Im Gespräch mit: Leo Staigle

Landschaften auf Leinwand oder Karton, immer bunt, tief und gleichzeitig flach. Im Kontext von pflanzenartigen Gewächsen, Liegestühlen oder von im Hintergrund ragenden Bergen werden grafische Formen zur Architektur und zeigen die Abwesenheit des Menschen auf. In der Alten Spinnerei Wannweil sprachen wir mit Leo Staigle über seine Arbeit und sein Verständnis von Kunst.

In Filmen arbeiten die hippen Künstler:innen immer in coolen alten Fabrikgeländen. Architektur, die ihren Zweck schon lange nicht mehr erfüllt und ganz avantgardistisch zweckentfremdet wird. So muss ich schmunzeln, als ich im April 2022 auf das Gelände der ehemaligen Spinnerei von Hugo Boss in Wannweil fahre, um dort den Tübinger Künstler Leo Staigle zu einem Interview zu treffen.

Er begrüßt mich und meine achtmonatige Tochter sehr herzlich an der Eingangstür und bittet uns rein in sein Atelier. Nein, hier ist kein Industrial Chic vorzufinden, sondern zwei Zimmer, die vollgestellt sind mit bemalten Leinwänden, Büchern, kleinen Skulpturen, Farbe, Pinseln und kleinen Papier- und Kartonarbeiten. 

Bei einfallenden Sonnenstrahlen sitzen wir uns an einem Tisch mit warmem Kaffee gegenüber, lauschen Hintergrundmusik und sprechen über Leo Staigles Kunstverständnis und Arbeit. 

Leo Staigle. Ein Gespräch. 

Portrait Leo Staigle
Selbstportrait Leo Staigle im Atelier in der Alten Spinnerei Wannweil

Leo, du bist gelernter Industriedesigner und hast dich erst vor nicht allzu langer Zeit der Malerei gewidmet. Ich finde es interessant, dass du schon einen festen Malstil hast. Wie kamst du zur Malerei? 

Ich hab viel gemalt, aber halt nicht als Künstler. Davor habe ich gezeichnet und gemacht, was man im Industriedesign-Studium macht. Dort habe ich eine klassische Darstellungs-Ausbildung bekommen. Aber mit einem anderen Anspruch. Mit dem Anspruch, wirklich Kunst zu machen, bin ich irgendwann vom Studium da reingerutscht. Das kann man auch ziemlich genau datieren: Das hat im Januar 2020 angefangen. Das war der Jahreswechsel. Der hat einen Schalter bei mir umgelegt. Ich war da zu Besuch in einem Atelier und hab gedacht: Ja, das will ich auch machen. Zuhause habe ich direkt die ersten kleinen Sachen probiert.  

Ich geh jetzt hin, mach 50 Bilder, guck auf die Bilder zurück und entscheide dann, ob ich Künstler werden will. 

Ich habe schnell gemerkt: Wenn du das machen willst, läuft dir die Zeit weg, wenn du’s nicht ganz durchziehst. Da musst du auch richtig malen und vor allem viel malen. Da musst du 50 Bilder im Jahr machen, dann kannst du dich auch selber ernst nehmen und dann nehmen dich auch andere ernst. Da ist die Entscheidung gefallen.  

Jetzt höre ich erstmal nicht mehr auf, werfe nichts weg. Das war eine klare Entscheidung. Ich geh jetzt hin, mach 50 Bilder, guck auf die Bilder zurück und entscheide dann, ob ich Künstler werden will. 

Das ist jetzt schon zwei Jahre her. Wie und was malst du? 

Ich hab gar keinen naturalistischen Anspruch. Bei mir ist alles reine Fiktion, also eine Art Surrealismus. Mittlerweile habe ich ganz viele Sachen, auch kleine Sachen. Ich hab ganz viel auf Karton und auf Papier und schnellere Arbeiten gemacht. Die Art, auf Karton oder Papier zu arbeiten, ist am Anfang entstanden – aus dem Probieren raus. Erstmal die Farbe wieder in die Hand nehmen. Ich hatte zu dem Zeitpunkt keine Leinwände, aber Umzugskartons, weil wir schon geplant hatten, umzuziehen. Bis heute hat sich das durchgezogen. 

Landschaftsbild von Leo Staigle
Leo Staigle.Graulicht. 2021, 160 x 120 cm, Acryl auf Leinwand.

Beim ersten Anblick deiner Werke habe ich an de Chirico und an den Surrealismus gedacht. Insbesondere in der Ausarbeitung der Schatten. 

Das hat mir mein Papa auch gesagt. Dieses Merkwürdige, dieses „Das ist keine Welt“. Und das mit den Schatten habe ich zuerst gemacht und dann erst gesehen. Ich hoffe, dass ich es eines Tages schaffe, doch etwas zu machen, das noch keiner davor gemacht hat.  

Ich hab neulich jemandem ein Bild von mir gebracht. Die Person hat sich irgendwann mal Bilder von Ben Willikens gekauft und hatte diese zuhause hängen. Er hatte ein größeres dort hängen und zu mir gesagt: „Sie dürfen das einfach abhängen und ihr Bild dort aufhängen.“ Das war natürlich aufregend für mich. Das war ähnlich, weil meins sehr in Grau gehalten ist und Willikens diese grauen Räume und die Schatten hat. Willikens wiederum hat eine perspektivische Malweise. Das hab ich bei mir ziemlich aufgelöst. Weil ich so nah davorstand, hab ich genau gesehen, wie er das gemalt hat und dachte: „Ah ja, der malt das genauso wie ich. Genau gleich.“ Und das machen alle – alle haben nur Pinsel und Farbe zur Verfügung. Deswegen finde ich es so faszinierend, dass einige da Sachen rausholen, die andere nicht hinkriegen. 

Dunkles Landschaftsbild von Leo Staigle
Leo Staigle. Freitag Nacht. 2022, Diptychon, 105 x 150 cm, Acryl auf Leinwand

Ich finde auch die Bäume und Pflanzen interessant, die nichts Naturalistisches an sich haben. Bei dem Werk erinnern mich die Strukturen an Korallen. 

Die Assoziation haben viele. Es gibt ja so Fibonaccigewächse wie die Artischocke oder Blütenstände. Ich mal das frei, ich folg dem nicht, es muss gar nicht genau stimmen. Es ist etwas, was in der Natur passiert. Es geht auch häufig in der Kunst darum, etwas zu produzieren, was man dann stimmig empfindet und die Suche nach des, was ich nicht kenne und eine Frage aufwirft.  

Was sind jetzt deine neuen Arbeiten? 

Das ganz Große ist eines, das habe ich vor einem Monat angefangen und seitdem ruht es. Da muss ich den Kontakt wiederfinden. Ich mal nicht unbedingt fünf Bilder nebeneinander. Ich hab schon so zwei, drei, die nebeneinander entstehen, aber es sind nicht so viele. Ich kann nicht so ein bisschen hier, ein bisschen da und ein bisschen da, sonst würde es zum Produkt werden und für mich ist es wie ein Gespräch mit der Leinwand oder den Skulpturen. Es geht manchmal schneller und mal bisschen langwieriger. Und deswegen bin ich auch einer Sache verhaftet, bis sie fertig ist. Aber ich weiß, was ich da machen will. Große Bilder sind relativ aufwendig. 

Leo Staigle Landschaft
Leo-Staigle. Gestern Rosa. 2022, 120 x 200 cm, Acryl auf Leinwand.

Man sieht, dass du neue Motive verfolgst. Zu Beginn ging es dir eher um Landschaften und jetzt eher um das Organische. 

Das war ein innerer Wunsch, den ich hatte. Ich komm aus dem Design und es ist ganz furchtbar, wenn du auf einmal das Gefühl hast, du machst etwas, das du im Design auch gemacht hast. So eine Grafik oder im schlimmsten Fall etwas, das auf eine Art perfekt sein muss.  

Am Anfang bin ich hingegangen, um erstmal so zu malen, wie ich es aus der digitalen Welt kenne. Nach und nach habe ich gemerkt, dass ich das in einen Kontext setzen möchte, in dem dieses Harte und Kantige auf organische Komponenten trifft. Am Anfang hatte ich diese Bäume, die sich nach und nach verfremdet haben. Erst wirken die Bäume noch etwas naturalistischer und gehen nun immer weiter davon weg. Da waren die Papiere sehr hilfreich, weil ich da viel einfacher und schneller arbeiten kann. Und da gehst du dann auch in Formen rein, die viel weniger angstbehaftet sind und nichts falsch ist oder zu wenig oder zu schnell oder zu locker. Da habe ich’s parallel weitergenutzt, um auch bei den Leinwänden weiterzukommen.  

Nur die Fehler sind wertvoll. Alles was kein Fehler ist, ist schon bekannt, alles was ein Fehler ist, könnte unbekannt sein.

Bei den Leinwänden kommt dann irgendwann ein Punkt, wo man auch sehr verklemmt ist. Leinwand ist teuer und man hat dann die Leinwand und die muss fertig sein und gut werden. Ich hab dann eine ganz lange Serie mit 40 Blättern gemalt und die alle schnell weg. Also für jedes Blatt nur eine Minute. Ich bin auf ganz neue Ansätze gekommen, die ich dann auf die Leinwand bringen kann. Da passieren dann auch Fehler, und nur die Fehler bringen einen dann weiter. Nur die Fehler sind wertvoll. Alles was kein Fehler ist, ist schon bekannt, alles was ein Fehler ist, könnte unbekannt sein. Und so kannst du auf etwas stoßen, das unbekannt ist, und nur das ist interessant für mich.  

Spannend finde ich in einigen deiner Bildräume auch die Stelen. Man blickt auf das Bild und denkt, dass irgendwas fehlt, obwohl die Leinwand vollständig ist und das Bild stimmig. Warum fehlt etwas? 

Als Maler denkt man oft an Menschen. Lange habe ich überlegt, ob bei mir auch Menschen sind. Und natürlich sind sie auch auf eine Art da, weil man die Spuren vom Menschen lesen kann, also was wir als menschlich empfinden, denn kein anderes Lebewesen hat so eine Art von Behausung. Deswegen sind die Menschen da, nur nicht sichtbar. Es ist eine Verlassenheit und wirft auch die Frage auf, was dort passiert ist. Für mich eine wichtige Frage, weil ich die Antwort auch nicht weiß. Ich bin nur am Malen und am Schluss kommt ein Bild raus, das ich so auch nicht kenne, das aber im besten Fall auch Fragen aufwirft, mich belustigt oder hilft. 

Landschaft von Leo Staigle gemalt
Leo Staigle. Freiland. 2020, 140 x 200 cm, Acryl auf Leinwand

Von wann sind diese Bilder? 

2020 – da habe ich gerade die Bäume entdeckt, aber noch nicht die Malweise. Jetzt würde ich sie anders malen. Ich habe für mich jetzt ein Regelwerk erfunden: Was wann, wie nacheinander kommt. Aber das ist gar nicht gut! So ein Regelwerk ist immer schlecht. Dann gibt es eine Art Standardisierung. Das ist sehr undankbar. Immer wenn es läuft, denk ich: Dann lass ich’s jetzt. Es gibt eine Zeile aus einem Gedicht, die bei mir hängen geblieben ist: „Du musst die Arbeit immer wieder in Gefahr bringen.“ Und das ist wichtig, damit es spannend bleibt. Weil sonst bist du irgendwann bequem und machst das, von dem du weißt, dass es was wird, und das ist nicht Sinn der Sache.  

Nun zu deinen Papierarbeiten. Womit hat es angefangen? 

Ich hatte einen alten Kalender, der voll war. Mit Acrylfarben habe ich auf dem Karton rumgemalt und hab gedacht, dass es ganz interessant ist, weil daraus Kippbilder entstanden sind. Wenn man es dreht, ist auf einmal hier ein Kasten, wie ein Aufzug, andersrum passiert was ganz anderes. Da ist mir das erste Mal der Gedanke gekommen: Damit kann man arbeiten. Vielleicht kann man was machen mit dem Spiel der Kippeffekte und mit den Farben, die komplementär zueinander anzuordnen. 

Rot-blaue Landschaften gemalt auf altem Papier
Leo Staigle. Frage nach Land. 2022, 40 x (28,5 x 19,5 cm) , Acryl auf über 100 Jahre altem Papier

Die Blätter sind alle beiläufig entstanden? 

Ja, das ist zum Beispiel eine Art von Berg, die trivial aussieht. Von einer so einfachen Silhouette ausgehend probiere ich dann aus, wie ich mit dem Licht umgehen kann. Es werden eigene Ansätze, die zu eigenen Werken geworden sind. Es führt zu Erkenntnissen: vielleicht passt irgendwo mal diese Art von Berg. Es sind nur Kleinigkeiten, die nach ein paarmal dann hängen bleiben.  

Die Auswahl des Papiers ist rein zufällig? 

Das Papier ist ein spezielles. Die Blätter sind alle ungefähr 100 Jahre alt. Das Papier hat einen hohen Holzanteil und dadurch einen charakteristischen Braunton, nicht gebleicht, war ganz billig und dünn. Diese Bücher stellen Leute auf die Straße und die gibt’s zum Mitnehmen. Immer wenn ich das irgendwo sehe, schnappe ich mir die immer. Auf der einen Seite ist es Material für mich, aber eben auch spannender als ein rein chlorgebleichtes Blatt. Für mich ist es optimal.  

Rot-blaue Landschaften gemalt auf altem Papier von Leo Staigle
Leo Staigle. Frage nach Land. 2022, 40 x (28,5 x 19,5 cm) , Acryl auf über 100 Jahre altem Papier (Detail)

Dir geht es also in erster Linie um das Material, nicht um den Inhalt? 

Der Inhalt ist für mich irrelevant. Außer, dass natürlich das geschriebene Wort – unabhängig davon, welches Wort es ist – einen Kontext zur Malerei bedeutet. Deshalb kann ich als Künstler auch so viel Quatsch erzählen. Künstler:innen können so viel erzählen, dass man das irgendwie im Kontext zu ihrer Arbeit verstehen kann. 

Das Wort ist das Irrelevanteste in der Kunst. Den größten Fehler, den ich als Künstler machen kann, ist, zu viel über die Sachen zu sprechen, weil es in einer Sprache stattfindet, die kann ich mir künstlerisch nicht erschließen, da hätte ich keine Bilder malen müssen. 


Seit unserem Besuch im Frühjahr hat sich Leo Staigle auf Schloss Neuenbürg wieder mit der Gattung der Skulptur beschäftigt. In seinem Atelier sind viele weitere Leinwände, Kartons und Blätter entstanden. Mit über 50 Werken eröffnet seine erste große Einzelausstellung „Wie kocht man ein Stück Land?“ am 25. September 2022 um 17 Uhr in der Pforzheim Galerie, dem Kunstmuseum der Stadt Pforzheim, das von einem spannenden Programm begleitet wird.