Einfache Grundformen und Farbfelder füllen die ausnahmslos quadratischen Blätter von Susanne Reusch-Schweitzer, die noch bis zum 29. Oktober unter dem Titel „Farben des Lebens“ in der Citykirche Reutlingen zu sehen sind. Sie fügen sich zu ungegenständlichen Kompositionen, wobei gerade das Unterbewusstsein angesprochen wird. Denn unser Verstand kann sich eben nicht an einem konkreten Gegenstand orientieren, sondern wird ausschließlich mit Farbe und Form konfrontiert.
Wir werden allein gelassen mit unserer Wahrnehmung und die fast schon instinktive Suche nach einer ablesbaren Bedeutung bleibt natürlich erfolglos. In einem Briefwechsel von 1987, formulierte ein Betrachter von Susanne Reusch-Schweitzers Bildern dazu sehr passend: „Der fehlende Gegenstand ist wie ein versteckter Schlüssel: Die Tür zum Verständnis bleibt für viele Menschen verschlossen.“
Als ich das las kam ich selbst ein wenig ins Grübeln, denn wo finden wir als Betrachter dann den Schlüssel? Wo müssen wir suchen? Ich glaube die Schwierigkeit liegt vielmehr darin, dass wir überhaupt nach einem Schlüssel suchen, bevor wir uns dir Tür genauer anschauen… vielleicht ist sie ja gar nicht verschlossen?
Der inneren Bewegung Ausdruck verleihen
So gesehen fordern uns diese Bilder ganz explizit dazu auf, der reinen Wahrnehmung eine Stimme zu geben und ihr einfach mal zuzuhören: Welche Farbkombinationen packen mein Auge oder welche übergehe ich einfach und warum? Lösen die Farbkontraste in mir ein Wohlgefallen aus oder stoßen sie mich eher ab? Dabei entsteht letztlich ein Dialog, der vielmehr über den Betrachter aussagt als über das Bild selbst. Und diesen Prozess findet Susanne Reusch-Schweitzer auch besonders spannend. Denn die Stimmungen, die sich beim Betrachter ergeben, müssen eben nicht dieselben sein, die sie beim Malen im Blick hatte.
So wie wir uns mit dem eigenen Unterbewusstsein befassen müssen, entstehen auch ihre Werke als Ergebnis von Bewegungen – im tatsächlichen körperlichen Sinne aber vielmehr noch im gedanklichen Fließen. Sie selbst beschrieb ihren Malprozess am 20. September 1995 mit folgenden Worten:
„Ich setze ein Zeichen, gebe dem Gestalt, was jetzt gerade in mir ist und versuche das Einfache zuzulassen: die Urform. Es kann Mühe machen, auf den Grund zu kommen, der inneren Bewegung Ausdruck zu verleihen. Da ist es gut, dass ich zwei Arme habe“.
Diese „innere Bewegung“ ans Licht zu locken bedarf großer Konzentration bei ebenso großer Lockerheit – Und das sieht man auch an den Bildern. Es sind Kompositionen aus mehr oder weniger geometrischen Farbflächen, wobei es aber nicht um Geometrie geht. Ganz bewusst lässt sie die Ränder ausfransen und versucht keine exakten Linien zu ziehen. Ihre Rechtecke und Kreise sind eher Skizzen von Geometrie, aber gerade darin liegt auch ihre Lebendigkeit.
Mutige Farben des Lebens
Immer wieder scheinen Farben hindurch und überlagern sich, was den Blättern in ihrer Betonung auf Fläche gleichzeitig Tief und Räumlichkeit verleiht. Es sind eben nicht nur monochrome Flächen, sondern beim genauen Hinsehen erkennt man die dynamischen Pinselzüge.
So wie die Flächen also in einer Art Spannung zueinander stehen, ist es auch bei den gewählten Farben der Fall. Das sieht man übrigens sehr beispielhaft an der titelgebenden Arbeit „Farben des Lebens“: Magenta trifft hier auf Orange – eine Kombination, für die man in gewisser Weise Mut braucht, denn die beiden Farbtöne stehen eher in Konkurrenz zueinander, als dass sie harmonieren. Etwas, das mir Susanne bei unserem ersten Treffen sagte passt dazu ganz bezeichnend.
Ich fragte sie, was sie selbst an ihrer künstlerischen Entwicklung in den letzten Jahrzenten feststellen kann und da meinte sie, dass sie diese heutigen Bilder natürlich nicht vor 30 Jahren hätte malen können. Als ich sie dann wiederum fragte „warum“ kam nach einer kurzen Pause die, wie ich finde, sehr beeindruckende Aussage: weil man dazu Mut braucht.
Wechselwirkungen des Alltäglichen
Neben Orange und Magenta tauchen immer wieder auch ruhige, in sich gekehrte Kompositionen auf; daneben aber ebenso starke Kontraste und Komplementärkontraste – also Farben, die einen größtmöglichen Kontrast bilden wie Rot und Grün oder Gelb-Orange und Blau. Auch das vermeintliche Schwarz ist immer eine Mischung aus Komplementärfarben. Aber was genau ist an Komplementärfarben jetzt so besonders?
Tatsächlich steigern sich gerade diese größtmöglichen Kontraste gegenseitig zu höchster Leuchtkraft – was wiederum zum Ausstellungstitel passt: Die komplexen Spannungen und Harmonien der Farben spiegeln so gesehen Zusammenhänge und Wechselwirkungen des Alltäglichen, es sind eben „Farben des Lebens“.
Die Bildtitel findet Susanne Reusch-Schweitzer übrigens erst nach der Fertigstellung, somit ist der Titel an der Ästhetik des Bildes angelehnt und nicht anders herum. Sie wurden eben nicht nach einer konkreten Idee geformt, sondern nähern sich im Malprozess einer inneren Stimmung an – und dieser Prozess ist unheimlich schwer – wenn überhaupt – in Worte zu fassen.
Es beschreibt letztlich die Beteiligung des eigenen Unterbewusstseins und hier ist jahrelanges, sogar jahrzehntelanges körperliches Wissen vorhanden. Auf das haben wir zwar keinen direkten gedanklichen Zugriff mehr, es offenbart sich aber in einem intuitiven Zustand, gerade durch Bewegung. So lassen sich, wie ich finde, auch die schwungvollen und eben nicht penibel ausgemessenen Farbfelder besser verstehen.
Die Gouache als Technik zwischen Harmonie und Spannung
Farbe und Form stehen also in einem spannungsvollen Verhältnis zueinander, was sogar der Maltechnik selbst entspricht. Denn auch die Gouache könnte man als Wechselspiel zwischen Spannung und Harmonie bezeichnen. Wie die Aquarell- oder Ölfarben ist die Gouache eine alte Technik mit natürlichem Bindemittel, wobei zu den Pigmenten häufig noch Kreide hinzugemischt wird. Gerade im Vergleich zu Acryl als Binder bricht sich das Licht hier anders und die Farben erscheinen strahlender.
Gleichzeitig trocknen sie aber viel matter als im nassen Zustand, was immer einen kleinen Überraschungseffekt mit sich bringt. Hier kommt schließlich Susannes jahrzehntelange Erfahrung mit dieser Technik ins Spiel, dass sie eben schon im Vornherein erahnen und planen kann, wie wohl das fertige Bild aussehen mag.
Im Vergleich zu Aquarell- oder Ölfarben lässt sich die Gouache allerdings deckend und lasierend auftragen. Sie vereint sozusagen beide Techniken und bietet eine große Bandbreite an Farbwirkungen. Nun ist sie zwar sehr flexibel einsetzbar, trocknet aber sehr schnell, was von Vorteil sein kann aber auch eine Herausforderung darstellt:
Viele Schichten können hintereinander aufgetragen werden, ohne, dass sie sich mischen. Gleichzeitig bedeutet das aber einen gewissen Zeitdruck, was wiederum das unbewusste Malen fördert.
Auf Grundformen minimiert: Kunst und Kirchenraum als Rückzugsort
Die Technik der Gouache zu verwenden ist folglich eine Entscheidung, die den Künstlern einiges abverlangt. Denn sie ist viel zurückhaltender in ihrer Erscheinung und deutlich sperriger im Umgang als die meist dicke und glänzende Ölfarbe. Demnach könnte man die Gouache als einen ganz eigenständigen Dialogpartner verstehen – zwar bescheiden aber doch selbstbewusst in ihrem Ausdruck. Was zurückführt zum Eindruck des Wesentlichen und Meditativen.
Gerade bei dieser Ausstellung spielt nun der Kirchenraum selbst eine zentrale Rolle: er spiegelt die Gouachen gewissermaßen in seiner Funktion als Rückzugsort – andächtig, auf Grundformen minimiert und als Möglichkeit zur Selbstreflektion.
Welche dieser Farben des Lebens entdecken wir in unserem Leben wieder? Welche fehlen uns vielleicht noch fehlt oder welche haben wir schon lange nicht mehr wahrgenommen? Entdeckt es selbst und schaut in der Citykirche vorbei: Di-Do von 9-16 Uhr, Fr und Sa von 10 – 18 Uhr.