Alphabet der Künstler:innen – Buchstabe B

Neugierig, welche Schätze die Graphische Sammlung Tübingens noch beherbergt? Die Reihe Alphabet der Künstler:innen anlässlich des 125-jährigen Jubiläums der Graphischen Sammlung Tübingens geht weiter mit dem Buchstaben B.

Anlässlich des 125-jährigen Jubiläums der Graphischen Sammlung Tübingens geht das Alphabet der Künstler:innen mit dem Buchstaben B in die zweite Runde. Die Auswahl fiel diesmal auf Kupferstiche von Jacques-Firmin Beauvarlet und Nicolas Beatrizet. Die Reproduktionsgrafiken handeln von Nymphen und Flussgöttern. Allgemein werden Themen der Antike behandelt und rezipiert. 

Jacques-Firmin Beauvarlet nach Jean Raoux: Telemach auf der Insel der Kalypso, ca. 1790, Kupferstich, 410 x 554 mm, Graphische Sammlung Tübingen. Foto: Sophie Godzik.

Beauvarlet, Jacques-Firmin

BEAUVARLET, Jacques-Firmin war ein französischer Kupferstecher und Verleger des 18. Jahrhunderts, geboren 1731 in Abbeville und verstorben 1797 in Paris. In frühen Lebensjahren zog er in die Hauptstadt Frankreichs und erlernte dort bei Charles Dupuis und Laurent Cars das Kunsthandwerk. Schon zu Lebzeiten erfreuten sich seine Werke großer Beliebtheit durch Kenner und Sammler.

Telemach auf der Insel der Kalypso

Zwischen filigranem Blätterwerk sitzt in edlen Gewändern eine belebte Gesellschaft, deren Hauptfiguren in ein Gespräch vertieft zu sein scheinen. Die hier vorliegende Kupferstich „Telemach auf der Insel der Kalypso“ aus der Graphischen Sammlung Tübingen zeigt eine Szene aus dem Sagenkreis der „Odyssee“ nach Homer. Es handelt sich um einen 1790 entstandenen Reproduktionsstich nach dem gleichnamigen Ölgemälde von Jean Raoux aus dem Jahre 1722, das den griechischen Mythos des Telemach (oder auch Telemachos) wiedergibt. Schiffbrüchig landet der Sohn des Odysseus und der Penelope auf der Insel der Kalypso, einer Nymphe, der er seine Geschichte erzählt.

In Szene gesetzt

Das Werk zeigt eine klassizistische Strenge im Bildaufbau, die in der durchkomponierten Landschaft wiedererkennbar ist. Der Bildraum erscheint bühnenhaft konzipiert, der Augenblick und die Figurenkonstellation werden zur „Aufführung“ gebracht. Einen Halbkreis bildend, sitzen die sieben Hauptfiguren wie auf einem Schauplatz inmitten der Natur, eingerahmt von Bäumen und Felsen. Sie sind vor dem Eingang zur Grotte versammelt, in die den Betrachtenden am linken Bildrand noch Einblick gewährt wird. Darin zu sehen sind Nymphen, die mit der Vorbereitung von Festlichkeiten zur Ankunft Telemachs beschäftigt sind. Auf der anderen Seite im Hintergrund bietet eine Öffnung des Waldes einen Blick auf ein sinkendes Schiff im Meer. Im Zentrum der Darstellung hat sich Kalypso auf ihrem Thron niedergelassen, der mit einem weichen Fell überworfen ist. Ihr gegenüber sitzt Telemach, der seinen Unterarm auf den Schenkel gestützt hat. Er wird den Betrachtenden mit wallend lockigem Haar und einem an den Schultern gebundenen Gewand präsentiert. Energisch vorgebeugt und mit Blick auf Kalypso gerichtet, befindet er sich in der Erzählung. Zu seiner Linken lauscht ihm gebannt die Gestalt des Mentors. Ebenfalls von den Geschichten gefesselt, sitzt Eucharis hinter Kalypso, einen Köcher mit den Pfeilen Amors in den Händen, als Symbol für ihre künftige Leidenschaft. Es wird damit auf den späteren Verlauf des Mythos verwiesen. Kalypso findet Gefallen an Telemach, doch wird dieser nur Augen für die schöne Eucharis haben.  

Telemach – ein Hype im 18. Jahrhundert

Die „Telemachie“, die die Reise des Telemachos beschreibt, setzt sich aus den ersten vier Gesängen der „Odyssee“ Homers zusammen und war ein bekannter Teil dieser. Dennoch wurden die Telemach-Episoden meist nur als Nebenhandlung aufgefasst. Künstlerische Schöpfungen, basierend auf dieser Thematik, lassen sich insbesondere ans Ende des 17. und zu Beginn des 18. Jahrhunderts datieren. In dieser Zeit waren Nacherzählungen und Übersetzungen der Homer-Texte in Frankreich und England weit verbreitet, darunter auch die 1699 erschienene Nachdichtung von Francois Fénelon, die unter dem Titel „Die Abenteuer des Telemach, Sohn des Odysseus“, herausgegeben wurde. Es handelt sich hier um ein didaktisch-fiktionales Werk, in dem sich Fénelon durch die Form der „epischen Prosa“ dem antiken Stil annäherte und die moralische Bedeutung der „Odyssee“ mit aufklärerischen Idealen verband. Als viel gelesenes Jugendbuch des 18. und 19. Jahrhunderts gilt es als eine wichtige Publikation der beginnenden Aufklärung. Der Text kann als Fortsetzung des vierten Gesangs der „Odyssee“ gesehen werden und erzählt die Reise des jungen Telemach, der sich nach dem Ende des Trojanischen Kriegs auf die Suche nach seinem Vater machte. Der hier gezeigte Stich hat den Text des Fénelon zur Grundlage, bei dem der Beginn der Handlung nach dem Schiffbruch des Telemach in Szene gesetzt wird.

Das literarische Werk Fénelons traf den Geschmack der Zeitgenossen und steigerte gleichzeitig das Interesse an Homers Epen. Die Beliebtheit ging zudem über die Literatur hinaus und führte unter anderem in der bildenden Kunst zu einem ikonographischen Repertoire, das sowohl authentische Themen der Homerischen Epen als auch der Homer-Nachahmungen verarbeitete. Die Auseinandersetzung mit der Geschichte Telemachs, der sich auf die Suche nach seinem Vater machte, lässt sich auch als Neuerfindung und Anschluss an die bestehenden Bildtraditionen rund um die Epen Homers interpretieren.

Eine Druckgrafik wie gemalt

Künstlerische Umsetzungen von Dichtung gehörten zur Historienmalerei und erfuhren in Frankreich seit der Mitte des 18. Jahrhunderts eine öffentliche Förderung. Die Reproduktionsgrafik Beauvarlets blieb von diesem Hype nicht ausgeschlossen. Die Vielzahl seiner Kunstliebhaber:innen waren bereit, hohe Preise für seine Kupferstiche zu zahlen. Ein Grund dafür kann seine anspruchsvolle künstlerische Manier sein, die von einem feinen und malerischen Stil geprägt ist. In herausragender Weise schafft er es, durch feinste Schraffuren die Szene des Telemach und der Kalypso auf die Kupferplatte zu bringen. Die Gewänder der Figuren glänzen in seidiger Materialität und weisen unterschiedliche Tonalitäten auf. Das Fell auf dem Thron der Kalypso erscheint so weich, als könnte man es zwischen den Fingern spüren. Mithilfe präziser Lichtführung liegt der Fokus auf der Figurengruppe und doch ist jedes einzelne Blatt der Büsche und Bäume im Schatten des Hintergrunds genauestens ausgearbeitet. Das hier gezeigte künstlerische Können Beauvarlets ist Grund dafür, dass das vorliegende Blatt, das in der Tübinger Graphischen Sammlung Tübingen betrachtet werden kann, zu den qualitätsvollsten Werken des Druckgrafikers gezählt wird.

Nicolas Beatrizet: Der Nil (Speculum Romanae Magnificentiae), Mitte 16. Jh., Kupferstich, Platte: 46,5 x 53,5 cm, Blatt: 33 x 53,5 cm, Graphische Sammlung, Tübingen. Foto: Sophie Godzik.

Beatrizet, Nicolas

BEATRIZET, Nicolas war ein französischer Kupferstecher des 16. Jahrhunderts. Geboren zwischen 1507 und 1515 in Thionville (Lunéville), ist wenig über Beatrizets Ausbildung und Werdegang in Rom bekannt, wo er letztendlich auch nach 1577 starb. Möglicherweise war er Antoine Lafréry – ebenfalls ein französischer Kupferstecher und Verleger, mit dem Beatrizet später auch eng zusammenarbeitete – nach Rom gefolgt. Allerdings sind Lafrérys Tätigkeiten erst 1542 in Rom nachzuweisen, wohingegen Beatrizets erstes Werk in Rom auf 1540 datiert werden kann. Die Vermutung liegt nahe, dass Beatrizet sich um 1558 als Drucker und Verleger selbstständig gemacht hat. Aufgrund des Erfolgs seiner Druckgraphiken wurden seine Stiche häufig kopiert und auch nach seinem Tod wiederaufgelegt.

Beatrizet bewunderte die Werke italienischer Künstler wie beispielsweise diejenigen Marcantonio Raimondis und Marco Dentes sowie deren Kreise, setzt sich mit diesen auseinander und beginnt Kopien ihrer Objekte anzufertigen. Er arbeitete ebenfalls nach Vorlagen weiterer zahlreicher Künstler, unter anderem Giotto, Tizian und Bandinelli. Zusätzlich war er für verschiedene Verleger tätig (u.a. Antonio Salamanca, Tomasso Barlacchi, Antoine Lafréry) und war auch beteiligt an zahlreichen Buchillustrationen, wie beispielsweise bei Trattato di scientia d’arme (Camillo Agrippa, 1553); Compendio de la Anatomia (Juan de Valverda, 1556) oder L’Aquatilium Animalium Historiae, Liber primus (Ippolito Salviani, 1557).

Speculum Romanae Magnificentiae

Unter dem Speculum Romanae Magnificentiae (Der Spiegel der römischen Pracht) versteht man Sammlungen verschiedener Drucke, die Antoine Lafrérys in Zusammenarbeit mit dem Verleger Antonio Salamanca publizierte. Die Kollektionen wurden jedoch erst unter diesem Namen bekannt, als Lafréry Mitte der 1570er ein Titelblatt veröffentlichte, mit dem die Bürger das Sammeln erst begannen. Nachdem Lafréry in Rom ankam, fing er an dort neben Karten noch weitere Druckwerke zu publizieren, die wichtige Altertümer und Monumente in Rom darstellen. Diese Bilder entsprachen dem zeitgenössischen Geschmack der Vorliebe zur klassischen Antike. Sammler:innen und Tourist:innen ließen sich eine individuelle Auswahl zusammenstellen und schließlich, dem eigenen Bedarf nach, binden. Lafrérys Beitrag stieß eine Welle von Kompilations- und Sammlungsvorhaben an, wodurch ─ ausgehend vom Titelblatt ─ umfangreiche Zusammenstellungen über Generationen von Sammlern entstanden sind.

Der Nil

Bei dem vorliegenden Stich handelt es sich um eine Reproduktionsgrafik einer Marmorskulptur, welche 1512 in Campo Marzio gefunden worden war. Zu sehen ist hier eine nackte männliche Figur, die seitlich auf einem Wasser imitierenden Boden liegt. Der Oberkörper dreht sich dabei den Betrachtenden entgegen, während der Kopf zur Seite blickt. Erkennbar hält die Figur in ihrer Linken ein reiches Füllhorn. Bei der liegenden Figur handelt es sich um die Verkörperung des Nil, auch zu erkennen an der Sphinx (stellvertretend für Ägypten) und den 16 kleinen, fragmentierten und in der Literatur als Putten beschriebenen Figuren sowie Krokodilsdarstellungen. Die 16 kleinen Figuren symbolisieren hierbei die 16 Ellen Wasser, um die der Nil jährlich zur Flut ansteigt. Während bei der antiken Skulptur der Sockel der Statue mit einer Nillandschaft gekennzeichnet ist, in welcher sich Pygmäen, Nilpferde und Krokodile befinden, gibt der Kupferstich hier ein dynamisches Muster aus Linien wieder, das den Strom des Flusses verdeutlichen soll und den Nil liegend auf einem Flussbett zeigt. Da die Rundumsicht bei einem Kupferstich nicht gewährleistet werden kann, finden sich die Tier- und Pflanzendarstellungen, die sich bei der Skulptur auf dem Sockel befinden, in einem bordürenähnlichen Rahmen wieder. Im oberen linken Bildbereich befindet sich eine Bildinschrift, die sowohl durch die Menge des angegebenen Textes als auch durch die typografische Aufbereitung staunen lässt: So ist der in lateinischen Majuskeln gefasste Text nicht in einem Block gesetzt, sondern bildet eine Form, die an antike Gefäßformen erinnert. Inhaltlich behandeln die Zeilen die Fruchtbarkeit des Landes.

Personifizierte Flussgottheiten

Die Druckgraphik des personifizierten Flusses wurde nach einer Statue gefertigt, die im frühen 16. Jahrhundert in den vatikanischen Statuenhof gelangte und durch Papst Leo X. präsentiert wurde. Die Statue des Nil wurde zusammen mit der Statue des Tiber auf massiven Plinthen platziert: So wurden beide Werke in gleicher Ausrichtung gegenüber voneinander aufgestellt, wie auch in einer Zeichnung von Maarten van Heemskerck, die sich heute im British Museum befindet, festgehalten wurde. Die Darstellungen der verkörperten Flüsse, wie des Tiber oder des Nil, führten zu einem allgemeinen Verständnis des antiken Typs und halfen in einer Zeit, in der einer wissenschaftlichen Erforschung der Natur stärker nachgegangen und in Drucken auch veröffentlicht wurde, bei der Identifikation anderer Statuen. Die Wiedergabe von personifizierten und handelnden Flussgöttern bei Brunnen, Triumphzügen oder Festen erreichte in der politischen Propaganda der Zeit große Popularität. Die Schutzherren der Künstler entdeckten hier das Potenzial der Figuren, als Träger politischer Botschaften zu fungieren. Im 16. Jahrhundert wurden die Darstellungen von Flussgöttern also gerne verwendet als Projektionsflächen künstlerischer Kreativität, besonders aber auch für die Visualisierung naturphilosophischen Wissens oder politischer Hegemonien.

Die Antike durch die Augen der Zeitgenossen

Betrachten wir die beiden Druckgraphiken nun noch einmal abschließend, so lassen sich neben der gemeinsamen Technik des Kupferstichs noch weitere Parallelen ziehen: So handelt es sich bei beiden Blättern um druckgraphische Reproduktionen bereits vorhandener Kunstwerke und beide befassen sich mit der Antike. Obwohl die Blätter einen zeitlichen Abstand von knapp 250 Jahren haben, wird der griechischen oder römischen Antike noch immer eine große Wertschätzung der Zeitgenossen entgegengebracht. Dem zeitgenössischen Stil entsprechend werden bei der Verkörperung des Flussgottes antikisierende Elemente und Formen verwendet, mit denen neben dem Wissen über die Antike auch aktuelle naturphilosophische Erkenntnisse und politische Diskurse kommuniziert werden. Der spätere Kupferstich, der eine Szene aus dem homerischen Sagenkreis wiedergibt, ist hingegen im Kontext der europäischen Aufklärung zu situieren, welche die griechische Antike als vorbildhaft erkannte. Besonders spannend fanden wir bei diesen beiden Graphiken, dass sie beide jeweils das Motiv oder die Verkörperung einer Naturgottheit ─ sei es ein Flussgott oder eine Nymphe ─ aufgreifen, wenn auch mit unterschiedlichen Rollen und Funktionen.

Die Grafiken spiegeln ihren jeweiligen Zeitgeschmack wider, doch können sich auch heutige Betrachtende bei einem Besuch in der Graphischen Sammlung am Kunsthistorischen Institut noch an ihnen erfreuen.

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