Kunst im alten Güterbahnhof Tübingen: „Natürlich Positioniert“

Dem seit langem leerstehende alte Güterbahnhof in Tübingen wird im Juli neues Leben eingehaucht: Das Team um Künstlerin Hanna Smitmanns konzipierte das internationale Kunstprojekt "Natürlich Positioniert", das nun in einer Ausstellung dort seinen Abschluss findet. Die Werke setzen sich auf ganz unterschiedliche Weise mit dem Klimawandel auseinander. Neben der Bedrohung, den Folgen und den Problemen werden auch Handlungsmöglichkeiten und Utopien präsentiert. Zum Projekt gehört ein umfangreiches Programm mit Vorträgen, Workshops und Veranstaltungen, die für alle Tübinger:innen einen Zugang zum Thema ermöglichen.

„Das Leben auf der Erde kann sich von einem großen Klimawandel erholen, indem Platz für neue Arten und neue Ökosysteme geschaffen werden. Die Menschheit kann das nicht.“

Das ist die Kernaussage des Berichts des Zwischenstaatlichen Ausschusses für Klimaveränderungen IPCC. Die IPCC-Expert:innen betonen, dass sich die bestehenden Klimatrends verschlimmern werden, wenn sich individuelle und kollektive Verhaltensweisen nicht ändern. Die 1-2 °C Temperaturanstieg, vor denen Klimaforscher:innen und Medien schon seit Jahren warnen, sind für viele Menschen aber nicht mehr als eine abstrakte Zahl. Waldbrände, Dürren, Hochwasser und Tornados (jetzt auch in Deutschland) sind sichtbarer und alarmieren. Doch was wir gerade erleben, ist erst der Anfang.

Wie können die Auswirkungen des harmlos klingenden Temperaturanstiegs von 1-2°C sichtbar gemacht werden?

Leider sind die unzähligen Modelle, die die irreversiblen Auswirkungen des Klimawandels erklären, auf der individuellen, ganz persönlichen Ebene kaum vorstellbar. Die katastrophalen Auswirkungen wirken oft weit weg von der eigenen Lebenswelt. Es sind Sachen, die anderen passieren. Ich in Deutschland, Württemberg, Tübingen, bin da doch nicht betroffen. Die zentrale Frage derer, die sich gegen den Klimawandel engagieren, ist daher bis heute: Wie können die Auswirkungen des harmlos klingenden Temperaturanstiegs von 1-2°C sichtbar gemacht werden? Wie kann durch diese Sichtbarmachung Menschen dazu mobilisiert werden, selbst aktiv zu werden? Wenn wissenschaftliche Zahlen und Modelle nicht weiterhelfen, kommt die Kunst ins Spiel.

Äste in einem Geflecht aus Schnüren.
Vicky Semou installierte in der Webstuhl, der von der Künstlerin, aber auch Besucher:innen mit Naturmaterialien befüllt wird. ©Foto: Hanicz.

Kunst kann die wissenschaftlichen Zahlen und Fakten in Bilder, Emotionen, Erfahrungen überführen

Kunst und Wissenschaft, so könnte man sagen, entspringen demselben Streben nach Verständnis der Welt und Gestaltung menschlicher Erfahrungen. Kunst kann die wissenschaftlichen Zahlen und Fakten in Bilder, Emotionen, Erfahrungen überführen, die die Menschen mit ihrer eigenen Lebenswelt verbinden. Die Rolle der Kunst ist daher zentral, um die mit dem Klimawandel verbundenen Herausforderungen zu kommunizieren und für jede und jeden Einzelnen verständlich und handlebar zu machen.

Künstler:innen haben in den vergangenen Jahren verschiedene Übersetzungsmethoden gefunden, um die Klimabedrohung zu vermitteln. Viele Künstler:innen werden selbst aktiv, indem sie sich Protestbewegungen wie beispielsweise Fridays for Future angeschlossen haben und deren Aktionen künstlerisch begleiten. Es haben sich aber auch dezidiert künstlerische Praktiken etabliert, die sich für die Sensibilisierung der Klimakrise besonders gut zu eignen scheinen (wobei die Grenzen natürlich fließend sind und die Methoden sich nicht gegenseitig ausschließen).

Nachhaltige Kunstpraktiken für die Zukunft

Nachhaltige Kunstpraktiken machen nicht nur auf den Klimawandel aufmerksam, sondern machen auch den künstlerischen Prozess klimaneutral: Durch die Verwendung natürlichen Materials, durch den Einsatz recyclebarer Werkstoffe und erneuerbarer Energien, wird ein möglichst kleiner ökologischer Fußabdruck der Werke angestrebt. Oft sind diese Werke ephemär und nur temporär erlebbar. Ein Beispiel, das beide Aspekte vereint, ist Olafur Eliassons „Ice Watch“ (2018): Kleine Figuren aus Eis wurden vor dem Tate Modern aufgestellt, die im Laufe der folgenden Wochen schmolzen.

Blätter hinter Glasscheiben aufgehängt.
Uwe Petruch konserviert in seinem „Herbarium“ Pflanzen, die für den Künstler eine persönliche Bedeutung haben. ©Foto: Hanicz.


Kunst in der Mitte der Gesellschaft

Gemeinschaftsprojekte und partizipative Kunstwerke zeigen nicht nur die Folgen von Klimawandel und Umweltschäden, sondern fordern Besucher:innen zum Mitmachen auf. Indem beispielsweise eigene Erfahrungen mit in die Kunstwerke einfließen, wird unmittelbar zum Handeln aufgefordert. So entsteht ein „Wir-Gefühl“, das deutlich macht, dass es sich dabei nicht um ein Thema der Kunstgeschichte handelt, das in Museum diskutiert wird, sondern um gesamtgesellschaftliche Fragestellungen.

Besonders effektiv, um einen weiten Personenkreis anzusprechen, werden die Kunstwerke aber vor allem dann, wenn sie die gewohnte Sphäre des Museums oder der Galerie verlassen und den Menschen in ihrem eigenen Alltag begegnen. Das Kunstprojekt „Forest of Hope“ von Klaus Littmann sorgte 2019 für Aufmerksamkeit. Hier wurde ein Fußballstadion in Potsdam in einen Wald verwandelt. Die Themen „Verlust natürlicher Lebensräume“, „Waldschutz“ und „Flächenversiegelung“ wurden so in die Lebensrealität vieler Fußballfans geholt. 

„Natürlich Positioniert“ in Tübingen

Auch die Künstler:innen von „Natürlich Positioniert“ wenden diese Methoden an. Frank Fierke, Gabriele Juvan, Hanna Smitmans, Henriette Lempp, die Jatiwangi Art Factory, Jürgen Suhr, Kyle Scheurman, Monika Golla, Silvana Mammone, Uwe Petruch und Viki Semou entreißen das Thema „Klimawandel“ der abstrakten Sphäre und haben ganz eigene Wege gefunden, sie erlebbar zu machen. In der Ausstellung sind dringliche Appelle zu finden und dokumentarische Werke, die konkrete Projekte begleiten. Manche Werke machen auf die erstaunlichen Details in der Natur aufmerksam, andere entnehmen die Natur ihrem gewohnten Kontext und positionieren sie in die Halle des alten Güterbahnhofs – als Ausstellungsstück, dass es so nicht mehr lange geben wird.

Blumen in einem Beet in einer Halle.
Hanna Smitmanns bepflanzt die Halle des Güterbahnhofs mit drei Pflanzfeldern. ©Foto: Hanicz.

Zunehmend werden die Themen Klimakrise, Nachhaltigkeit und Ökologie zu zentralen Themen des institutionalisierten Kunstbetriebs.

Inspirationen der Ausstellung „Natürlich Positioniert“

Die documenta fifteen war eine der letzten großen Kunstausstellungen, die diese Themen in den Mittelpunkt gestellt haben. Unter der Projektleitung des Kollektivs ruangrupa aus Jakarta wurde die documenta zu einem dynamischen Ort der Gemeinschaft und des Austauschs. Statt einer strengen Kuratierung, sollte die Ausstellung Begegnungsstätte zum Austausch von Ideen, Konzepten und Ressourcen werden und setzte sich aus Foren, Lernorten und Treffpunkten zusammen. Alternative Ansätze von Ökonomie, Kollektivität und Nachhaltigkeit sollten so entwickelt und erprobt werden. Für „Natürlich Positioniert“ spielt die documenta fifteen eine besondere Rolle, da einige der initiierenden Künstler:innen dort vertreten waren und beispielsweise der Kontakt zu Jatiwanga Art Factory aus Indonesien dort zustande kam, die nun auch hier in Tübingen vertreten sein kann.

Während die documenta fifteen auf internationalen Austausch setzte und so auf Lösungen suchte, die an verschiedenen Orten weltweit weiterhelfen, setzte die zwei Jahre dauernde Ausstellung „Critical zones“ im ZKM Karlsruhe auf einen anderen Ansatz. Die komplexen Bedrohungen der Klimakrise sollte im Gedankenmodell der „critical zones“ auf überschaubare Bereiche heruntergebrochen und so in besser handhabbare Portionen aufgeteilt werden.

Raupen auf Blättern.
Raupenlarven aus dem Listhof Reutlingen lassen sich in der in der Ausstellung beobachten. ©Foto: Hanicz.

Die Ausstellung des Kunstprojekts „Natürlich Positioniert“ findet sich zwischen beiden Modellen wieder: Über die Verbindung zur Jatiwanga Art Factory und Kyle Scheurmann nach Indonesien und Kanada, setzt sie sich in den Kontext der internationalen Bemühungen gegen den Klimawandel. Einzelne Handlungsweisen sind dabei auch importierbar und können vor Ort als Vorbild dienen. Denn im Mittelpunkt steht die Critical Zone Tübingen (der Begriff wird hier etwas über seine ursprüngliche Verwendung hinaus ausgeweitet).

Das Begleitprogramm als Aktivierungsprogramm

Das Aktivierungsprogramm, ebenfalls aus dem Sprachrepertoire der Ausstellung im ZKM entnommen und passender als „Begleitprogramm“, ist umfangreich: Vorträge, Workshops, Performances, Kooperationen mit Schulen, Student:innen der Universität Tübingen und das anstehende Nachbarschaftsfest rufen zur Interaktion auf. Beschäftigt euch mit den Klimaproblemen vor eurer Haustür!

Was können wir selbst tun? Wie können wir im Kleinen auf die Klimakrise aufmerksam machen und entschlossen gegen sie antreten? Eine Antwort lautet: Durch die gemeinsame Beschäftigung mit den Werken, die partizipation an den Veranstaltungen, aber auch durch die entstehenden Gespräche und Netzwerke im Projekt „Natürlich Positioniert“.

Wichtige Informationen:
„Natürlich Positioniert“ im alten Güterbahnhof Tübingen
Eisenbahnstr. 21
Öffnungszeiten: Do, Fr 16-19 Uhr / Sa, So 14-18 Uhr
Eintritt frei

Das Programm findet ihr unter Natürlich Positioniert – Künstlerische Auseinadersetzung mit Natur und Klima – Tübingen 2023
und auf Instagram @natuerlichpositioniert