Alphabet der Künstler:innen – A 

Zum 125-jährigen Jubiläum der Graphischen Sammlung in Tübingen werden von nun an unter dem Titel „Alphabet der Künstler:innen“ Graphiken und Künstler:innen der Sammlung nach und nach vorgestellt. Den Anfang machen Pietro Aquila und Jean Jacques Avril.

Als Teil des Museums der Universität Tübingen und angesiedelt im sogenannten „Bonatzbau“ der Universitätsbibliothek, stellt die Graphische Sammlung am Kunsthistorischen Institut eine Besonderheit dar. Sie zählt zu den ältesten und umfangreichsten Universitätssammlungen dieser Art in Deutschland. Studierende und Dozierende, aber auch interessierte Privatpersonen haben die Möglichkeit, die Graphische Sammlung und ihre Ausstellungen zu besuchen und sich nach Absprache Teile der Graphikbestände zur Ansicht im Studiensaal vorlegen zu lassen. 

Die Gründung 1897 und die Anfänge der Graphischen Sammlung sind mit Konrad Lange (1855–1925) – dem ersten Ordinarius für Kunstgeschichte an der Universität Tübingen – verknüpft. Mit dem Erwerb aus dem ehemaligen Königlichen Kupferstichkabinett in Stuttgart legte er den Grundstock mit europäischer Druckgraphik des 16. bis 19. Jahrhunderts an. Eine große Rolle bei der Erweiterung der Bestände spielen ebenfalls gezielte Erwerbungen und Stiftungen von Einzelblättern, aber auch Schenkungen oder Übernahmen bedeutender Privatsammlungen – wie beispielsweise diejenige von Freiherr Otto von Breitschwert (1910), die Stiftung Max Kade aus New York (1965) oder die Sammlung von Hedwig und Gustav Adolf Rieth (1987 und 1990/91).  

Zum Ausbau des Bestandes trägt bis heute auch die Tübinger Kunstgeschichtliche Gesellschaft e.V. (TKG) regelmäßig mit einzelnen Werken bei. 1998 wurde das komplette Werk der Radierungen von Harald Naegeli, des „Sprayers von Zürich“, als Stiftung des Künstlers in den Bestand integriert. Die Graphische Sammlung bietet damit eine Bandbreite an Graphiken aus mehreren Jahrhunderten, beginnend beim späten 15. Jahrhundert bis zur zeitgenössischen Kunst, die es zu entdecken gibt.

Der Studiensaal der Graphischen Sammlung birgt seinen eigenen Charme: Denn neben den in der jeweiligen Ausstellung präsentierten Werken wird noch immer ein Teil der Sammlung in den von Johannes Klinckerfuß klassizistischen geschaffenen Graphikschränken von 1810 aus dem Königlichen Kupferstichkabinett aufbewahrt.

Das 125-jährige Jubiläum der Graphischen Sammlung im Jahre 2022, hat unsere Autorinnen Sophie und Sina dazu motiviert, in den Schubladen der Graphischen Sammlung zu stöbern. Unter dem Titel „Alphabet der Künstler:innen“ werden sie in dieser neuen Reihe jeweils einzelne Künstler:innen und eine Graphik betrachten. Sofernmöglich,werden die Autorinnen zu jedem Buchstaben einen Künstler oder eine Künstlerin heraussuchen, die Werke in kurzen Texten betrachten und sie in Verbindung zueinander setzen.

An dieser Stelle gilt ein besonderer Dank Dr. Ariane Koller, Kustodin der Graphischen Sammlung, die die Autorinnen bei diesem Vorhaben unterstützt. 

Den Start machen Pietro Aquila und Jean Jacques Avril. Nicht nur durch das Thema der Darstellung von Gewalt im Rahmen einer mythologischen Szene sind die Graphiken miteinander verbunden, sondern auch durch ihre Funktion als Reproduktionsgraphik. 

Buchstabe A 

Pietro Aquila: Perseus köpft die Medusa, 1674–1692, Kupferstich, 495 x 275 cm (Graphik), © Graphische Sammlung Tübingen. Foto: Sophie Godzik. 

Aquila, Pietro

AQUILA, Pietro war ein italienischer Kunstschaffender des 17. Jahrhunderts. Die genauen Lebensdaten sind unbekannt, lassen sich aber mit der Geburt zwischen 1630–1650 und dem Tod um ca. 1692 datieren. Während über seine künstlerische Ausbildung und Aufenthalte fast nichts bekannt ist, so weiß man, dass er ein Studium der Theologie bis zu einer abschließenden Priesterweihe verfolgte. Dieser beruflichen Laufbahn scheint er jedoch zu Gunsten der Künste gänzlich zu entsagt zu haben. Auch wenn er mit einzelnen Malereien in Verbindung gebracht wird, so ist er doch überwiegend durch druckgraphische Reproduktionen der Werke von Annibale Carracci, Carlo Maratti, Pietro Berrettini (auch bekannt unter Pietro da Cortona) oder Giovanni Lanfranco und anderer bekannt. Das hier vorliegende Blatt „Perseus köpft die Medusa“ (1674–1692) aus der Tübinger Graphischen Sammlung zeigt die Enthauptung Medusas durch den griechischen Helden Perseus in einem Halbtondo. Die Graphik weist keine genaue Datierung auf und wurde von Pietro Aquila laut der Inschrift auf dem Blatt nach den Fresken von Annibale Carracci im Palazzo Farnese gefertigt.

Der Auftrag Polydektes 

Polydektes – welcher zur Missgunst Perseusʼ hartnäckig um dessen Mutter und Prinzessin Danaë wirbt – fordert den griechischen Heros mit der Aufgabe heraus, ihm das Haupt der einzig sterblichen Gorgone Medusa zu bringen. Da durch die Begegnung mit Medusa schon viele zugrunde gegangen waren, wollte Polydektes mit dieser hinterlistigen Aufgabe seinen Nebenbuhler aus dem Weg schaffen.  

Athene, Hermes und Nymphen unterstützen 

Den mythologischen Quellen nach macht sich Perseus zwar alleine, aber mit unterstützenden Objekten von Athene, Hermes und den Nymphen auf den Weg. In der Darstellung von Aquila wird der Held jedoch direkt von den griechischen Göttern begleitet. Athene, durch die Perseus in Erfahrung bringt, wie Medusa zu töten sei, steht ihm hier nicht nur mit Rat, sondern mit direkter Tat zur Seite und hält für ihn den spiegelnden Schild, durch den die Bezwingung Medusas erst ermöglicht wird. Als Ratgeber ist hinter Perseus und Athene der Götterbote Hermes zu sehen, der dem Helden für diese Aufgabe ein Paar Flügelschuhe überließ. Auch die Tarnkappe der Nymphen, die das Anschleichen an die schlafenden Gorgonen ermöglicht, ist auf Perseusʼ Haupt zu erkennen. Mit dem Schwert in der Hand ist der Heros im Begriff, die hinterhältige Aufgabe des Polydektes zur Beschaffung des Medusenhauptes erfolgreich zu erfüllen.  

Die Darstellung wird von lateinischen Epigrammen in Form von drei Zweizweilern am unteren Bildrand begleitet. In kurzen Versen schildern sie die Geschichte von Perseusʼ Gorgonenabenteuer und schließen mit einer moralischen Mahnung an die sterblichen Betrachtenden ab. Unterhalb der erzählenden Epigramme legen Inschriften die Beteiligten am Entstehungsprozess der Graphik dar. Dabei erscheinen von links nach rechts Annibale Carracci als Urheber des gemalten Werkes im Palazzo Farnese, Jacobus de Rubeis als Verleger mit päpstlichem Privileg und schließlich Pietro Aquila als Zeichner und Kupferstecher sowie die Ziffer 7 am rechten Bildrand, die das Werk als siebtes Blatt der vierzehnteiligen Serien IMAGINES FARNESIANI CVBICVLI definiert. 

Hat Aquila nach Fresken Caraccis gearbeitet? 

Kurios ist dennoch die Zuschreibung des gemalten Werkes von Pietro Aquila an Annibale Carracci: Auch wenn Carracci ein umfangreiches Bildprogramm, in dem unter anderem Perseus erscheint, für die Galleria Farnese entwarf und umsetzte, so ist in der Forschung zu dem Bildzyklus lediglich von Perseusʼ Rückkehr von dem Gorgonenabenteuer und mit abgetrenntem Medusenhaupt die Rede.4 Hier stellt sich also die Frage: Hat Aquila in seinen Stichen wirklich nach Fresken Carraccis gearbeitet oder diese Angabe nur genutzt, um die Nachfrage nach seinen eigenen Werke zu steigern? 

Jean Jacques Avril d.Ä.: Die Folgen des Kriegs, Mars zieht in den Krieg, 1744, Kupferstich, 610 x 467 mm (Blatt); 499 x 346 cm (Graphik), © Graphische Sammlung Tübingen. Foto: Sophie Godzik. 

Avril, Jean Jaques

AVRIL, Jean Jacques „der Ältere“, ein französischer Kupferstecher des 18. Jahrhunderts, wurde 1744 in Paris geboren und erlernte sein Handwerk als Schüler des Künstlers Johan Georg Wille. Von seinem Œuvre sind heute etwa 540 Werke bekannt, darunter einige großformatige Reproduktionen nach Peter Paul Rubens, zu welchen auch das hier vorliegende Blatt aus der Tübinger Graphischen Sammlung gehört. Der Kupferstich „Die Folgen des Krieges, Mars zieht in den Krieg“ aus dem Jahre 1778 wurde dem gleichnamigen Ölgemälde von Rubens im Palazzo Pitti gestochen und zeigt ein Bildthema aus der antik-römischen Mythologie. 

Mars im Mittelpunkt

Dramatisch und dynamisch wird den Betrachtenden die Figurengruppe präsentiert. Aus dem Tempel des Janus – der zu Friedenszeiten nach römischer Sitte geschlossen blieb – stürmt der Protagonist Mars mit Schwert und Schild bewaffnet hervor. Die von mehreren Putten umdrängte Venus hält seinen linken Arm umklammert. Sie versucht Mars zurückzuhalten, doch von ihr gänzlich unbeeindruckt wird er zugleich durch die Furie Alekto fortgezogen, die von den als Ungeheuer dargestellten Personifikationen und untrennbaren Begleitern des Krieges Pest und Hungersnot umgeben ist. Weitere Leiden werden veranschaulicht durch eine am Boden liegende weibliche Figur mit zerbrochener Laute, eine Mutter mit Kind und einen auf den Rücken gestürzten Baumeister. Diese sollen die Unvereinbarkeit des Krieges mit der Harmonie, die Beeinträchtigung von Fruchtbarkeit und elterlicher Liebe sowie die Zerstörung der Städte durch Waffengewalt verkörpern.5 Das aufgeschlagene Buch am unteren Bildrand zeigt, dass die Wissenschaften und schönen Künste buchstäblich „mit Füßen getreten werden“. Eine Dame im dunklen Gewand und mit zerrissenem Schleier wirft am Rande des Geschehens mit schmerzerfülltem Blick ihre Arme in die Höhe. Hierbei handelt es sich um eine Darstellung der unglücklichen Europa, die Raub, Schmach und Elend erleiden muss. Ihr Attribut, ein Globus, wird von einem kleinen Putto am rechten Bildrand getragen, dessen kühl starrender Blick die Betrachtenden durchbohrt. Die lateinischen Epigramme verweisen auf Rubens als Urheber des Originals und auf Avril als Kupferstecher des Blattes. Durch die Bildunterschrift „Mars va à la Guerre“ erschließt sich die Thematik des Dargestellten.  

Druckgrafik und Malerei im Wettstreit? 

Sowohl Avril als auch Aquila modellieren die Figurengruppen mithilfe feinster, in die Kupferplatte gestochener Schraffuren, wobei das Streben nach einer äußerst malerischen Ausdrucksweise deutlich erkennbar ist. In Kombination mit dem großen Format der Blätter wird somit der Anspruch auf Gleichwertigkeit mit dem Gemälde erhoben, nicht zuletzt um den Absatz auf dem Kunstmarkt zu steigern. Damit werden anhand der beiden vorgestellten Blätter verschiedene Möglichkeiten der Vermarktung von Reproduktionsgraphiken aufgezeigt: Werbung durch die Anlehnung an einen bekannten Künstlernamen, hier Carracci, und das Ausreizen der technischen Möglichkeiten, um sich der Gattung der Malerei anzunähern.  

Über Krieg und Gewalt 

Besonders beeindruckt hat uns die in beiden Graphiken dominante Darstellung von Gewalt. Innerhalb der antiken Mythologie treffen wir unterschiedliche Bewertungen dieser Thematik an: Heroische Taten stehen der zerstörerischen Kraft des Krieges gegenüber. Im Werk Aquilas sehen wir Gewalt als Mittel zur Erlangung von Ruhm und zum Schutz anderer; Avril verweist durch die dramatische Szene auf die negativen Folgen von Krieg und Gewalt, wodurch das Werk auch in der heutigen weltpolitischen Situation neue Aktualität erlangt. 

Literatur

Aquila:

Avril: