Seit August 2020 ist Akademische Rätin Dr. Ariane Koller Kustodin der Graphischen Sammlung am Kunsthistorischen Institut (KHI) der Universität Tübingen. Seit 1897 dient diese der kunsthistorischen Lehre und der praxisorientierten Ausbildung der Studierenden, ist aber auch von Beginn an für die Öffentlichkeit zugänglich. Die dort vorhandenen Blätter sind in den mehr als hundert Jahren also schon durch viele Hände gelaufen. Die Sammlung umfasst graphische Kunst von der Renaissance bis heute und ist die Gelegenheit sich Kunst aus nächster Nähe anzusehen.
Hallo Ariane, schön, dass Du uns Deinen Wirkungsort zeigst! Magst Du Dich und Deinen Weg in die Graphische Sammlung Tübingen kurz vorstellen?
Mein Name ist Ariane Koller und ich bin seit August 2020 die Kustodin der Graphischen Sammlung am Kunsthistorischen Institut der Universität Tübingen. Ich habe in Augsburg Kunstgeschichte, Germanistik und Medienpädagogik studiert und war anschließend am Museum Ludwig in Köln für die Digitalisierung der graphischen Bestände verantwortlich. Von 2010 bis zu meinem Stellenantritt in Tübingen war ich dann Wissenschaftliche Assistentin an der Abteilung für die Geschichte der textilen Künste am Institut für Kunstgeschichte der Universität Bern.
Ich würde gerne noch weiter vorne anfangen: Wie bist Du denn zur Kunstgeschichte gekommen?
Ich hatte am Beginn meines Studiums eigentlich gar nicht vor Kunstgeschichte zu studieren, sondern hatte mich für Germanistik eingeschrieben. Per Zufall bin ich während meines Studiums dann in einigen kunsthistorischen Vorlesungen gelandet. Davon war ich so begeistert, dass ich nach vier Semestern ins Hauptfach Kunstgeschichte gewechselt habe.
Wie war für Dich der Einstieg in den Beruf der Kunsthistorikerin?
Glücklicherweise sehr fließend und ohne größere Umwege. Nach meinem Magisterstudium habe ich 2005 im Kontext eines dreijährigen Stipendiums am Augsburger Graduiertenkolleg „Wissensfelder der Neuzeit“ mit meiner Doktorarbeit zu niederländischen Weltkarten des 16. und 17. Jahrhunderts begonnen. Nach meiner Tätigkeit in Köln am Museum Ludwig war ich dann als Wissenschaftliche Assistentin in Bern und habe parallel dazu meine Dissertation fertig geschrieben. Mit der Kustodinnenstelle in Tübingen bin ich jetzt beruflich angekommen und freue mich sehr auf die anstehenden Aufgaben.
Was ist das für eine Sammlung, die Du nun betreust?
Die Graphische Sammlung am Kunsthistorischen Institut befindet sich heute gar nicht mehr am KHI, sondern im sogenannten Bonatzbau, also in der alten Universitätsbibliothek. Sie wurde 1897 vom ersten Ordinarius für Kunstgeschichte in Tübingen, Konrad Lange, gegründet. Sie stellt insofern eine Besonderheit dar, als sie zu den wenigen noch erhaltenen Universitätssammlungen dieser Art in Deutschland gehört.
Der Altbestand der Sammlung, ca. 7000 Druckgraphiken des 16. bis 19. Jhs., gründet im Wesentlichen auf der Dublettensammlung des Königlichen Kupferstichkabinetts, der heutigen Graphischen Sammlung der Staatsgalerie Stuttgart. Im Laufe des 20. Jhs. erweiterten Stiftungen den Bestand der Sammlung. Die Sammlung ist sehr vielfältig, wir haben zum Beispiel Holzschnitte aus der Zeit Dürers, Radierungen von Rembrandt oder Graphiken von Picasso. Thematische Schwerpunkte der Sammlung sind unter anderem Künstlerselbstbildnisse, die Dokumentation verschiedener druckgraphischer Techniken sowie „Alte Kunst in neuer Kunst“, d.h. moderne und zeitgenössische Blätter, die sich auf traditionelle Motive der Kunstgeschichte beziehen. Eine Besonderheit stellen die Stiftungen des Künstlers Harald Naegeli (auch bekannt als Sprayer von Zürich) dar, der 1998 sein komplettes Radierwerk und 2017 seine Zeichnungen der Graphischen Sammlung überließ.
Die Tübinger Graphische Sammlung war von Anfang an als Lehr- und Studiensammlung konzipiert, d.h. sie wurde vor allem für die Studierenden der Kunstgeschichte eingerichtet, damit sie Zugang zu originalen Kunstwerken haben, anhand derer man etwa unterschiedliche druckgraphische Techniken studieren konnte. Darüber hinaus konnte man sich mittels der Kupferstiche, die ja häufig als graphische Reproduktionen von Gemälden und Handzeichnungen fungierten, mit Kunstwerken auseinandersetzen, die in mehr oder weniger weit entfernten Museen aufbewahrt wurden und die deshalb nicht jederzeit im Original betrachtet werden konnten. So war es zum Beispiel anhand des Kupferstichs von Lucas Vorsterman, der hier im Saal nebenan hängt, möglich, sich mit Rubens‘ „Amazonenschlacht” zu beschäftigen, die in München in der Alten Pinakothek ausgestellt ist, oder sich mit Raffaels „Schule von Athen” anhand des 1550 von Giorgio Ghisi geschaffenen Kupferstichs auseinanderzusetzen.
Gleichzeitig war die Sammlung immer auch für die interessierte Öffentlichkeit zugänglich. Aus den Aufzeichnungen von Konrad Lange geht hervor, dass die Sammlung kurz nach ihrer Gründung im April 1897 bereits über 400 Besucher*innen verzeichnete. Teilweise waren wohl bis zu 40 Personen gleichzeitig im Saal anwesend, die sich laut Tübinger Benutzerordnung selbst aus den Schubladen bedienten und die Umschläge mit Graphiken herausnehmen durften. Hier wird das praktisch-erzieherische Interesse Konrad Langes deutlich, für den die Zugänglichkeit von Kunst für die breite Öffentlichkeit oberste Priorität hatte. Diese beiden Traditionen – also Lehr- und Studiensammlung – sind bis heute für die Sammlung charakteristisch.
Welche Bedeutung hat so eine Lehrsammlung denn heute, wenn wir vieles davon ja auch im Netz finden oder problemlos nach Stuttgart fahren können?
Dass man z.B. Kompositionsstrategien von Gemälden anhand von Kupferstichen analysiert, ist in der aktuellen kunsthistorischen Lehre sicherlich nicht mehr derart relevant wie in der Zeit um 1900. Es bleibt aber die Nähe zum Objekt. Der praktische Umgang mit Kunstwerken sowie Fragen der Technik und Materialität können an den Objekten erarbeitet werden. Außerdem ist die Übertragung eines Gemäldes in eine Graphik keine bloße Kopie, sondern eine künstlerische Übersetzungsleistung und damit auch ein Akt der Interpretation.
Druckgraphik war und ist nicht nur ein reproduzierendes Medium, sondern als sogenannte Künstlergraphik spätestens seit der Frühen Neuzeit eine autonome künstlerische Ausdrucksform, wenn man z.B. an die Radierungen Rembrandts oder Picassos denkt.
Welchen Stellenwert hat die Druckgraphik für Dich?
Es ist schade, dass die Druckgraphik innerhalb der universitären Kunstgeschichte im Allgemeinen eine geringere Rolle spielt als die Gattungen der sogenannten Hochkunst, also Malerei, Architektur und Skulptur. Ich bin deshalb sehr froh, am Tübinger Kunsthistorischen Institut arbeiten zu können, weil hier die Graphik zum einen aufgrund der Sammlung, zum anderen aber auch aufgrund der Forschungsschwerpunkte der Dozierenden in Forschung und Lehre große Aufmerksamkeit erfährt.
Mich persönlich fasziniert an der Druckgraphik besonders das Spannungsfeld das aus der nahsichtigen und fast intimen Betrachtung, die das Medium einfordert, und andererseits aus der ungeheuren kulturellen Strahlkraft der Graphik resultiert: Die hat die Graphik gerade durch ihre Reproduzierbarkeit und ihre Mobilität von Beginn an erlangt. Man könnte fast sagen, die Druckgraphik hat damit entscheidend zur Herausbildung eines kollektiven europäischen Bildgedächtnisses beigetragen.
Wie sieht denn der Arbeitsalltag einer Kustodin aus?
Jeder Tag gestaltet sich anders. Grundsätzlich muss man wohl zwischen Semester und vorlesungsfreier Zeit unterscheiden. Während des Semesters bin ich viel mit der Vorbereitung und der Durchführung der Lehrveranstaltungen beschäftigt. Zudem bearbeite ich laufende Anfragen zu bestimmten Blättern. In der vorlesungsfreien Zeit konzentriere ich mich auf die Pflege und die Verwaltung des Bestandes: die Inventarisierung neuer Blätter, das Neuauflagen von Graphiken, die konservatorisch nicht mehr gut gelagert sind, sowie die Digitalisierung und die Konzeption von Ausstellungen und Forschungsprojekten. Manchmal muss innerhalb der Universität auch ein Bild aufgehängt werden. Das Aufgabengebiet ist also so vielfältig, dass von einem geregelten Alltag keine Rede sein kann.
Das hört sich für mich an, als würdest Du ein kleines Museum in Personalunion machen.
(Lacht) Ja, vielleicht kann man das so sagen.
Was gibt es denn für Anfragen, wie kann man sich das vorstellen?
Anfragen für Besichtigungen der Graphischen Sammlung gibt es im Moment aufgrund von Corona nur wenige. Meistens handelt es sich um Fragen nach dem Bestand bzw. nach Reproduktionsgenehmigungen für Blätter aus der Sammlung. Viele Anfragen betreffen diesbezüglich auch die Tübinger Professorengalerie und die Sammlung Kölle, die ebenfalls in meinen Verantwortungsbereich fällt.
Was sind das für Sammlungen?
Die Tübinger Professorengalerie besteht aus derzeit etwa 330 Porträts von ehemaligen Professoren, Kanzlern und Rektoren der Eberhard Karls Universität Tübingen und stellt besonders aufgrund ihrer zeitlichen Geschlossenheit vom Ende des 16. Jahrhunderts bis in die Gegenwart eine Besonderheit dar.
Die Sammlung Kölle umfasst über 50 Bildwerke des 16. bis 19. Jahrhunderts und geht auf die Stiftung des Geheimen Legationsrats Christoph Friedrich Karl von Kölle zurück, der seine Gemäldesammlung 1850 der Universität Tübingen vermacht hat. Darunter befindet sich u.a. ein Werk von Lucas Cranach d.Ä., dessen „Bildnis einer jungen Frau” von 1527 als Dauerleihgabe in der Staatsgalerie Stuttgart besichtigt werden kann.
Was sind denn die großen Aufgaben, die für Dich anstehen?
Da die Bestände der Graphischen Sammlung bislang nur zu einem kleinen Teil digitalisiert und in einer Datenbank erfasst sind, stellt die Hauptaufgabe für die kommenden 5 Jahre sicherlich die Digitalisierung der etwa 12.000 Blätter dar. Damit soll die Sammlung sowohl der scientific community als auch der breiten Öffentlichkeit noch zugänglicher gemacht werden. Die Pandemie hat uns ja in den vergangenen Monaten vor Augen geführt, wie wichtig es gerade für die wissenschaftliche Forschung ist, dass Sammlungsbestände digitalisiert und damit recherchierbar sind.
Was für Ausstellungen hast Du denn geplant?
Im Moment ist gerade eine Ausstellung zu dem 1564 entstandenen Kupferstichzyklus „Der Kreislauf des menschlichen Daseins” von Cornelis Cort nach Maarten van Heemskerck in Planung. Die Ausstellung bildet den Auftakt einer Ausstellungsreihe, die ich unter dem Obertitel „Under Pressure“ lancieren möchte und die anhand der Bestände der Graphischen Sammlung aktuelle gesellschaftsrelevante Themen aufgreifen wird.
Im kommenden Wintersemester wird eine Ausstellung zu Honoré Daumier vorbereitet, da wir Anfang Januar eine Schenkung von 13 seiner Lithographien erhalten haben. In Planung sind außerdem Ausstellungen und Kooperationen mit zeitgenössischen jungen Künstler*innen.
Zusätzlich habe ich auch eine Social Media Aktion geplant. Unter #offeneschublade können Studierende und Dozierende, aber auch die Tübinger Öffentlichkeit, einen kleinen Blogbeitrag zu einem Blatt der Graphischen Sammlung verfassen, der dann über die sozialen Medien publiziert wird.
Du hast vorhin von „wir“ gesprochen, wer steckt hinter dem wir?
„Wir“ bedeutet in erster Linie natürlich die Kolleg*innen des Kunsthistorischen Instituts, mit denen ich eng zusammenarbeite und ohne deren Unterstützung es nicht möglich wäre, neue Projekte wie etwa Ausstellungen aufzugleisen.
Mit Studierenden arbeitest Du aber auch an Ausstellungen?
Das war bislang aufgrund der Pandemie leider nicht möglich, aber prinzipiell sollen Ausstellungen im Kontext von Praxisseminaren konzipiert und durchgeführt werden, damit Studierende nicht nur theoretisches Wissen, sondern auch praktische Erfahrung sammeln können, die ihnen beim Einstieg ins Berufsleben hilfreich sein kann. Auch damit wird die Tradition der Lehrsammlung lebendig gehalten, was mir sehr wichtig ist. Ich hoffe, dass die Graphische Sammlung auch nach der Pandemie ein Ort ist, den die Studierenden gerne besuchen, um sich mit Kunst zu beschäftigen.
Was ist denn Dein momentaner Favorit unter den Blättern in der Sammlung?
Das wechselt und ist meist davon abhängig, womit ich mich gerade beschäftige. In diesem Semester biete ich z.B. ein Seminar zu Rembrandts Radierungen an, weshalb seine Darstellung von Adam und Eva aus dem Jahr 1638 im Moment zu meinen Lieblingsblättern gehört.
Warum gerade dieses Bild?
An Rembrandts Blatt finde ich spannend, dass er ein bekanntes und häufig bearbeitetes Bildthema neu akzentuiert. Dargestellt ist nicht die Verführung Adams durch Eva, sondern sein energischer Versuch, sie von ihrem Vorhaben abzuhalten. Dieses direkte Einschreiten Adams ist innerhalb der Bildtradition ohne Vorbild. Faszinierend finde ich außerdem die Intimität der dargestellten Szene, die ein ganz auf sich bezogenes erstes Menschenpaar zeigt, das sich seiner Nacktheit noch nicht bewusst ist.
Uns interessiert ja sehr die Vernetzung der Kunst- und Kulturlandschaft in der Region. Wie erlebst Du sie denn?
Ich bin ja noch nicht so lange in der Region, so dass ich mir leider aufgrund der momentanen Situation noch nicht allzu viel anschauen konnte. Ich kenne natürlich die Museen in Stuttgart und gehe besonders gerne ins Landesmuseum Württemberg, weil ich die Vielfalt der Objekte mag, die dort ausgestellt sind. Ich freue mich aber schon sehr, bald noch vieles mehr entdecken zu können.
Gibt es Institutionen, die eine besondere Bedeutung für Deine Arbeit haben?
Von besonderer Bedeutung ist traditionell natürlich die Graphische Sammlung der Staatsgalerie Stuttgart, mit der wir ja von Beginn an kooperieren. Auch die bereits erwähnten Daumier-Lithographien waren ursprünglich für die Staatsgalerie gedacht. Da sie dort aber schon vorhanden waren, haben sie als Dubletten ihren Weg nach Tübingen gefunden. Innerhalb Tübingens ist es bislang vor allem das MUT (Museum der Universität Tübingen) mit seinen Sammlungen. Ich finde es sehr spannend, Druckgraphik mit ganz unterschiedlichen Objektgruppen, etwa naturwissenschaftlichen Modellen, in Verbindung zu bringen. Da erhoffe ich mir in den kommenden Jahren gewinnbringende Synergieeffekte.
Was empfiehlst Du jungen Kunsthistoriker*innen?
Auf jeden Fall: Dranbleiben. Außerdem habe ich immer die Erfahrung gemacht, dass Scheuklappen hinderlich sind. Die einfach mal abnehmen und die Augen offen halten. Manchmal kommt man gerade über Umwege an sein Ziel.
Zu guter Letzt noch Deine Empfehlung für eine Tübinger Institution.
Wenn es keine museale Institution sein muss, dann definitiv das Picco!
Ja wie schlimm wäre es, wenn wir Essen und Trinken ausblenden würden! Liebe Ariane, vielen Dank für das aufschlussreiche Gespräch.