Kunstwerke können unterschiedlich auf Betrachter:innen wirken. Seien es Genuss, Fröhlichkeit oder aber auch Ekel und Abneigung. An einige Kunstwerke können wir uns noch Jahre später erinnern, andere haben wir schon im Nu vergessen.
Die Einzelschau „Learning to be“ des britischen Bildhauers Antony Gormley (*1950) im SCHAUWERK Sindelfingen ist uns sehr wohl in Erinnerung geblieben. 30 Werke, die uns Betrachter:innen den eigenen Körper im Raum deutlich machen. Gormley versteht Kunst als Raum des Werdens – Kunst lässt Gefühle und Gedanken entstehen. Diese, die wir beim Betrachten der Skulpturen Gormleys hatten, wollen Paul, Jessy und Lisa mit euch teilen.
Paul: Gormleys wegweisendes Frühwerk
Antony Gormley ist vor allem für Arbeiten bekannt, bei denen die Maße seines eigenen Körpers in immer wieder neuen Formen, mal mehr mal weniger abstrakt, den Ursprung seiner Überlegungen bilden. Umso spannender, eine so frühe Arbeit wie „Flat Tree“ (1978) zu sehen, die noch zu Studienzeiten entstand. Gormley verfolgt hierbei einen konzeptuellen Ansatz, um die Größe eines Lärchenbaumes und somit unsere gelebte Umwelt neu erfahrbar zu machen: Der Künstler zersägte einen Baumstamm in etwa gleich dicke Scheiben und ordnete sie auf dem Boden zu einer Spirale an. Die Scheibe mit dem kleinsten Durchmesser, also die Baumspitze, bildet dabei den Mittelpunkt, die größte Scheibe ist die letzte am Rand der Bodenarbeit. Dank der dazwischen liegenden Größen kann man imaginativ den Baum wieder zusammensetzen. Dass es sich um einen einzigen Baum handelt, beweisen Details wie ein Riss, der sich von Scheibe zu Scheibe an der gleichen Stelle durchzieht und die gut sichtbaren Baumringe.
Dabei nimmt die Arbeit eine erstaunliche Größe an: Mit einem Durchmesser von fast sieben Metern, ergibt sich eine Fläche von etwas mehr als 36 m². Die Methode des Zerteilens ermöglicht eine neue Perspektive auf den Baum und setzt die Höhe des Baumes mit der Fläche im Raum in Verbindung. Somit passt „Flat Tree“ doch gut in das weitere Oeuvre Gormelys, auch wenn die menschliche Form nicht direkt darin vorkommt. Man umschreitet die Arbeit, gleicht die Ausmaße mit dem eigenen Körper ab und kommt so zu einem neuen Raum- und Körpergefühl.
Jessy: Beengung im SCHAUWERK Sindelfingen
Eine Plastik mit weichen Rundungen – hört man diesen Satz, denkt man zunächst an die Barocken Werke von Künstler:innen wie Gian Lorenzo Bernini. Bei dem Werk „CUMULATE (BREATHE II)“ (2018) von Antony Gormley haben wir eine andere Situation. Die Proportionen der Plastik ähneln denen eines erwachsenen Menschens. Wie von Luftpolsterfolie umschlossen scheint sich in dieser Hülle – oder eine Art Sarkophag? – ein Mensch zu befinden. Mit einer Gesamthöhe von 271 cm, muss der Körper darin jedoch entweder sehr groß sein, oder sehr gut verpackt.
Das kalte, schwere Blei verarbeitet Gormley so, dass es ganz weich erscheint und schafft es die Plastik so zu balancieren, dass es aussieht als könnte sie im nächsten Moment umkippen. Bei der Betrachtung versuchen wir uns in diese Hülle hinein zu denken. Könnten wir dort hinein passen? Wie sieht es wohl im Inneren aus? Und ganz leise kommen Beengungsgefühle dazu, obwohl wir in einem großen weißen Raum im SCHAUWERK Sindelfingen stehen. Es staut sich an und lässt fast kaum Luft holen: Atemberaubend.
Lisa: What are you doing?
Ein Raum – ich trete ein. Wie nehme ich diesen wahr? Wie verhält sich mein Körper zu ihm?
Oft fahre ich gut mit dem Impuls, mich vor dem Eintritt in einen Ausstellungsort von alltäglichen Gedanken frei zu machen und mich einfach einmal fallen zu lassen. So auch beim Besuch der Ausstellung „Learning to be“. Selten hat man so ein Bedürfnis sich einfach auf den Boden zu setzen und den Raum auf sich wirken zu lassen. Was kann ich alles entdecken? Was empfinde ich dabei? Welche Gefühlswelten eröffnen sich?
So sitze ich einem Werk Gormleys gegenüber und frage mich: Warum liegt die Person auf dem Boden, das Gesicht nach unten gedreht? So gerne würde ich fragen: „Alles okay bei dir?“ Der Körper scheint schon fast mit dem Boden verschmolzen zu sein, so sehr drückt er sich auf ihn. Die Kälte des Bodens dringt in ihn ein und wird so nach und nach von ihm übernommen. Nackt, mit gespreizten Armen und Beinen gibt er sich der Architektur vollständig hin. „Close I“ aus dem Jahr 1992 lädt bestimmt nicht nur mich zu einem Dialog ein – hinterfragt unsere Beziehung sowie unser Verhältnis zur uns umgebenen Architektur, zum Raum. Vielleicht sogar auch zum Raum-Zeit-Kontinuum?
Die Ausstellung „Learning to be“ ist noch bis zum 24. April 2022 im SCHAUWERK Sindelfingen zu sehen.