Vom klassischen Holzschnitt über feine Radierungen und archaische Skulpturen bis hin zu völlig digitalen Bildserien: der Maler, Bildhauer und Grafiker CHC Geiselhart bedient zahlreiche Techniken und entwickelt diese für sein künstlerisches Schaffen stetig weiter. Nach seiner Ausstellung „The Dylan Series“ im BT24 Albgut Münsingen dieses Frühjahr, haben wir mit ihm über sein vielseitiges Werk gesprochen und freuen uns nun sehr, diese Einblicke mit euch zu teilen!
Julia: Sie haben Ende der 1960er Jahre angefangen an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart zu studieren. Mit welche Aspekten des bildnerischen Arbeitens haben Sie sich damals am intensivsten befasst? Hat sich Ihr Schwerpunkt im Laufe des Studiums verändert? Wenn ja, aus welchen Gründen?
CHCG: Als ich im Juni 1969 an der Akademie der Bildenden Künste Stuttgart aufgenommen wurde, stand der Studiengang der Akademie in Folge der Studentenunruhen 1968 vollkommen auf dem Kopf. So wurde ich von Prof. Gunter Böhmer direkt in seine Fachklasse für Freie Graphik aufgenommen, ohne den sonst üblichen Weg über die Grundklassen gemacht zu haben.
Zudem kam ich unmittelbar nach der bestandenen Abiturprüfung vom Gymnasium und sah mich als Erstsemester mit Kommilitonen konfrontiert, die 26 – 32 Semester auf dem Buckel hatten. Entsprechend frei schwebend – um das Wort „chaotisch“ zu vermeiden – verliefen auch die beiden ersten Semester.
Erst ab dem 5. Semester, nach Absolvierung einer Werkklasse bei Prof. Horst Bachmayer mit Werk- und Schriftprüfung, kam ich durch Prof. Peter Grau zur Radiertechnik, der ich mich weiterführend bis zum Abschluß an der Akademie intensiv gewidmet habe.
Julia: Danach haben Sie in Tübingen und Stuttgart zudem noch Kunstgeschichte studiert. Sind Malerei, Bildhauerei und Druckgrafik für Sie immer auch Blicke in die kulturelle Vergangenheit? Ist Ihnen der theoretische Hintergrund wichtig für die praktische künstlerische Arbeit?
CHCG: „Danach“ muss ersetzt werden durch „parallel“, Stuttgart war zuerst, danach Tübingen als Gasthörer. Ab 1970 hatte ich mich zwischen der Studienrichtung „Freie Kunst“ und „Kunsterziehung“ zu entscheiden. Grundlage dieser Entscheidung war die Aussage, dass ich jederzeit „Freie Kunst“ machen konnte,für eine geordnete Lehrtätigkeit allerdings war der mit Prüfungen begleitet Studiengang „Kunsterziehung“ Voraussetzung. Das Studium der Kunstgeschichte war als wissenschaftliches Beifach kurz zuvor in Baden-Württemberg zugelassen worden – für mich eine logische und sinnvolle Ergänzung.
Das Studium der Kunstgeschichte vermittelt einen umfassenden Einblick in die Evolution der Menschheit. Ein Blick in die Lehrbücher zur Geschichte mag dies belegen – in der jeweils zeitgenössischen Kunst spiegeln sich die geschichtlichen Ereignisse der Jahrhunderte. Zudem stellt die Kunstgeschichte ein großartig anregendes Bildgedächtnis dar – schon immer haben die Nachkommenden über die Vorgaben der Vorangegangenen aufgebaut. Anregungen sind wesentlich, nichts kommt aus dem „Off“.
Durch die spätere Lehrtätigkeit konnte ich meine Arbeit wirklich frei entwickeln und meine Inhalte und Themen absolut selbst bestimmen. Mit anderen Worten: Ich war nie abhängig vom Verkauf meiner Arbeiten.
Julia: Zur aktuellen Ausstellung im BT24 Albgut Münsingen: Hier zeigen Sie die digitale Bilderserie „The Dylan Series“ in Verbindung mit zahlreichen Holzskulpturen, den „Wächtern“. Welches verbindende Element sehen Sie selbst in diesen beiden zunächst völlig entgegengesetzten Arbeitsweisen? Was reizt Sie an den Möglichkeiten des reellen bzw. digitalen Materials?
CHCG: Ich definiere mich als Maler, Bildhauer und Drucker. Der Reiz all dieser Möglichkeiten liegt im steten Wechsel. Durch das andere Material, die andere Technik, kann ich meiner Werkreihe „TRANSITUS“, die ich seit 1990 nunmehr im 31. Jahre verfolge, immer wieder neue Aspekte abgewinnen.
Auch wenn die digitale Technik auf den ersten Blick als „völlig entgegengesetzt“ erscheinen mag, im Grunde funktioniert die Erstellung einer „digitalen Collage“, wie ich diese Arbeiten charakterisiere, immer noch nach den gleichen elementar-formalen Regeln der Bildgestaltung.
Julia: Die formale und materielle Strenge der Skulpturen steht den geradezu verspielten, digitalen Bildern deutlich entgegen. Ist das Gegensätzliche ein wiederkehrendes Thema in ihrem Schaffen?
CHCG: Grundsätzlich gilt: Wahrnehmung erfordert den Kontrast! In der aktuellen Ausstellung in der Kulturwerkstatt BT24 mag der Gegensatz zwischen den Arbeiten an der Wand (The Dylan Series) und den frei im Raum stehenden Skulpturen auf den ersten Blick sehr stark sein. Allerdings gibt es auch einige sehr streng aufgebaute Arbeiten bei den digitalen Ausdrucken auf Alu-Dibond.
Die formale und materielle Strenge der Skulpturen ist durch den inhaltlichen Ansatz bedingt. Entscheidend dafür ist die weitgehend durchgehaltene Frontalität, welche die Skulptur für die Betrachter*innen zu einem Gegenüber macht. Ausgangspunkt ist die kleine philosophische Schrift von Martin Buber „Ich und Du“ aus dem Jahre 1923, in der Buber aufzeigt, dass das „Ich“ erst in der Reflektion des „Gegenüber-Du“ sich selbst bewusst werden kann.
Bei Dylan findet diese Reflektion-seiner-Selbst, diese Bildung von Bewusstsein nur mit anderen Mitteln, in einer anderen Zeiterscheinung statt. Im Grunde geht es bei Bild und Skulptur um etwas sehr Ähnliches, sehr Elementares – ich habe dafür die Werkreihe TRANSITUS eingerichtet.
Julia: Wie kam es zur Themenwahl „Bob Dylan“? Welche Verknüpfungen musikalischer Geschichte und bildnerischer Gestaltung treffen hier aufeinander?
CHCG: Hier darf ich zunächst auf einen Auszug aus meinem Text zu den Dylan Series verweisen:
„Musik ist ein Lebenselixier! Wohl schon immer! Ab den frühen 1960er Jahren aber entwickelte die neue und aktuelle Musik zunehmend eine gesellschaftliche Revolution. Erfasst wurden davon vor allem die Jugendlichen und die geistig offenen Erwachsenen. Das öffentliche Leben war damals vorwiegend grau und von strengen Konventionen geprägt. Plötzlich wurde die Kleidung bunter und phantasievoller, die Röcke der jungen Frauen kürzer, die Haare der Männer dafür umso länger. Man suchte die neue Musik im Radio, verfolgte die Mittwochsparty und die Hitparade auf Radio Luxemburg. Man hörte und las mit Erstaunen und Neugierde von Jack Kerouac und Allen Ginsburg. Mit dem Beat-Club von Radio Bremen gab es ab 1965 zum ersten Mal eine TV-Sendung mit dieser neuen Musik, eine Sendung, die explizit für Jugendliche konzipiert wurde.
Neben der großen Zahl an Beatgruppen im Gefolge von Beatles und Rolling Stones (Kinks, Small Faces, Yard Birds, Beach Boys, Animals, Who, Spencer Davis Group, Byrds, … bis hin zu Pink Floyd, Cream, Jimi Hendrix und Velvet Underground, die alle im Ursprung vom amerikanischen Blues und Rock’n Roll der 1950er Jahre angeregt waren) gab es eine Stimme aus der Folk-Bewegung, die auffiel: Ein Singer/Songwriter, der seine eigenen Songs allein mit Gitarre und Bluesharp vortrug und damit Furore machte. Sein Name: Bob Dylan.
Man stelle sich vor – es gab eine Zeit ohne Smartphones, ohne jederzeitige Verfügbarkeit von Musik-Streaming, ohne Podcast und Ohrstöpsel. Wollte man diese Musik nahe und erlebbar bei sich haben, mußte man selbst zu einem Instrument greifen. Es war die große Zeit der Gitarre.“
So lernte ich schließlich selbst mit Gitarre und Bluesharp Straßenmusik zu machen – es war und ist ein Lebensgefühl. Von daher ist es zur bildenden Kunst nicht weit!
Julia: Welche Wechselwirkungen von Kunst und Musik können Sie beobachten / interessieren Sie?
CHCG: Die Kunstwissenschaft kennt die alte Vorstellung vom Zusammenwirken aller Künste – man spricht hier vom Gesamtkunstwerk. Allerdings ist damit selbstredend ein hoher Anspruch verbunden. Um dies an einem Beispiel aus unserem Alltag zu verdeutlichen: Wir gehen durch einen Supermarkt – unzählige Farben und unterschiedlichst geordnete Formen erscheinen und gleiten an unserem Auge vorbei, ebenfalls bewegt und in ständiger Wandlung begriffen, ist die Begegnung mit anderen Menschen, die unaufhörlich Stilleben auf den Kassenbändern aufbauen. Über allen säuselt im Endlosband die sogenannte Fu-Mu, die funktionale Musik. Auch eine Art Gesamtkunstwerk!?
Ein zweites Beispiel, aktuell resultierend aus der Tatsache, dass ich im zarten Alter von fast 72 Jahren dieser Tage pandemiebedingt erstmals ein selbsthergestelltes Video auf Youtube eingestellt habe:
Ein Betrachter, den ich seit einiger Zeit ob seiner wunderbar-differenzierten Wahrnehmung sehr schätze, teilte mir dazu mit, dass meine völlig tonspurlosen Videos dadurch eine „entschieden kathartische, den Bildraum öffnende Wirkung“ entfalten würden. Mithin stellt dies wohl eine Art Alleinstellungsmerkmal auf Youtube dar.
Julia: Das Element der Collage zieht sich durch die gesamte Werkreihe der „Dylan Series“. Ist das als Parallele zum aktuellen Medienzeitalter zu lesen, in dem Informationen häufig nur noch als Fragmente erlebt werden?
CHCG: Nein. Die Collage ist in dieser Serie die Möglichkeit verschiedene Aspekte und Relikte bildnerisch zusammenzubringen. Immer ausgehend von meiner eigenen Erinnerung und den überlieferten/überkommenen Bildern. Für mich stellen die Arbeiten der „Dylan Series” eine sehr persönliche Wanderung durch erlebtes Zeitgeschehen dar.
Das deutlichste Beispiel dafür kann man in meinem begleitenden Katalog der Dylan Series auf Seite 10 finden: Auf der 2020 erschienen CD „Rough and Rowdy Ways“ stellt Bob Dylan in dem 17-minütigen Stück mit dem Titel „Murder Most Foul“ den Mord an John F. Kennedy als epochales Ereignis an den Beginn. Ich konnte meine Tagebuchnotiz vom 22.11.63 daneben stellen: Kennedy erschossen! Dick unterstrichen – die Betroffenheit des damals knapp 14-jährigen ist deutlich zu spüren. Das ist Zeitgenossenschaft! Ulrich Breth nennt dies im Katalog „Beweisstücke im historischen Prozeß“.
Julia: Welchen Stellenwert haben zukünftige (digitale) Entwicklungen für Sie? Sehen Sie die heutigen Möglichkeiten als Chance oder überwiegen für Sie die negativen Punkte dieses Prozesses?
CHCG: Eine abschließende Bewertung ist nicht möglich. Allerdings ist es eine Tatsache, dass sich im Laufe der letzten 50 Jahre der Informationsfluss in dominanter Tendenz vom Wort weg hin zum Bild entwickelt hat. Offensichtlich gibt es heute oftmals schon Schwierigkeiten im Verstehen und Erfassen von längeren Texten. Dabei mag den (un-)sozialen Netzwerken durchaus eine bedeutende Rolle zukommen.
So mag es sein, dass jungen Menschen die Kriterien zur Beurteilung und Orientierung oftmals schlicht fehlen. Angesichts der immensen Flut an Informationen habe ich den Eindruck, dass wir längst in einem Desinformationszeitalter leben. Andy Warhol postulierte zutreffend bereits in den 1960er Jahren: „In the future, everyone will be world-famous for 15 minutes.” – „In Zukunft kann jeder für 15 Minuten weltberühmt sein“.
Ich habe den Eindruck, vielen jungen Menschen vermittelt der Besitz eines Smartphones mit der Nutzung von Facebook und Co eine Art Selbstwertgefühl der eigenen Existenz. Die entscheidende Frage: Was bleibt, wenn der Akku leer ist, wenn man das Smartphone wegnimmt?
Für jemand, der in jungen Jahren den Besitz eines möglichst umfangreichen Lexikons als erstrebenswert angesehen hat, ist der Zugang zur „Welt“ mittels eines Smartphones heute sehr hilfreich. Als Jahrgang 1949 hatte ich das Glück, langsam und allmählich aufbauend Kenntnisse und Wissen über die Menschen und die komplexe Welt, in der wir leben, zu sammeln. Diese Chance haben die jungen Menschen heute nicht mehr.
Julia: Das Thema der digitalen Bildbearbeitung taucht auch in anderen Werken auf – Sie haben z. B. historische Fotos aus Nehren farblich so verfremdet, dass sie beinahe abstrakte Züge aufweisen. Welche Fragen stellen Sie selbst an diese Bearbeitungen? Was interessiert Sie an solchen Dokumenten? Welche Rolle spielt dabei der gesellschaftliche und historische Aspekt der Fotografien?
CHCG: Die Erfindung der Fotografie in den 1860er Jahren war eine Revolution – und sie hat viele Portraitmaler damals arbeitslos gemacht. Eine typische Umbruchszeit, wie wir sie heute in vielen Bereichen (z. B. in der Energiewirtschaft) auch erleben. Wesentlicher Unterschied: Die Geschwindigkeit.
Für meine Arbeit an den historischen Fotografien der „NEHRENIANA“ aus dem Jahre 1908 war die fortgeschrittene technische Entwicklung entscheidend. Durch die heute hochentwickelte Scantechnik konnten bei der entschiedenen Vergrößerung der im Original ca. 7 x 13 cm messenden, historischen Fotografien auf ein Format von ca. 33 x 50 cm viele Details erstmals sichtbar werden.
Die Begegnung mit den früheren Lebensbedingungen, der Lebensrealität um 1908, mag für die heutigen Einwohner*innen des Dorfes zu angeregten Diskussionen geführt haben, inklusive einer Übertragung und Bewertung der eigenen Lebensqualität in der Gegenwart.
Julia: Würden Sie denn auch andere digitale Medien reizen, wie z. B. Film?
CHCG: Man kann nicht alles machen! Im Gegenteil: In der Konzentration gewinnt man die Weite. Außerdem: Film wäre mir auf die Dauer zu „apparatelastig“, ich benutze Kopf und Hand, brauche den Kontakt zu Materialien wie Papier, Leinwand, Holz, Farbe, Stiften und Pinsel, Werkzeugen aller Art.
Julia: Sie arbeiten ja auch viel in Österreich, wie würden Sie die Kunstkultur dort im Vergleich zur schwäbischen Region beschreiben?
CHCG: Schwierig! Österreich hat aktuell eine Einwohnerzahl von rund 8,8 Millionen. Baden-Württemberg allein hat schon rund 11,1, Millionen. Das Übergewicht von Deutschland ist also deutlich ausgeprägt. Entsprechend zurückhaltend habe ich die Reaktionen vor Ort auf meine Arbeit erlebt. Außerhalb der großen Städte gibt es immer wieder große Anstrengungen, aber das Publikum ist dünn gesät.
Julia: Sind schon weitere Projekte nach dem BT24 geplant?
CHCG: Ja. Ich halte dies für eine Folge des Alters und der Erfahrung. Schon jahrzehntelang gehe ich ins Atelier zum Arbeiten – ich muss nicht mehr auf den „Kuss einer Muse“ warten. Die Ideen und Projekte stehen Schlange, ich muss auswählen und Vieles wird unerledigt liegen bleiben. Aber konkret: Jetzt ist die Malerei wieder einmal an der Reihe. Acht nicht ganz vollendete Leinwände in intimen Format harren seit letzten Sommer der Fertigstellung. Der Titel des Zyklus’ lautet: „TRANSITUS-tRäume“.
Außerdem liegen mindestens sechs Linolschnitt-Portraits (Format Din A3) aus der Reihe „Im Meer der Zeit“ fertig entworfen auf Halde. Noch sind sie nicht geschnitten und gedruckt. Die Liste, begonnen mit der Nr. 1 „Winand Victor zum 90. Geburtstag“ in Jahr 2009, ist schon bis zum Portrait Nr. 76 angewachsen.
Und dazwischen wird immer wieder mit der Motorsäge lustvoll gesägt!
– Wir bedanken uns sehr herzlich bei CHC Geiselhart für das aufschlussreiche Interview, den gemeinsamen Besuch der Ausstellung „The Dylan Series“ im BT24 und den exklusiven Atelierrundgang in Nehren!