die aus der festen Porzellanhaut scheinbar herausbrechen. Es sind oder sollen letztlich keine funktionalen Objekte sein. Vielmehr dient die Grundform der Vase als Ausgangspunkt, um sie auf verschiedene Arten zu deformieren.

Speziell für die Serie an zylindrischen Skulpturen werden dabei erst dementsprechende Gipsformen angefertigt, die dann zerhauen, geraspelt, geschmirgelt und wieder zusammengebaut werden. Flüssiges Porzellan kommt in die Form und nach einigen Stunden werden die Gipsteile vorsichtig entfernt. Was herauskommt ist auch für Heidi jedes Mal eine Überraschung.

Ausstellungsansicht „Und alle Straßen führen zu den Menschen“, 2023. Foto: Julia Berghoff.

Gerade die Gebrochenheit und Asymmetrie zeigt die verschiedenen Gesichter des Materials Porzellans. Mit jedem Arbeitsschritt werden die Gefäße deformierter und skurriler, bis von der ursprünglichen Oberfläche nicht mehr viel übrig bleibt. Heidi liebt es eben zu experimentieren – mit allerhand Materialien, die sie mit dem sahnig weißen Porzellan übergießt, aber auch mit Techniken, wie sie dem Porzellan noch zu Leibe zu rücken kann. Und das im wahrsten Sinne des Wortes: Als Porzellan bei Heidi Degenhardt braucht man Mut und Schwindelfreiheit, wenn man z. B. wieder einmal – ganz bewusst – zu Boden fällt.

Birgit Hartsteins Doppelgesichter

Wo Heidi Degenhardt die verschiedenen Gesichter des Materials Porzellan sichtbar werden lässt, zeigt Birgit Hartstein die (mindestens) zwei Gesichter des Menschen in ihren feinen Zeichnungen der Doppelgesichter. Mit wenigen Strichen und Flächen entstehen ausdrucksvolle Kopf-Metamorphosen, an denen man kaum erkennt, wo das eine Gesicht endet und das zweite anschließt. So wie die Köpfe formal ineinandergreifen und doch nicht voneinander loskommen, scheint auch die Mimik der Gesichter eine Zerrissenheit zu spiegeln.

Ausstellungsansicht „Und alle Straßen führen zu den Menschen“, 2023. Foto: Julia Berghoff.

Dabei knüpft Birigt Hartstein auch an die Erzählung des kleinen Prinzen an, der auf seiner Reise von Planet zu Planet die verschiedenen Seiten der Menschen kennenlernt und dabei feststellt, dass viele nur mit sich selbst beschäftigt sind und so die wichtigen Werte im Leben verdrängt haben. Oder nochmals mit den weisen Worten des Fuchses gesprochen: „Die Menschen haben keine Zeit mehr, um etwas kennenzulernen. Sie kaufen die schon fertigen Dinge im Laden. Aber weil es keine Läden für Freunde gibt, haben die Menschen keine Freunde mehr.“

Ausstellungsansicht „Und alle Straßen führen zu den Menschen“, 2023. Foto: Julia Berghoff.

Dieser Spruch passt hervorragend in die heutige Zeit, dabei ist das Buch schon von 1943. Sich auf Menschen, ihre Gedanken, Gefühle, ihre Kunst einzulassen, erfordert Zeit und einen offenen Geist. Erst dann erkennt man die Boa und nicht nur den Hut.

Birgit Hartsteins schwebende Drahtgeflechte

Was für Assoziationen die schwebenden Drahtgeflechte von Birgit Hartstein erzeugen, ist wiederum genauso vielseitig wie bei den Porzellanobjekten von Heidi Degenhardt. Aus recyceltem Material entstanden, wecken sie Erinnerungen an Bekanntes, entführen die Betrachter:innen aber ebenfalls in eine Parallelwelt. Sie muten an wie sich von der Decke abseilende Kokons, aber federleicht und durchsichtig. Aus dem recycelten Material, hier PET Flaschen, ist etwas Neues entstanden und damit in einen Prozess der Transformation übergegangen.

Ausstellungsansicht „Und alle Straßen führen zu den Menschen“, 2023. Foto: Julia Berghoff.

Gleichzeitig steht der Kokon als Symbol für den Übergang zwischen Leben und Tod, als Grab für die Raupenpuppe und anschließend Ort der Wiederauferstehung, wenn der Schmetterling schlüpft. Das Thema des Sterbens und Wiederauferstehens verbindet die Werke von Birgit Hartstein auf einer weiteren Ebene mit dem kleinen Prinzen. Denn dieser erkennt schließlich, dass er auf seinen Planeten und zu dem einzigen Wesen, das er liebt, zurückkehren muss: seiner sprechenden Blume. Hierfür muss er allerdings erst von einer Giftschlange gebissen werden, der Tod ist also eine Heimkehr.

Kokon, Tod und Transformation

Einen Prozess der Transformation haben auch Birgit Hartsteins Blumen durchlebt, denn sie sind ebenfalls ganz aus recyceltem Material entstanden. Mal sind es Gießkannen-Brausen, mal Lampenarmaturen, aus denen Blütenblätter aus Plastikflaschen sprießen. Trotz ihrer filigranen und zarten Erscheinung strahlen die Drahtobjekte und Blüten alle samt etwas Befremdliches aus, was ihren Reiz gerade ausmacht.

Ausstellungsansicht „Und alle Straßen führen zu den Menschen“, 2023. Foto: Julia Berghoff.

Ein wichtiges Thema für Birgit Hartstein ist wiederum die Umwelt und Natur zu bewahren, was an der Reihe der Kokons und Blüten in ihrer morbiden Eleganz schön zur Geltung kommt. Sie wachsen aus menschengemachtem Müll, der zumeist eben kein Leben gibt, sondern vielmehr Leben nimmt. Gleichzeitig ist Wasser ein Symbol für Leben, ohne das jede Blume, jeder Schmetterling und jeder kleine Prinz zugrunde gingen. Birgit Hartsteins Kunst lebt daher auch durch die Spannung von Widersprüchen innerhalb der Werkgruppen.

Ausstellungsansicht „Und alle Straßen führen zu den Menschen“, 2023. Foto: Julia Berghoff.

Menschliche Beziehungen bei Antje Fischer

Von Naturbetrachtungen inspiriert wurde auch Antje Fischer in ihren Druckgrafiken, die zum Teil speziell für diese Ausstellung entstanden sind. An Titeln wie „Antoine“ ist das gut zu erkennen – eine Hommage an den Autor von „Der kleine Prinz“ Antoine de Saint-Exupéry. In ihren Liniengeflechten und Formen sieht Antje Fischer menschliche Beziehungen verbildlicht – sie begegnen sich, berühren sich, beginnen und enden. Auch für Saint-Exupéry ist der Mensch ein Geflecht aus Beziehungen, die durch den menschlichen Geist geknüpft werden.

Antje Fischer, Antoine, Radierung, Aquatinta, Kaltnadel und Nadelzeichnung. Foto: Julia Berghoff.

In den ebenfalls speziell für die Ausstellung entstandenen Linolschnitten „Suchen und Finden“ kommt das gleich doppelt zur Geltung. Einerseits veranlasst schon der Titel dazu, über das Suchen und Finden verschiedenster menschlicher Verbindungen nachzudenken. Andererseits sind auch die beiden Linolschnitte in enger Verbindung miteinander und ergänzen sich in ihrer Formensprache.

Ausstellungsansicht „Und alle Straßen führen zu den Menschen“, 2023. Foto: Julia Berghoff.

Hat das eine Blatt viele, sich windende Strukturen um eine kapselförmige Fläche herum, so hat das andere Blatt den passenden Gegenpart: viele Strukturen im inneren der kapselförmigen Fläche und einen sehr freien Bereich um die prägnante Kapselform. Auch in der Ausrichtung sind es in gewisser Weise Spiegelbilder, was zurück an die Doppelgesichter von Birgit Hartstein denken lässt. Zwei Seiten einer Medaille, so ähnlich und doch vollkommen eigenständig.

Geheimnisse, die entdeckt werden möchten

Antje Fischers Kompositionen sind von einem besonderen Minimalismus bestimmt, der sich aufs Wesentliche bezieht, farblich als auch formal. Farblich ist das am besten zu sehen in dem Prägedruck, der den Titel dieser Ausstellung trägt: „Und alle Straßen führen zu den Menschen“. Nur das Weiß des Papiers und die Schatten der Vertiefungen werden genutzt, um Menschen und Formen entstehen zu lassen.

Antje Fischer, Und alle Straßen führen zu den Menschen, Prägedruck. Foto: Julia Berghoff.

Es sind Geschichten, die man als Betrachter:in entdecken und auch erfinden darf. Das Blatt lädt dazu ein, die eigene Fantasie anzukurbeln und mit den Augen spazieren zu gehen.

Bei anderen Blättern von Antje Fischer treffen feine Porungen im Papier auf klare Linien. Zarte Schraffuren umspielen locker organische Gebilde, die Natur sein könnten, aber nicht zu viel von sich Preis geben. Sie erzeugt Geheimnisse, die entdeckt werden möchten. Damit sind sie der Geschichte des Kleinen Prinzen nicht unähnlich, der auf seiner Reise verschiedene Geheimnisse über das Leben und die Menschen darin erfährt.

Nebensächliches wird zu Hauptsächlichem

Wie Antje Fischer selbst sagt, hat sie über die Jahre ihre Sehgewohnheiten verändert und gelernt, genauer hinzuschauen, auch auf Kleinigkeiten und Nebensächliches zu achten. Denn Nebensächliches kann zu Hauptsächlichem werden, wenn wir es zulassen. Das zu sehen, was für das Auge gewöhnlich unsichtbar bleibt, ist eine Kunst. Das wusste schon der schlaue Fuchs, der dem kleinen Prinzen sein Geheimnis mit auf den Weg gab: „Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.“

Auch die bildende Kunst lebt von Unsichtbarem, von Berührungen des Herzens und des Geistes – und das obwohl sie primär von Sichtbarem abhängt. Sich die Fähigkeit zu erwerben, über das Sichtbare zum „unsichtbaren Wesentlichen“ zu gelangen, ist daher eines der Geheimnisse der Kunstbetrachtung.

Die Fantasie eines Kindes bewahren

Eine weitere Szene aus dem kleinen Prinzen führt das abschließend vor Augen und lässt hoffentlich ein Schmunzeln bei Ihnen zurück: Gleich zu Beginn im Buch bittet der kleine Prinz den Ich-Erzähler Antoine, ihm ein Schaf zu zeichnen. Mit dem Ergebnis von Antoine ist der kleine Prinz aber nicht wirklich zufrieden. Daraufhin zeichnet Antoine ihm eine Kiste und sagt ihm, dass sich das Schaf dort drin befindet. Sofort „sieht“ der kleine Prinz das Schaf wie er es wollte, also wie er es sich in der Kiste vorstellt.

Das führt zurück zum Beginn, zum vorurteilsfreien, fantasievollen Blick eines Kindes. Eine auf Äußerlichkeiten und den Wissenserwerb beschränkte Erziehung passt die Fantasie von Kindern an die Welt der Erwachsenen an. Das Ziel sollte es daher sein, uns den unbeschränkten, fantasievollen Blick zu bewahren, der uns zu den Menschen führt, Tag für Tag.