FRAGIL – eine Ausstellung von Heidi Degenhardt und Ingrid Edith Gebhardt
Seit mehr als zwei Jahren begegnen wir immer wieder den Arbeiten der beiden Künstlerinnen Heidi Degenhardt und Ingrid Edith Gebhardt. Von Beginn an sind wir fasziniert vom Einsatz und der Verformung der Ausgangsmaterialien. Die Kunstwerke laden zum genauen Hinschauen, zum Entdecken ein und strotzen von einer enormen Experimentierfreude. So eröffnen sich für jede Betrachterin und jeden Betrachter ganz individuelle Diskussions- und Verhandlungsräume – für ganz persönliche Themen, für politische Begebenheiten, für zwischenmenschliche Situationen. Und natürlich spielt der eigene Geschmack, der ganz individuelle Ästhetikbegriff eine große Rolle in der Begegnung mit einem Kunstwerk.
Pandemie – der etwas andere Alltag
Als die Nachricht um die Welt ging, dass ein bis dato unbekanntes Virus grassiert, war für uns die Vorstellung, dass genau dieses Virus unser aller Leben beeinflussen kann, sehr weit entfernt. Doch plötzlich überschwemmten uns die Medien mit Nachrichten von bestätigten Fällen und Begriffe wie Pandemie, SARS-CoV-2, Covid-19, Inzidenz und Kontakteinschränkungen waren plötzlich in aller Munde. Wie sehr unser Alltag beeinflusst werden wird, wurde uns nur sehr langsam klar. Am härtesten traf uns wohl alle der Lockdown – ein Wort, das uns bis heute alle kurz in Schrecken versetzt, auch wenn es eine logische Konsequenz zum Gemeinwohl zu sein scheint. Zeit in den eigenen vier Wänden, alleine oder auch im Umkreis der Familie stellte uns vor ganz neue Herausforderungen – die Auseinandersetzung mit dem eigenen Ich, das Hinterfragen des Alltags so ganz ohne beeinflussende Pandemie und auch die Konfrontation mit dem Gegenüber. Umso mehr – ganz unabhängig von der Liebe zu unseren Allernächsten – lernten wir alle den wenigen Kontakt zur Außenwelt wieder etwas mehr zu schätzen. Austausch, nicht nur über das Telefon, Social Media und jegliche anderen digitalen Möglichkeiten, war rar. Doch in kreativen Prozessen ist ein Austausch von Auge zu Auge einfach unerlässlich.
Künstlerischer Austausch
Wie wichtig ein reger Austausch für kreative Prozesse ist, zeigt uns schon die Vergangenheit. In Rom saß man in der Accademia di San Luca beisammen, man versammelte sich um Universalgelehrte oder traf sich dann Anfang des 20. Jahrhunderts in den vielen Cafés in Paris.
Wie sehr solch ein Diskurs den eigenen Schaffensprozess beeinflussen kann und so zu ganz individuellen Umsetzungen im persönlichen Arbeitsprozess beiträgt, können wir in der Ausstellung Fragil in der Stadtbibliothek Reutlingen erleben. Es werden zahlreiche Werke präsentiert, die von Oktober 2020 bis März 2021 während der wöchentlichen Treffen beider Künstlerinnen entstanden sind.
Das 2019 erschienene Buch „Tusche – Lust auf Kunst“ der britischen Künstlerin Bridget Davies diente als Grundlage für die gemeinsame Arbeit, ganz unabhängig von der individuellen künstlerischen Formensprache, die beide in den Austausch mit einbrachten. Aus dieser Zusammenarbeit heraus entstanden zahlreiche Papierarbeiten. Mit Tusche und Wachs wurden auf 20 x 20 cm Exponate realisiert, die sinnbildlich für die fruchtbare Zusammenarbeit, die gemeinsamen Stunden und die dabei empfundene Freude stehen.
„Großes im Kleinen” – eine Werkserie von Ingrid Edith Gebhardt
Die Werkserie „Großes im Kleinen“ von Ingrid Edith Gebhardt besteht aus Kleinplastiken, teils gerahmt, teils präsentiert in kleinen Holztruhen und Glas. Die Exponate bestehen aus nur wenigen Materialien – vorrangig Naturprodukte und bestechen mit ihrer reduzierten Farbigkeit und einer minimalistischen Ästhetik.
Beschäftigt man sich genauer mit den Arbeiten der Werkserie, lässt sich eine intensive Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Ereignissen erkennen. Nicht nur die uns zurzeit sehr einnehmende Pandemie, sondern auch Themenbereiche wie #blacklivematters, Diskriminierung, Klimakrise oder auch der Umgang mit Tieren. Gebhardt entwickelt und offeriert für all die Betrachtenden Verhandlungsräume, in denen sich jede und jeder auf individuelle Art und Weise auf die Thematik einlassen kann. Denn abhängig von den individuellen Interessen, dem Wissen und dem so prägenden Umfeld öffnen sich bei den Rezipient:innen ganz unterschiedliche Wahrnehmungsmomente. Diese für uns so ganz einzigartigen Interpretationsorte sind ebenso Träger von Gebhardts innersten Gedanken und Emotionen, die die Künstlerin in der Auseinandersetzung mit den in den letzten zwei Jahren einprasselnden gesellschaftlichen Ereignissen empfand. Visuelle wie auch auditive Wahrnehmungen setzten Impulse, wurden von der Künstlerin verarbeitet und fanden in den Arbeiten einen neuen Ausdruck – feinfühlig und bedacht. Dies spiegelt sich auch in der Wahl der Materialien wider. Hauptbestandteil der Arbeiten der Serie „Großes im Kleinen“ sind Teile des Eis – vorwiegend die Schale und die filigrane Eihaut.
Nur ein Ei, doch Sinnbild des Lebens
Das Ei – wohl nur wenige Objekte evozieren solch eine gedankliche Divergenz: Zerbrechlichkeit steht dem Schutz gegenüber. Eine fehlerhafte Handlung, eine nicht wohl überlegte Bewegung können zur Zerstörung führen – eine Tatsache, die Gebhardt im künstlerischen Schaffensprozess des Öfteren erleben musste. Andererseits bietet die harte Kalkschale einen Schutzraum, einen Ort des Lebens.
Betrachtet man die Werke, sollte man im Hinterkopf behalten, dass die Künstlerin dieses Naturprodukt nicht nur als Ausdrucksmittel nutzt, sondern auch als Vermittler und Träger ihrer Gedanken. Die Wahl dieses äußerst fragilen Materials zeugt nicht nur von Gebhardts Experimentierfreude und präziser Arbeitsweise, sondern auch von ihrer Naturverbundenheit. Die können wir auch allein schon daran erkennen, welche Bestandteile des Eis im künstlerischen Schaffensprozess Verwendung fanden. Es sind die Abfallprodukte, die Schale und die Haut. Eiweiß und Dotter wurden zum Kochen und Backen verwendet. Dies zeugt von einer enormen Achtung gegenüber dem Tier. Dieser Materialeinsatz kann nun also bei den Rezipient:innen ein Bewusstsein für eine notwendige Wertschätzung gegenüber den Lebewesen eröffnen. So schafft sie es eine Brücke zwischen Natur und der von uns Menschen beeinflussten Umwelt entstehen zu lassen, inspiriert von Joseph Beuys Grundgedanken zur Sozialen Plastik.
In der Werkserie „Großes im Kleinen“ vereint sich ein nachhaltiger Gedanke mit der Relevanz des Grundproduktes, dem Ei als Quelle des (Über-)Lebens. Akzentuierung finden die einzelnen Exponate durch Tusche, Blattgold und Papier. Jede einzelne Arbeit der Werkserie „Großes im Kleinen“ fungiert so als adäquate Präsentationsbühne, als Hommage an das Ei, verknüpft mit einer persönlichen Auseinandersetzung mit aktuellen politischen Geschehnissen.
Das weiße Gold
Porzellan begegnet uns im Alltag bei der Geschirrwahl oder zum Beispiel beim Bestücken der Meissner Blumenvase, die wir von Oma vererbt bekommen haben. Bei einem Besuch im Schloss Ludwigsburg fallen uns die zahlreichen Porzellanstücke aus der Herzoglichen Porzellanmanufaktur Ludwigsburg auf. Es sind wichtige Fabriken, die im 18. Jahrhundert gegründet wurden und das „weiße Gold“ auch für die breite Bevölkerung nahbarer machten. Doch wird unsere Kultur und auch das künstlerische Schaffen mit Porzellan schon viel länger geprägt. Nachweislich wurde bereits im 7. Jahrhundert im Reich der Mitte erfolgreich Porzellan hergestellt. Dieses Wissen wurde durch die Seefahrer und vor allem durch die Geistlichen, die während ihren missionarischen Tätigkeiten mit diesem Wissen in Berührung kamen, über den Globus verteilt. So steht Porzellan für ein kulturübergreifendes Medium, ein weltverbindendes Element. Genau dieser Aspekt lässt sich auch in den Arbeiten Heidi Degenhardts finden.
So fragil und doch so stabil
Das „Weiße Gold“ ist ein durch Brennen hergestelltes feinkeramisches Erzeugnis. Die weiße und porenfreie Eigenschaft des Porzellans macht es zu etwas Einzigartigen. Sehr Besonders ist die sogenannte Transluzenz, die Eigenschaft einer partiellen Lichtdurchlässigkeit, die Heidi Degenhardt für Ihre Arbeiten produktiv nutzt. Eine intensive Auseinandersetzung mit fertigen Porzellanprodukten und der enge, weltweite Austausch mit anderen Künstler:innen, die sich diesem Material verschrieben haben, lassen sich in den Werken Degenhardtserkennen. Doch allein das Material macht nicht das Kunstwerk. Experimentieren und die stetige Neugierde neue Formen und auch Techniken zu entwickeln, führen dazu, dass Porzellan plötzlich wie eine Koralle aussieht, oder ein hauchdünnes Porzellanobjekt die optischen Eigenschaften eines feinen Papiers trägt, auf dem sogar eine Schrift sichtbar werden kann. Es sind Täuschungsmomente, die Heidi Degenhardt hier aktiv nutzt – Gesehenes wird automatisch mit Bekanntem verbunden und lässt uns sofort an den Geruch oder die Haptik des uns bekannten Objektes denken. Zum Stutzen bringt uns lediglich die „seltsame“ Farbgebung. Dieses äußerst reflektierte künstlerische Spiel lädt uns Rezipient:innen zu einem sehr intensiven Betrachten ein. Im künstlerischen Schaffensprozess Degenhardts entstehen stetig neue Ausdrucksformen. Dies hängt unter anderem auch damit zusammen, dass im Alltag Gesehenes auf jegliche Art und Weise Einfluss in den Entstehungsprozess hat. So finden alte Brötchen, Textilien und zum Wegwerfen verdammtes einen Platz im künstlerischen Schaffen.
Weiße Kostbarkeiten
Eine Besonderheit sind die von der engen Zusammenarbeit beeinflussten Vasen. Die Arbeit mit Tusche inspirierten Degenhardt im Umgang mit der schwarzen Glasur. Vor dem Brennen wird diese mit einem Echthaarpinsel, den die Künstlerin von einem Aufenthalt in China mitbrachte, auf das Porzellan angebracht. Die Formensprache ist dabei frei und non-figurativ, ganz anders als in den zahlreichen Beispielen, die uns aus der traditionellen Bearbeitungsweise mit Tusche bekannt sind. Die Krux an diesem Vorgehen ist, dass die Künstlerin nur eine Chance hat, die von ihr gewünschte Motivik auf das Porzellan aufzubringen. Dieser irreversible Schritt kann Angst machen, doch Heidi Degenhardt sieht ihn als Chance der freien künstlerischen Entfaltung.
„Für mich ist das weiße Gold eine hochgebrannte, federleichte Schönheit!” Diesem Zitat von Heidi Degenhardtkönnen wir nur beipflichten. Die filigranen Arbeiten der Künstlerin bezaubern nicht nur, sondern lassen viel Raum für ganz individuelle Interpretationsansätze. Und eben auch für kulturübergreifende Verhandlungsorte.Degenhardt offeriert so auch Räume für die persönlichen Erinnerungen der Rezipient:innen: an einen Urlaub, eine Begegnung, eine Diskussion über zwischenmenschliche und/oder auch politische Ereignisse.
Denn, um mit den Worten einer nicht ganz unbekannten Persönlichkeit zu enden: „Kunst hat die Aufgabe wachzuhalten, was für uns Menschen so von Bedeutung und notwendig ist.“ Diese Worte Michelangelos lassen sich in den Arbeiten beider Künstlerinnen erkennen.