Wild gesprayt oder mit Konzept
Meist sind es bauchige Buchstaben, Abkürzungen, kleine Signaturen, sogenannte „Tags“ oder auch Botschaften, die schnell und möglichst unbemerkt mit einer Spraydose auf freie Flächen aufgetragen werden. Eine weiße Wand willkürlich mit Farbe besprüht, mag ärgerlich sein und läuft unter Sachbeschädigung; tragischer aber, wenn es sich dabei um denkmalgeschützte Gebäude oder Materialien wie Sandstein handelt, die sich nur schwer reinigen lassen. Es ist jedoch der Reiz des Illegalen, das potentielle Risiko erwischt zu werden, sich zugleich im öffentlichen Raum zu zeigen und sich mit seinen künstlerischen Fähigkeiten möglichst dauerhaft zu verewigen, das Sprayer*innen und Streetartkünstler*innen zu ihrem gestalterischen Ausleben verleitet. Dass mit der Verwendung von Spraydosen durchaus von einer ernst zu nehmenden künstlerischen Maltechnik gesprochen werden kann, lässt sich aber kaum bestreiten.
Streetart gilt als eine kreativ geleitete Ausdrucksform, die eigentlich kostenlos erfahrbar ist und sich weniger an einer kommerzialisierten Kunstform orientiert, sondern Kapitalismus und Konsum kritisch kommentiert. Sie erreicht Menschen aus allen Gesellschafts- und Bildungsschichten zu jeder Tages- und Nachtzeit, sofern die Werke hindernisfrei zugänglich sind. Einer der wohl derzeit berühmtesten (und vielleicht auch berüchtigtsten) Vertreter ist Banksy, der mit Schablonentechnik politische und gesellschaftskritische Motive erschafft, die sich über Soziale Medien und Presse rasend schnell weltweit verbreiten. Der Mythos um seine Identität und öffentlichkeitswirksame Aktionen, wie beispielsweise das halbseitige Zerschreddern eines Werkes während einer Auktion (Sotheby’s, 05.10.2018; erneut dort versteigert am 14.10.2021) haben sicherlich zu seinem – auch kommerziellen – Erfolg beigetragen. Es ist ebendieser Grat zwischen illegalem Sprayen und Auftragswerk, der sich nun bei der Streetart wiederfindet und Diskussionspunkte bildet.
Schadensbegrenzung mit Potenzial
Nicht immer sind die (illegal) gesprühten Objekte ästhetisch umgesetzt oder bringen einen künstlerischen Mehrwert mit sich. Die Spanne zwischen eigennütziger Signatur, Zurschaustellung und durchdachtem, künstlerischen Werk ist groß. Es ist durchaus verständlich, dass Parolen oder inhaltslose Aussagen am Eigentum unerwünscht sind. Um gegenzusteuern bietet es sich an, exponierte und einfach zugängliche Flächen aktiv Künstler*innen zur Verfügung zu stellen. Natürlich geht dabei der Reiz des Verbotenen verloren, aber die Möglichkeit ein Motiv zu erschaffen, bei dem die eigenen künstlerischen Fähigkeiten und detailreiche Ausarbeitung im öffentlichen, urbanen Raum gezeigt werden können, sind durchaus ein attraktives Angebot. Kunst wird greifbar und direkt; die Schwelle und vielleicht auch Berührungsangst können einfacher überwunden werden.
Trafohäuschen bieten in der Regel vier Seitenwände, die meist in weißer Farbe gestrichen sind und geradezu einladen, sich kreativ auszutoben. Mit einer Auftragsarbeit werden nicht nur künstlerische Potenziale gefördert, sondern die Werke können unvermittelt auf die Umgebung reagieren, sie aufnehmen und etwas zurückgeben. Für den Egeriaplatz in Tübingen haben die Stadtwerke Tübingen den lokalen Künstler und Sprayer Johannes Blinkle beauftragt, der unter dem Künstlernamen Looven bekannt ist, das Trafohäuschen sowie den danebenstehenden Telekom-Verteiler zu gestalten. Ähnlich der klassischen Tafelmalerei grundierte Looven die Wände vorab mit weißer Farbe, wobei er dabei schon bestehende Tags und Graffiti übermalte. Wie er verriet, sei das irgendwie nicht ganz okay, aber Übersprayen sei nun mal auch Teil der alltäglichen Streetart-Szene. Begrifflich lässt sich hier abgrenzen, so sammeln sich hinter Graffiti vor allem illegal gesprayte Bilder und Worte, während mit Wandmalerei und vor allem dem englischen Äquivalent Mural großformatige, motivisch zusammenhängende Werke gemeint sind.
Rückgriff auf historische Vergangenheit
Um auf die Neugestaltung und kommende, autorisierte Bemalung der Trafostation hinzuweisen, erhielten die Anwohner*innen am Egeriaplatz vorab einen Brief der Stadtwerke mit einem Motiventwurf des Künstlers. Schon da zeigte sich ein überlegtes Muster mit Blumen, das sich an der Geschichte des Viertels orientierte: Der heute belebte Stadtteil Alte Weberei in Tübingen-Lustnau mit Wohnungen, Gewerbebetreibenden und Gastronomie erinnert vor allem noch mit seinem Namen und dem prägnanten Firmengebäude mit Turm der Marke Egeria an seine Vergangenheit als Mittelpunkt der Tübinger Textilindustrie. Zwischen 2011–2015 wurde das Stadtquartier neu erschlossen. Neben dem Erhalt des ehemaligen Verwaltungsgebäudes der Firma Egeria, das etwas quer stehend und mit dunkelgrauem Anstrich den Platz dominiert, sind rundherum die Wohngebäude mit charakteristischen Innenhöfen geschaffen. Die architektonische Vielfalt sticht hervor; Alt und Neu treffen an verschiedenen Ecken aufeinander.
Textilmuster: Gestickt, aber gesprüht
Angelehnt an diese historische Bedeutung der industriellen Textilherstellung, gestaltete Looven ein farbenfrohes Stickmuster für das Trafohäuschen. Anhand ebenso gestickter Blumen bringt er eine aufbrechende Dynamik in das zu Grunde liegende, regelmäßige Stickbild ein. Das aus vielen Strichen, Punkten und Linien bestehende Werk sprühte der Künstler an mehreren Schönwetter-Tagen mit akribischem und kleinteiligem Vorankommen, ganz ähnlich dem Vorgang des Stickens mit Nadel und Faden, aus einzelnen Farbflächen über- und nebeneinander. Mit Grundlinien, Umrissen sowie deckenden und verlaufenden Farbschichten baute sich das Wandbild abschnittsweise auf und ließ das Motiv im Werkprozess immer deutlicher hervortreten.
Moderne Sprühtechnik trifft auf altes Kunsthandwerk: Die schon seit Jahrhunderten bestehende Technik von kunstvoll gewirkten Wandteppichen und Tapisserien ist nun von ihrer stofflichen Haptik in eine eigentlich glatte Farboberfläche überführt. Umgekehrt, ähnlich den Fäden eines Wandteppichs, wirkt mit dem rauen Verputz und den Lüftungsgittern des technischen Bauwerks das Mural belebt und zusammen mit den Farben vibriert das Bild beim Betrachten. Kunst vermag die Verknüpfung und Adaptierung von Techniken und Materialien zusammenzubringen sowie gegenüberzustellen und ermöglicht das Ausprobieren – Streetart lässt uns als Rezipierende unvermittelt und unvorbereitet jederzeit daran teilhaben.
In Tübingen ist dieses Trafohäuschen nur eines von vielen, das ein neues Gewand bekommen hat. An immer mehr Ecken, auch deutschlandweit, lassen sich derartige große Wandmalereien entdecken, die verschiedene Künstler*innen per Auftrag erarbeitet und ausgeführt haben. Freie Flächen gibt es genügend und nach Looven ist die Auftragslage so gut, dass Künstler*innen davon ihren Lebensunterhalt bestreiten können.
Vielen Dank an Looven für die Einblicke während des Sprayens sowie an Christian Stiegler der Stadtwerke Tübingen für die freundlichen Auskünfte.