Körperliches Wissen wird sichtbar – Grafiken von Hanna Sass im Künstlerbund Tübingen 

Die Grafiken von Hanna Sass verbinden ein feines Gespür für grafische Strukturen mit einem Sinn für farbliche Räumlichkeit. Dabei sind es durchweg abstrakte Kompositionen. Strukturen ballen, weiten und überlagern sich, streben in die gleiche Richtung und machen auch mal abrupt kehrt – wie ein lebendiges Formengewebe. Gerade Bewegung spielt hier auf ganz verschiedenen Ebenen eine zentrale Rolle – und das nicht nur im buchstäblichen Sinne. Aber wie? Das erfahrt ihr in den nächsten Zeilen!

Schon der Ausstellungstitel „blu_e_motion“ ist so eindeutig wie raffiniert. Denn er gibt zwei wesentliche Elemente in den Grafiken von Hanna Sass im Künstlerbund Tübingen schon zu Beginn preis: die im Wort befindliche Nähe von Bewegung (motion) und Emotion (emotion). Gerade Bewegung spielt hier auf ganz verschiedenen Ebenen eine zentrale Rolle – und das nicht nur im buchstäblichen Sinne. Aber wie? Das erfahrt ihr in den nächsten Zeilen!

Ausstellungsansicht BLU_E_MOTION, Künstlerbund Tübingen, 2022. Foto Julia Berghoff.
Ausstellungsansicht „blu_e_motion“, Künstlerbund Tübingen, 2022. Foto Julia Berghoff.

In fast allen gezeigten Holzschnitten und Radierungen dominiert die schon im Titel angekündigte Farbe Blau. Tatsächlich ist das Arbeiten mit Farbe für Hanna Sass aber eine recht neue Entwicklung, die erst seit etwa zwei Jahren in den Arbeitsprozess eingeflossen ist. Zuvor waren ihre Werke noch schwarz-weiß oder in grau-monochromen Tönen gehalten, mit einem Fokus auf Struktur. 

Dynamische Liniengeschwader und kleinteilige Fleckenteppiche 

In den neuen Werken verbindet sie also ihr feines Gespür für grafische Strukturen mit einem Sinn für farbliche Räumlichkeit. Dabei sind es durchweg abstrakte Kompositionen: In einem überlagern sich dynamische Liniengeschwader, im nächsten übersähen kleinteilige Fleckenteppiche die mit bis zu 1,60 m Höhe fast lebensgroßen Holzschnitte. 

Hanna Sass, 10/2/20, Holzschnitt, 120x160cm, 2020. Foto: Julia Berghoff.
Hanna Sass, 10/2/20, Holzschnitt, 120 x 160 cm, 2020. Foto: Julia Berghoff.

Jedes Element ruft hier nach Aufmerksamkeit und bildet doch gleichzeitig einen zusammenhängenden und harmonischen Organismus. Die Strukturen ballen, weiten und überlagern sich, streben in die gleiche Richtung und machen auch mal abrupt kehrt – wie ein lebendiges Formengewebe. Die Schraffuren und Spuren gehen meist über die Ränder des Blattes hinaus, wodurch es so scheint, als würden wir lediglich den Ausschnitt eines größeren Gebildes sehen. Was genau wir betrachten kann unser Bewusstsein allerdings nicht so recht fassen. 

Gestische Zeichen und der Kampf mit dem Material – die Grafiken von Hanna Sass

Immer wieder liegen den harten Strukturen zarte Farbverläufe zugrunde und die abstrakten Blätter werden räumlich. Als befänden wir uns unter einer Wasseroberfläche, strahlt Licht von oben und unten ins Bild hinein, lässt wabernde, vernebelte Horizonte entstehen. 

Raum und Fläche wechseln sich ab, was darüber und darunter liegt ist so fließend wie auch die sich überlagernden Formen. Das Auge sucht hier stetig nach Erkennbarem, wird aber vielmehr mit gestischen Zeichen konfrontiert, die das bearbeitete Material spiegeln.

Hanna Sass, 5.1.20, 2020, Holzschnitt, 50 x 70 cm. Ⓒ Hanna Sass.
Hanna Sass, 5.1.20, 2020, Holzschnitt, 50 x 70 cm. Ⓒ Hanna Sass.

Für ihre Druckstöcke benutzt Hanna Sass gerne weiches Holz, das beim harten Bearbeiten leicht reißt und splittert. Genau diese zufällig entstehenden Formen und Strukturen führen die Künstlerin dann zu neuen Ideen und Entdeckungen: Das Material soll also sichtbar werden und ganz bewusst Teil des Bildes sein. Für ein Blatt verwendet sie aber nicht nur einen Druckstock, sondern bearbeitet gleich mehrere und kombiniert sie anschließend untereinander. So wird z. B. auf den Abdruck von Platte eins noch die Platte zwei oder drei gedruckt, was zu den sichtbaren Überlagerungen der Formen führt. Jedes Blatt wird ein Unikat, womit Hanna Sass die Drucktechnik entgegen ihrer ursprünglichen Funktion der Vervielfältigung nutzt. 

„Mein Kopf leer“ – Der Ausbruch

Wenn man sich jetzt die Größe der Holzschnitte – und dementsprechend der Druckplatten –anschaut, kann man schon erahnen, was für ein körperlicher Einsatz dahinterstecken muss. Und Holz ist ein störrisches Material: die Künstlerin bearbeitet die Platten mit einer Axt oder einem Eisen und schlägt gegen das Material, zieht die Klinge über das Holz und lässt so Linien und Risse entstehen. Das erfordert große Kraft, wobei der ganze Körper in Bewegung kommt – und auch bleiben muss. Denn nur die eingespielte Bewegung des Körpers lässt auch einen Fluss der Strukturen entsteht.

Ausstellungsansicht „blue_e_motion“, Künstlerbund Tübingen, 2022. Foto Julia Berghoff.

Die Bearbeitung der großen Platten fällt ihr daher sogar leichter. Die körperliche Dynamik wird hier direkt in das Material übersetzt – und dabei gibt es keine Korrekturmöglichkeit. Es bedarf also höchster Konzentration. Gleichzeitig lässt sie sich aber gerade nicht von bewussten Gedanken und Vorstellungen leiten, sondern gibt das Handeln vollkommen in die Hände ihres Unterbewusstseins. Wie sie selbst in dem Moment beschreibt: „mein Kopf leer“. 

Hanna Sass Arbeitsprozess

Über diese so schwer fassbare Symbiose von Intuition und dem bewussten Reflektieren darüber schrieb Hanna Sass sogar ihre Diplomarbeit im Bereich Bildende Kunst im Jahr 2017, die mir in der Vorbereitung auf diese Rede als Grundlage diente. Ganz persönlich und direkt beschreibt sie hier, in welche Phasen sie ihren Arbeitsprozess unterteilt: nämlich Vorbereitung, Ausbruch, Sichtbar, Bearbeiten, Schichten, Verschwinden und Sortieren.

  • Ausstellungsansicht BLU_E_MOTION, Künstlerbund Tübingen, 2022. Foto Julia Berghoff.

Besonders die Phase „Ausbruch“ hat mich beim Lesen gepackt, denn hier kommt es gerade auf das Intuitive im künstlerischen Schaffen an, das so wahnsinnig schwer ist, in Worte zu fassen. Ich möchte es an dieser Stelle trotzdem wagen, denn die Werke von Hanna Sass sollen eben keine entschlüsselbaren oder logischen Informationen vermitteln, sondern mit dem Körper verstanden werden. So, wie sie eben auch entstanden sind: als Ergebnis von Bewegung, die aber nicht allein die körperliche Betätigung meint, sondern auch das gedankliche Fließen im Unterbewusstsein. 

Implizites Wissen bei Hanna Sass

Hanna Sass fordert also auch uns Betrachter dazu auf, ein implizites und damit körperliches Wissen anzuwenden. Aber was genau ist damit gemeint? Um den Unterschied bildlicher zu machen, nehme ich ein Beispiel, das sie selbst in ihrer Diplomarbeit verwendet: „Wie hältst du beim Fahrradfahren das Gleichgewicht?“ Auf diese Frage fällt eine Erklärung schwer, obwohl jedem klar ist, dass man das Gleichgewicht beim Fahrradfahren halten kann. Man würde also sagen: „Ich zeige es dir“ oder „das musst du selbst ausprobieren“. 

Fahrrad fahren wird eben nicht durch eine schriftliche Anleitung erlernt, sondern durch die Praxis. Man muss es gezeigt bekommen und selbst spüren, um es zu lernen. Implizites Wissen ist also Wissen, das sich nicht in Worten übermitteln lässt, aber im Können zeigt. Hanna Sass legt dieses Wissen durch die Bewegung ihres Körpers frei und gibt ihm eine Form. Sie verbildlicht sozusagen ein körperliches Wissen, das sich auch nur durch ein körperliches Gespür erfassen und durchdringen lässt. Dementsprechend ist Bewegung in ihrem Arbeitsprozess ein ganz zentrales, wenn nicht sogar das zentrale Element. 

Ausstellungsansicht BLU_E_MOTION, Künstlerbund Tübingen, 2022. Foto Julia Berghoff.
Ausstellungsansicht „blu_e_motion“, Künstlerbund Tübingen, 2022. Foto Julia Berghoff.

Bis zur Auflösung des Kopfes

Der Körper übernimmt dabei die Führung und greift auf erlerntes bzw. erlebtes Wissen zurück, das sich auch aus einem emotionalen Gedächtnis speist. Auf den hier gezeigten Blättern kann man es zwar nicht mehr erahnen, aber das Motiv des Kopfes spielte für Hanna Sass eine zentrale Rolle in der Entwicklung ihrer Formensprache. Dabei wurde sie durch Menschen aus ihrer Erinnerung inspiriert, die sie beeindruckt, geprägt oder auch verletzt haben – also mit einen emotionalen Wert verknüpft sind. Das ursprünglich erkennbare Kopfmotiv verschwand durch die anschließenden Phasen der Bearbeitung, Abtragung und Schichtung allerdings immer weiter zu einem bloßen Zeichen. Bis zur Auflösung des Kopfes und einem Ordnen der verknüpften Emotion. 

In den letzten Jahren wurde das Kopfmotiv zu gänzlich abstrakten Strukturen weiterentwickelt und ist für den Betrachter meist nur noch als implizites Wissen vorhanden. Manchmal finden sich im Titel noch Relikte der Dargestellten, wie bei „Helga I und II“ von 2019. Die Kunst von Hanna Sass befindet sich also in einem fortlaufenden Arbeitsprozess, der seine Herkunft aber noch immer in sich trägt. 

Hanna Sass, Helga I und II, Radierung Carborundum, 90 x 70 cm, 2019. Foto: Julia Berghoff.
Hanna Sass, Helga I und II, Radierung Carborundum, 90 x 70 cm, 2019. Foto: Julia Berghoff.

Reagieren und Reflektieren

Ein Wechselspiel entsteht aus dem fließenden, weitestgehend gedankenfreien Handeln und der anschließenden Sichtung und Bewertung des Entstandenen. Maximale Lockerheit bei gleichzeitiger Spannung sozusagen. Gerade diese Verknüpfung von Reagieren und Reflektieren bedeutet auch, sich selbst immer wieder überraschen zu lassen. Sein Bewusstsein in gewisser Weise zu überlisten, was letztlich Mut erfordert. Das, was sich dem Bewusstsein schließlich als Überraschung zeigt, ist nach Hanna Sass bereits als Vorahnung im Körper des Künstlers vorhanden. Wie ihre bildlichen Strukturen überlagern sich auch Bewusstsein und Unterbewusstsein. Zwei Ströme, die parallel fließen und sich gegenseitig in ihren „Bewegungen“ beeinflussen. Hier zeigt sich unbewusstes Wissen in bewusster Aktion. 

Jedes Bildmedium hat bei Hanna Sass nun seine eigene Ästhetik. Die Holzschnitte strahlen trotz ihrer spröden, häufig eher linearen Strukturen eine große Ruhe und Sanftheit aus, was sich vor allem im Zusammenspiel mit den fließenden Farbverläufen ergibt. Die Radierungen sind im Gegensatz dazu häufig eher wild und ruhelos. Ihre Kontraste sind stärker und die Linien schroffer, was erneut mit dem Material zusammenhängt, denn die Zinkplatten geben mehr Widerstand und sind härter als das Holz. Die Kerben und die Verletzungen im Metall sind tiefer, was die Linien stärker und beim Druck dann auch kontrastreicher macht. Die Materialien und ihre Eigenschaften werden also in den Gestaltungsprozess mit einbezogen.

Hanna Sass, blue_e_motion I - 2.1, Radierung, 92 x 92cm, 2020. Ⓒ Hanna Sass.
Hanna Sass, blue_e_motion I – 2.1, Radierung, 92 x 92cm, 2020. Ⓒ Hanna Sass.

Ein Dokument erlebter Bewegung

Gerade der versierte Umgang mit Holz lässt sich auch in der Biografie der Künstlerin entdecken, denn von 2006–2009 absolvierte sie eine Ausbildung zur Tischlerin. Bis 2010 arbeitete sie dann sogar als Tischlerin und Matrosin auf dem Großsegler „Sea Cloud“, woraufhin ein Jahr später das Studium an der Kunsthochschule Burg Giebichenstein in Halle folgte. Seit etwa drei Jahren widmet sie sich hauptsächlich ihrer Kunst, hat aber noch immer einen Gewerbeschein und schließt selbst nicht aus, auch mal wieder als freie Tischlerin zu arbeiten. Die Beschäftigung mit Material begleitet sie auf mehreren Ebenen in ihrem Alltag.

Ausstellungsansicht „blue_e_motion“, Künstlerbund Tübingen, 2022. Foto Julia Berghoff.

Umso interessanter ist es, dass sie Kunst in der Fläche schafft, die als Ergebnis eines skulpturalen Vorgangs entsteht. Denn beim Holzschnitt wie bei der Radierung wird Material abgetragen. Das gedruckte Blatt ist schließlich eine Art Dokument der erlebten Bewegungen. Es komprimiert und überlagert sie. Dabei springt das Auge auf dem Blatt umher und findet kaum einen Ort, um zu verweilen. Auch wir Betrachter folgen so Hanna Sass Bewegungen. Sie leiten uns zu einem freien Betrachten, das den Wert in künstlerischem Schaffen eben nicht allein auf ihre Verständlichkeit gründet. Dieses visuelle und körperliche Verstehen können wir anhand ihrer Werke erlernen – wenn wir es zulassen.