„Innenwelten. Sigmund Freud und die Kunst“ in der Kunsthalle Tübingen

Die Psycholanalyse nach Sigmund Freud wird allen Studierenden der Kunstgeschichte ausführlich erläutert, sie ist fest im Methodenkanon der Universitäten etabliert. Die neue Ausstellung in der Kunsthalle fasst die Auswirkungen von Freuds Forschungen auf die Kunst nicht nur übersichtlich zusammen, sondern wirft auch neue Fragen auf, was zeigt, dass das Thema noch nicht abgearbeitet ist und bis heute fortwirkt.

Edit: Nach Ablauf der Ausstellung mussten die Abbildungen aufgrund der Bildrechte entfernt werden.

Wie kommt Sigmund Freud nach Tübingen?

Beim Pressetermin in der Kunsthalle steht allen Anwesenden vor allem eine Frage in den Augen: Warum gerade „Sigmund Freud und die Kunst“ in der Tübinger Kunsthalle? Nicole Fritz erklärt, dass ihr das Thema schon lange unter den Nägeln brennt und sie es schon 2018 in ihr Vorstellungsgespräch mitgebracht hatte. Doch erst jetzt war der richtige Zeitpunkt gekommen: 2022 hatte sie Kontakt zu Monika Pessler vom Sigmund Freud Museum in Wien aufgenommen. Diese zeigte damals „Sigmund Freud und der Surrealismus“ und war direkt offen für eine Kooperation mit der Tübinger Kunsthalle. Monika Pessler und Nicole Fritz haben daher ihre Netzwerke verbunden und gemeinsam die Ausstellung „Innenwelten“ konzipiert. Teile davon werden nach Ausstellungsende dann auch in Wien im Sigmund Freud Museum gezeigt.

Surrealismus, Expressionismus und Sigmund Freud

Die Ausstellung verfolgt die Kunstrezeption der Theorien von Sigmund Freud im Laufe des 20. und 21. Jahrhunderts. Der erste große Saal ist daher Freuds Zeitgenossen gewidmet. Der Psychoanalytiker selbst interessierte sich vorrangig für Werke der Antike, die seiner Meinung nach Erinnerungen transportierten und diese wecken konnten. Daher spielten Kunstwerke in der psychoanalytischen Praxis eine wichtige Rolle als Gesprächsanlass (was erst kürzlich von Horst Bredekamp ausführlich untersucht wurde). Für viele seiner Zeitgenoss:innen war aber die Auseinandersetzung mit Sigmund Freuds Ideen der Startpunkt zur Selbstentdeckung: Die Surrealisten entwickelten künstlerische Techniken, um das Unterbewusste aufzudecken und Traumbilder dominieren die Bildwerke vieler surrealistischer Künstler:innen. Der Expressionismus entwickelte eine Begeisterung für das psychologisierende Selbstbildnis (hier sieht Nicole Fritz noch großes Forschungspotenzial).

Individueller Affekt und Bilderflut – Sigmund Freud heute

Zu den Freudschen Zeitgenoss:innen gesellt die Kunsthalle ein umfassendes Wandbild von Barbara Breitenfellner, das eigens für die Ausstellung in Tübingen erstellt wurde. Das Werk ist inspiriert von einem Traum über die Ausstellung, entstanden ist eine Traumrauminstallation aus Stäben, die Decke und Boden verbinden sowie Abbildungen aus dem Bildarchiv der Künstlerin. Ausgehend von diesem individuellen und kollektiven Bildmaterial entsteht durch Bearbeitungen wie Ausschneiden und Überkleben eine surreale Bilderwand, die Zufall und Unterbewusstes ans Tageslicht bringt.

Geschlecht und Therapeutisierung der Gesellschaft – die 1970er Jahre und Sigmund Freud

Eine gesteigerte Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse und Therapierformen sehen die Kuratorinnen in der Kunst der 1970er Jahre, denen ein eigener Raum gewidmet wird. Hier wird erstmalig eine Grafik von Joseph Beuys gezeigt: Therapie aus der Sammlng Museum Schloss Moyland verweist auf die Traumatisierung des Künstlers im Zweiten Weltkrieg und verarbeitet die anschließenden Therapieversuche. Das Thema spannt den Bogen zum Gesamtwerk des Künstlers, der eine Therapeutisierung der Gesellschaft forderte und sich intensiv mit Sigmund Freud auseinandersetzte. Gleichzeitig kritisierte er, ähnlich wie andere Künstler:innen der 1970er Jahre, das Bild der „Minderwertigkeit der Frau“, das in den Werken von Sigmund Freud skizziert wird.  Künstlerinnen wie Heidi Bucher setzten sich kritisch mit der gesellschaftlichen Einteilung in männliche und weibliche Räume und Rollen auseinander. In der Ausstellung ist sie mit ihrem Werk Chair, Herrenzimmer von 1979. Sie überzieht den Stuhl eines Raums, der für Männer konzipiert wurde, mit Latex und häutet diesen dann. Die Überreste dieses selbst-ermächtigenden Aktes stellt sie anschließend öffentlich zur Schau.

Sigmund Freud in der Konzeptkunst

Ein Blick in die Kunst der 1990er Jahre zeigt einen konzeptionelleren Umgang mit Freuds Theorien: Die Sprache und Rituale der Psychoanalyse wurden in die Kunstwerke integriert und als Instrumente des Behandlungsverfahrens zum Gegenstand künstlerischer Reflexion.

Sigmund Freud in der Gegenwartskunst

Auch in der Gegenwartskunst sind die Einflüsse der Psychoanalyse nicht zu leugnen. Nicole Fritz und Monika Pessler legen in der Ausstellung den Fokus auf den Begriff des „Unheimlichen“. Sigmund Freud bezeichnete damit eine Gefahr, die im Vertrauten und im Verborgenen lauern konnte. Die Künstler:innen der Gegenwart nutzen den Begriff, um auf verdrängte oder verstörende Aspekte unserer Gesellschaft hinzuweisen. Dabei drehen sich die ausgestellten Werke um verschiedene Arten der Ausgrenzung: Rassismus. Altersdiskriminierung, Einsamkeit, Depressionen und soziale Ausgrenzung.

„Innenwelten. Sigmund Freud und die Kunst“ folgt der künstlerischen Rezeption der Theorien des Psychoanalytikers bis in die Gegenwart. Dabei werden Rezeptionsphänomene schlaglichtartig  beleuchtet und bilden doch einen roten Faden durch die Ausstellung. Die Ausstellung zeigt außerdem, dass die Begrifflichkeiten der Freudschen Theorien Werkzeuge zur Entschlüsselung der heutigen gesellschaftlichen Probleme darstellen können.


Innenwelten. Sigmund Freud und die Kunst
28.10.23 – 3.3.24

Kunsthalle Tübingen
Philosophenweg 76
72076 Tübingen
www.kunsthalle-tuebingen.de
@kunsthalletuebingen