Ralf Ehmann – im Garten des Bildhauers

“Im Garten des Bildhauers” – eine Ausstellung im Künstlerbund Tübingen. Gezeigt werden Arbeiten von Ralf Ehmann, die uns auf Zeitreise durch die Mythologie und Erzählungen durch die griechische Antike einladen. Ein Artikel von Sarah Hergöth und Elisabeth Weiß.


Figurative Dominanz

Betritt man die Räumlichkeiten des Künstlerbundes in der Metzgergasse in Tübingen, wird der Blick sofort auf die zentral in der Raummitte aufgestellte Figur gelenkt. Schon allein der Größe wegen dominiert sie den Eingangsbereich. Der Aufstellungsort scheint an dieser Stelle perfekt. Man kann die Plastik nämlich von allen Seiten betrachten – sogar von oben, eine seltene Möglichkeit, einen solch umfassenden und allumsichtigen Eindruck zu bekommen. 

Eine fast menschengroße Gipsplastik verharrt auf einer Stange in einem Fallmoment.
Ralf Ehmann. Lethe – Fluss des Lebens. Gips. © Künstler. Foto: Ralf Ehmann.

Der Moment, der sich in Bewegung befindenden Figur, findet sich in mehreren Arbeiten in der Ausstellung wieder. Der Kontrast zwischen dem starrem Material wie Bronze, Gips oder Marmor wird durch die Modellierung und Ausgestaltung der Oberfläche und eben jenem Moment der Bewegung mit Spannung aufgeladen. Dadurch erhalten diese harten, schweren Materialen auch etwas Leichtes. 

Lethe – Fluss des Vergessens

“Lethe – Fluss des Vergessens” lautet der Titel gleich mehrerer Arbeiten und steht für einen Fluss der Unterwelt aus der griechischen Mythologie. Wer aus diesem Fluss trank vergaß vor dem Eintritt in die Totenwelt die komplette Erinnerung an das vergangene Leben. 

Eine fast menschengroße Gipsplastik verharrt auf einer Stange in einem Fallmoment.
Ralf Ehmann. Lethe – Fluss des Lebens. Gips. © Künstler. Foto: Ralf Ehmann.

Die Griechische Mythologie spielt allgemein im Werk Ehmanns eine wichtige Rolle und dient oft als Inspiration und Grundlage für Malerei, Druckgraphik oder eben auch Skulptur. Die intensive Auseinandersetzung mit ihr und die für uns immer wieder äußerst spannende künstlerische Umsetzung, die Ralf Ehmann uns Betrachtenden präsentiert, beeindruckt enorm. Man fängt selbst an beispielsweise über einen Fall nachzudenken. Wir weit man wohl stürzen muss, um in die Position des raumdominierenden Lethe zu verfallen? Es muss eine lange Strecke sein, oder etwa nicht? Würden wir nicht sonst versuchen unsere Arme abfedern nach vorne zu strecken? Oder irgendwo etwas zu ergreifen, um einen Aufprall zu verhindern? 

Ralf Ehmanns Auseinandersetzung mit Hendrik Goltzius?

Der Fall an und für sich und vor allem die intensive künstlerische Auseinandersetzung mit dieser Bewegungsform, lässt sich in der Kunstgeschichte immer wieder finden. Eine der bekanntesten Umsetzungen ist von Hendrik Goltzius, einem der wohl berühmteste Künstler Europas um 1600. Seine Kuperstichfolge die „Vier Stürzenden“, die er 1588 erschuf, dienen bis heute Künstler*innen bei der Beschäftigung mit dieser Bewegungsart. Wie langwierig dieser Prozess sein kann und wie viele Gedanken es benötigt, bis ein “Endprodukt” entsteht, das all die Überlegungen vereint, zeigt sich hier im Raum schon allein dadurch, dass wir oben auf der Empore zwei weitere Kunstwerke mit dem gleichen Titel finden können. Vorstudien, wenn man so möchte.

Zwei Bronzefiguren, etwa unterarmlang, verharren auf einer Stange in einem Fallmoment.
Ralf Ehmann. Lethe – Fluss des Lebens. Bronze, 2018. © Künstler. Foto: Ralf Ehmann.

Lethe – Plastizität aus Fleisch und Blut

Betrachten wir nun Ehmanns Plastik genauer, beeindruckt uns nicht nur die Darstellung des Sturzes. Die Bearbeitungsweise des Gipses ist herausragend. Das elegante Linien- und Schraffursystem mit seinen an- und abschwellender Linien, die Licht und Schatten entstehen lassen und der übertrieben muskulöse Körper verleihen solch eine Plastizität, die uns Betrachtenden einen Mensch aus Fleisch und Blut fühlen lassen. Eine besondere Qualität dieser Arbeit liegt außerdem in der Bewältigung der ungewöhnlichen anatomischen Verkürzungen und Perspektiven. Dies zeigt sich schon in den Vorstudien.

Doch kommen wir nochmals kurz zur Haltung. Vergleicht man die drei Plastiken “Lethe – Fluss des Vergessens” lässt sich nicht nur ein intensives Studium mit dem Sturz erkennen, sondern eben auch die Auseinandersetzung mit der griechischen Mythologie. Stützt unsere Figur hier nun gerade in den Fluss, wohlwissend, was passiert, wenn sie einen Schluck des kühlen Nasses kostet? Oder ist sie schon frei von allen Erinnerungen, den guten wie auch schlechten, die das Leben mit sich brachte und kann nun unbeschwert den nächsten Weg antreten? Man kann in diese Körperhaltung viel interpretieren, es öffnen sich bei allen Betrachtenden ganz andere Gedankenschubladen.

Der Titan “Atlas”

Eine Kugel in der Hand balancierend neigt sich der Atlas, eine männliche Bronzefigur, weit nach hinten.
Ralf Ehmann. Atlas. Bronze. © Künstler, Foto: Sarah Hergöth.

Auch die Figur auf der vorangegangen Fotografie zeigt ein Thema beziehungsweise eine Person aus der griechischen Mythologie. Der Titel des Werkes lautet “Atlas” – ein Titan der das Himmelsgewölbe am westlichsten Punkt der damals bekannten Welt stützte. 

Die Darstellung von Atlas ist in der Kunstgeschichte weit verbreitet. Interessant an der Interpretation von Ralf Ehmann ist wiederum die Bewegung der Figur an sich. Der gedrehte Körper, der nach hinten zu kippen droht, zeigt in der einen Hand die Erdkugel, der andere Arm liegt in entgegengesetzter Richtung. Physikalisch scheint diese Pose in dieser Haltung unmöglich, aber genau hier liegt wiederum die Spannung, die sich für uns Betrachter*innen offenbart. Durch die Neigung der Figur, werden wir Zeug*innen eines Moments, der normalerweise nur für den Bruchteil einer Sekunde wahrnehmbar ist, ähnlich wie bei den fallenden Figuren. Dadurch ergeben sich in unseren Köpfen automatisch Ergänzungen im Bewegungsablauf. 

Interessant ist die fast schon spürbare Spannung des muskulösen Körpers, ja beinahe schon eine Anspannung, die das Moment der Bewegung verstärkt. 

Was uns persönlich außerdem an dieser Plastik fasziniert ist das Verständnis von Raum bzw. Räumlichkeit. Statt einer vertikalen Darstellung wählt Ehmann eine diagonale, ja man kann sagen, horizontale Achse. Dadurch ist die Figur diesem Kipp-Moment ausgesetzt, wodurch dem starren Material Bronze Bewegung und wiederum Leichtigkeit eingehaucht wird. 

Beuys, Giacometti und indigene Kunst

Auf einem schmalen Holzbrett reihen sich zahlreiche Figurinen aus Bronze.
Ralf Ehmann. Figurinen. Bronze. © Künstler. Foto: Ralf Ehmann.

Neben Themen und Figuren aus der griechischen Mythologie tauchen bei Ralf Ehmann auch immer wieder bekannte Persönlichkeiten aus der Kunstgeschichte selbst auf. In den kleinen Figurinen entdeckt man an der einen oder anderen Stelle einen Alberto Giacometti, einen Joseph Beuys oder vielleicht aber auch eher afrikanisch oder indigen anmutende Kunstwerke. Die Adaption bekannter Darstellungen aus der jüngeren und älteren Kunstgeschichte zeugt von einer Selbstbefragung und ein sich immer wieder aufs Neue selbst verorten. 

Material & Figur – der Weg hinaus

Außer den Figuren und Skulpturen, die klar das Moment der Bewegung aufgreifen und Körper in verschiedenen Posen thematisieren, finden wir auch immer wieder Skulpturen, die die Beschaffenheit des Materials und des Mediums an sich verhandeln. “Heraustretende” und “Metamorphose” zeigen menschliche Figuren, deren Körper nur teilweise ausgearbeitet und teilweise noch im Stein “versteckt” sind. Diese Technik des sogenannten “non-finito” ist in der Kunst nicht ungewöhnlich, wollen wir hier an keinen geringeren als Auguste Rodin erinnern. Die Spannung entsteht durch die feine Ausarbeitung der menschlichen Körper, der Oberfläche und Modellierung und dem nicht zu Ende ausgearbeiteten Teilen, die den Fokus mehr auf die eigene Materialität legen. Von uns Rezipient*innen verlangen sie einen Austausch – Kommunikation, wenn man so will. Wir werden eingeladen die Darstellung weiter zu denken, zu überlegen, was sich wohl in den unbearbeiteten Teilen versteckt.

Das Zusammenspiel von Körper, Bewegung, Material und Raum

Die Arbeiten, die wir hier vor uns sehen, eint die absolute Betonung der menschlichen Figur in unterschiedlichen Ausformungen. Der Körper in Bewegung, der Körper zwischen Material und Raum oder aber auch unterschiedliche Körper an sich, wie wir es in den Figurinen vor uns haben. Ein weiterer Aspekt ist der verwandelte Körper. Im hinteren Bereich dieses Raumes begegnen wir einem Thema, das wiederum aus der griechischen Mythologie entlehnt, in der Interpretation Ehmanns doch zu ganz eigenen und freien Gestaltungen findet. 

Halb Tier, halb Mensch

Der Minotaurus, als Mischwesen aus Stier und Mensch wird bis heute immer wieder Eingang in der Kunst verarbeitet. Eine der bekanntesten Darstellungen ist wohl die Minotauromachie von Picasso. Bei Ehmann dient die Textgrundlage eher als Ausgangspunkt für eigene Interpretationen. Das Thema wird teilweise abgewandelt und neu gedacht  – er zeigt den Minotaurus mit anderen Figuren oder einzeln in unterschiedlichsten Posen. 

Collage aus Druckgraphieken und Plastiken, die gemeinsam ein Labyrinth formen.
Ralf Ehmann. Labyrinthos (Collage aus zahlreichen Darstellungen zum Thema „Minotaurus“. @ Künstler. Foto: Ralf Ehmann.

Gekonnt kombiniert Ehmann hier in der Ausstellung seine zahlreichen künstlerischen Umsetzungen zu einem großen Erzählstrang. Unsere Augen folgen den Rahmen und Zwischenräumen wie durch ein Labyrinth. So lässt sich sogar in der Hängung das intensive Studium mit alten Mythologie entdecken.

Im Garten des Bildhauers Ralf Ehmann

Somit schließt sich hier der Kreis der Studien mit der menschlichen Figur. Ralf Ehmann ist ein Künstler, der künstlerische Lösungen nicht in der Abstraktion findet, sondern immer wieder – und dies durchaus auf unterschiedliche Arten – den menschlichen Körper, dessen Bewegungen, aber auch Charaktereigenschaften von Individuen in den Fokus seiner Arbeit stellt. Dadurch entsteht diese unglaublich sensible Auseinandersetzung mit dem gewählten Material, mit der Materialität aber auch der dargestellten Person oder Figur. In all seinen Werken ist ein intensives Studium und ein enormes Vorwissen im Umgang mit dem Material und auch gestalterischen, philosophischen und handwerklichen Aspekten zu erkennen.

Im Fokus eine Gipsportrait von Glenn-Gloud.
Ausstellungsansicht „Der Garten des Künstlers“ von Ralf Ehmann.

Die Mimiken und Gestiken der Plastiken lassen diese lebendig wirken. Sie geben uns das Gefühl in diesem Moment real zu existieren. Das Material selbst tritt dabei nicht in den Hintergrund, sondern unterstreicht die Figur, das Figürliche. Egal ob Stein, Bronze, Gips oder Papier – der Umgang mit der menschlichen Figur bleibt zentraler Aspekt für künstlerische Lösungen.