Jenes Selbst/ Unser Selbst. Marina Abramović in der Kunsthalle Tübingen

Mit Marina Abramović zeigt die Kunsthalle Tübingen nach Birgit Jürgenssen und Karin Sander eine weitere bedeutende Akteurin der zeitgenössischen Kunstwelt. Der Fokus der Ausstellung liegt dabei auf dem spirituellen Denken der Künstlerin und den mystischen Aspekten innerhalb ihrer Performance Art.

Edit: Nach Ablauf der Ausstellung mussten die Abbildungen aufgrund der Bildrechte entfernt werden.

Die Kunsthalle Tübingen hat sich in den letzten Jahren zu einem bedeutenden Ausstellungshaus für aktuelle künstlerische Positionen entwickelt, das aus verschiedenen Perspektiven die Kunstwelt befragt. Auch in der aktuellen Ausstellung wird ein ganz bestimmter Fokus auf die Kunstwerke von Marina Abramović gelegt. Zum ersten Mal werden besonders das spirituelle Denken und die mystischen Aspekte in den Arbeiten der serbischen Künstlerin herausgearbeitet.  

Marina Abramović und die Verbundenheit mit Tübingen  

Vielen ist Marina Abramović keine Unbekannte. Mit ihrer Performance Art schockt sie seit den 1960er Jahren das Kunstpublikum. Dabei wird meist der eigene Körper und zum Akteur für künstlerisches Schaffen. Durch Zufügen von Schmerzen lotet sie die Grenzen ihres Bewusstseins aus, bis zur Überschreitung des Rationalen. Mithilfe von Sprache oder unkontrollierten Bewegungen setzt sie Unterbewusstes oder verdrängte Erinnerungen frei.  

Bereits ab 1975 wurden Kunstwerke von Abramović auch immer wieder in Tübingen gezeigt. Die Galerie Ingrid Dacić zeigte zunächst Arbeiten auf Papier, später auch Aktionskunst. Das Ehepaar Dacić war mit der Künstlerin eng befreundet. Ein reger Austausch entstand. Die Kunsthalle Tübingen zeichnet diesen Weg im ersten Raum der Ausstellung biographisch und künstlerisch nach und bettet die Arbeiten und den Kontext der Galerie Ingrid Dacić in das gesamte Schaffen Abramovićs ein.  

Von der Familie Dacić wurden wir sehr herzlich aufgenommen, es war wie im Paradies 

Marina Abramović

Freeing the Memory  

Befreiung, Aufarbeiten der eigenen Vergangenheit und frühe Kindheitserinnerungen sind oft zentrale Aspekte in den Arbeiten der serbischen Künstlerin, die in einem strengen und – nach eigenen Aussagen – gefühlskalten Elternhaus aufwuchs. Kunst bildete bereits in der jüngsten Kindheit Halt und Ausdrucksmöglichkeit von Empfindungen und Gefühlszuständen. In „Freeing the Memory“ aus dem Jahr 1975 spricht Marina Abramovic mit direktem Blickkontakt zum Publikum. Ohne Sinnzusammenhang reiht sie serbische Wörter aneinander, gerade wie sie ihr in den Sinn kommen. Die Auseinandersetzung zielt klar auf ihre eigene Identität, auf ihre Herkunft, ihren Ursprung. Mithilfe der Sprache artikuliert sie einen Bereich zwischen Bewusstsein und Unterbewusstsein. Für uns Betrachter*innen wird die Künstlerin selbst zum Kunstwerk. Ihre Wörter können wir nur verstehen, wenn wir die Sprache sprechen. Aber dies ist nicht notwendig. Wir sehen ihren Ausdruck, ihre Mimik, die mehr verrät, als die Worte je vermögen könnten. Das Kunstwerk besteht aus der Aktion Abramovićs selbst – ihrem Verhalten und Handeln innerhalb der Dauer der Performance. 

Symbiose aus Kunst und Leben – Abramović und Ulay

Zwölf Jahre lang agierte sie gemeinsam mit ihrem Partner Ulay (Frank Uwe Laysiepen, 1943–2020). Ihre Partnerschaft beschränkte sich nicht nur auf die künstlerische Arbeit. Die beiden waren auch emotional miteinander verbunden. Einige dieser gemeinsamen Projekte werden auch in der Kunsthalle Tübingen gezeigt, wie etwa „The Other. Rest Energy“ aus dem Jahr 1981. In dieser Aktion stehen sich Ulay und Abramović gegenüber, Pfeil und Bogen in der Hand. Die vergiftete Pfeilspitze ist auf das Herz der Künstlerin gerichtet. Durch zurücklehnen ihrer Körper bringen sie Spannung in den Bogen. Beide Künstler*innen sind mit Mikrophonen ausgestattet, die die schneller schlagenden Herztöne aufzeichnen. 1988 aber ist mit der gemeinsamen Arbeit Schluss. Ihre Liebesbeziehung war schon eher beendet. Mit der dreimonatigen Performance „The Lovers“, bei der sich die beiden auf der Chinesischen Mauer trafen, nachdem sie an den entgegengesetzten Enden ihren je 2000 km langen Weg zurückgelegt hatten, setzen sie einen Endpunkt an ihren gemeinsamen Weg.  

Befreiung, Reinigung, Grenzerfahrung des Ichs 

Verschiedene künstlerische Strategien werden von Marina Abramović zum Bestandteil ihrer Aktionskunst. Die Beschäftigung mit der eigenen Person, ihrer Herkunft und ihre persönlichen Beziehungen werden durch bestimmte Handlungen transformiert und aufgearbeitet. Schmerzen, Grenzerfahrungen und Angst sind gerade in den anfänglichen Jahren die Hauptbestandteile von Performances wie „The Onion“ aus dem Jahr 1995, in welcher die Künstlerin eine rohe Gemüsezwiebel samt Schale isst und sich über ihr Leben beklagt.  

Beschäftigung mit Religionen, Natur und dem Transzendenten 

In den letzten Jahrzenten wurde der Aspekt des Mystischen im kunsthistorischen Diskurs im Werk Abramovićs immer wieder betont. Vielleicht können die Werke in letzter Konsequenz auch nur dann richtig verstanden werden, wenn sie in eben jenen Kontext eingebettet werden. Analogien zu religiösen Riten und Praktiken treten bereits in früheren Performances hervor. Selbstgeißelung – im Christentum als Grenzerfahrung praktiziert, um durch die Schmerzen Gott näher zu kommen – wird von der Künstlerin ebenso praktiziert, wie die völlige Verbundenheit des eigenen Körpers mit der Natur, wie wir sie in den beiden Performances „Sleeping under the Banyan Tree“ (2010) und „The Current“ (2017) finden. In beiden Arbeiten liegt die Künstlerin in der Natur, die Augen fest verschlossen. Die einzige Bewegung wird durch den Wind suggeriert, durch wehende Äste oder Haare der Künstlerin. Der Körper ruht in der Natur. Eine Verbindung, die sie in früheren Arbeiten oft über Sprache fand, wird hier komplett zurückgenommen. Der „Bildausschnitt“ und die Inszenierung an sich wird für uns Betrachter*innen stattdessen entscheidend. Die Künstlerin ist mit der Natur verbunden. Wir sind es, die dieser Szene als Außenstehende begegnen und lediglich eine beobachtende Funktion einnehmen können.  

In „The Current“ wird aber auch deutlich, wie sich Abramović hinsichtlich ihres künstlerischen Schaffens immer wieder selbst neu befragt. Zitate aus früheren Arbeiten, wie die Verwendung von Kristallen, tauchen hier und dort auf.  

Die Ausstellung „Unser Selbst. Jenes Selbst“ wurde in enger Zusammenarbeit der Kunsthalle Tübingen mit Marina Abramović und ihrem Studio realisiert und ist noch bis zum 13. Februar 2022 zu sehen.