Es türmt sich zu massiven Sockeln und zeigt als Einzelblätter, was im Inneren dieses eigensinnigen Materials zu finden ist. Unter dem Titel „Posters Posters Posters – Stuttgart Berlin Wien“ präsentiert die Galerie Reinhold Maas Erik Sturms jahrzehntelange Beschäftigung mit dem Medium der Litfaßsäule. Von 2007 bis 2019 besuchte der Stuttgarter Künstler verschiedene Städte und entnahm gerade dort Materialproben, wo sich das Papier bis zu vierzig Jahre sammeln und sedimentieren konnte. Dieses ganz spezielle kulturelle Phänomen war Grundlage für Sturms künstlerische Untersuchungen.
Schicht um Schicht wuchs das neu entstandene Material, wie die Jahresringe eines Baumes. Auch am Papierstamm der Litfaßsäule sind schließlich gespeicherte Informationen abzulesen, die auf das direkte Umfeld und seine Zeitgeschichte verweisen. Wiederkehrende farbliche Ringe machen z. B. den Zyklus bestimmter Plakatierungen deutlich. Sie offenbaren hierbei eine gewisse Ordnung in dieser eher willkürlich anmutenden Werbewelt. Einst Teil des öffentlichen Raums tragen Sturms Arbeiten ihre Herkunft also noch immer in sich.
Kulturelle Ablagerungen werden zu Skulptur
Zeit und Materie wurden hier komprimiert, was wiederum auf die ursprüngliche Funktion der Litfaßsäule zurückweist. Denn die Erfindung von Ernst Litfaß sollte dem um 1850 weit verbreiteten Wildplakatieren Abhilfe schaffen. Verschiedenste Informationen konnten so erfolgreich an einem Ort gebündelt und vermarktet werden. Mit jeder neuen Beklebung verschwanden zwar die alten Poster, im Untergrund blieben sie aber noch immer erhalten. Diese kulturellen Ablagerungen – in Form verleimter Papierblöcke – erscheinen wiederum als Skulptur, indem Sturm sie abermals übereinander schichtete. Die Betonschalen des Litfaßsäulenkerns und die herausgesägten Papierblöcke treffen so in einer ganz neuen, zusätzlich komprimierten Form aufeinander.
Das Bauwerk Säule wurde schließlich in seinen Fragmenten umgeordnet. Die ursprüngliche Monumentalität bleibt aber bestehen. Sie wird sogar betont, wenn Sturm die konvexen Biegungen der verleimten Papierschichten gezielt aufeinandersetzte. Der Schwerkraft zum Trotz wölben sie sich nach oben und verleihen den Skulpturen in ihrer Massivität eine gewisse Leichtigkeit.
Neugier für verdeckte Bilderwelten
Wie den Querschnitt einer Gesteinsprobe macht Sturm die innenliegende Struktur des Materials sichtbar. Er zeigt den Alltag dabei im wahrsten Sinne des Wortes von einer anderen Seite. Eine gewisse Ironie scheint nun spürbar, wenn im öffentlichen Raum gefundenes Material so aufgearbeitet wird, wie es im Normalfall nie mehr auffindbar gewesen wäre. Neben der Neugier für diese verdeckte Bilderwelt war gerade das Sichern des Materials ein wesentliches Anliegen. Denn gleichzeitig befreite Sturm die historische Werbung aus den versiegelten Papierschichten, als öffnete er eine fast vierzig Jahre lang perfekt konservierte Zeitkapsel. Das kulturelle Material verkörpert also verschiedene Seinszustände – ist Skulptur, kann aber auch Bild werden.
Das vorsichtige Herauslösen der einzelnen Schichten erinnert nun an geradezu archäologische Vorgänge. Was für ein Papier wurde damals verwendet? Welche Themen wurden beworben? Wie kamen Bilder zum Einsatz und mit welchem Text? Gab es markante Farbkombinationen? Die zugehörigen Antworten werden mit jeder aufgedeckten Plakatprobe aussagekräftiger und wissenschaftlicher.
Chronologisch archivierte Werbedaten
Ein Fries empirischer Bilddaten entsteht, der die Geschichte des Menschen in skurrilen Fragmenten beleuchtet und dabei genauso spielerisch in Frage stellt. Besonders die Wahl des Säulen-Ausschnitts spielte hier von vornherein eine große Rolle. Denn die Stelle der Plakatierungen variiert in ihrer motivischen Qualität. Sturm versuchte gerade die Filetstücke der Litfaßsäulen zu erwischen, in denen die zentralen Bild- und Werbeinhalte eindrucksvoll sichtbar werden.
In der Beschäftigung mit chronologisch archivierten Werbedaten spricht Sturm ein weitreichendes Themengebiet an, das nicht zuletzt zentrale psychologische Ansätze reflektiert. Werbung als parallele, selektierte Wirklichkeit – gespickt mit mehr oder minder verschleierten Handlungsaufforderungen – kann man sich schließlich kaum entziehen. Kommerzielle Bilderwelten entwickelten eine ganz eigene Ikonografie, die häufig gerade das Unterbewusstsein menschlicher Wahrnehmung gezielt ansteuert.
Diese, im doppelten Sinne, verdeckten Mechanismen legte Sturm aufs Neue frei und konfrontierte sie miteinander. Werbung, die sich einst den öffentlichen Raum aneignete, wurde nun selbst zur künstlerischen Aneignung. In den zahlreichen Posterstücken kommen dabei ganz neue, eigenständige Bilder ans Licht, die nicht selten zu einem leichten Schmunzeln animieren.
Verfremdung als künstlerische Forschung
Verschiedenste Symboliken treffen zufällig aufeinander und schaffen zum Teil bizarre Verknüpfungen. Manche Poster lässt Sturm auch bewusst verschmelzen, indem er zwei verklebte Schichten gemeinsam ablöst und die untere dann mit gezielten Rissen partiell freilegt. Bilder und Bedeutungen werden so weiter verfremdet, als Gegenstand künstlerischer Forschung. Gleichzeitig eröffnet sich in dieser Rekonstruktion von Realität mithilfe historischer Werbung ein großartig widersprüchliches Spannungsfeld. Das Gefühl gewisser Selbstironie wird zudem darin bestärkt, dass die ursprünglich gegen Bezahlung angebrachte Massenwerbung nun als Posterunikat im Ausstellungsraum erneut kommerzielles Gut wurde. Das Medium verkörpert hierbei ein erstaunliches Paradoxon. Ursprünglich entstand es als vervielfältigter Druck, aber wurde durch die künstlerische Verfremdung zum einzigartigen Original.
Die Monumentalität ihrer Herkunft ist in den Postern letztlich noch immer spürbar. Als Bruchstücke überlebensgroßer Abbildungen deuten sie auf ihren ursprünglichen Kontext und spielen parallel auf einen zentralen Widerspruch von Sichtbarkeit an. Öffentliche Werbung in Städten wie Stuttgart, Berlin und Wien dient schließlich dem Zweck, unzählige Menschen an den prominentesten Standorten anzusprechen. Die Litfaßsäule war dabei das erste Medium für Massenwerbung.
Dennoch nehmen wir diese Bilderwelt häufig nur als flüchtigen Augenblick wahr – der sich im Zeitspeicher Gehirn als Sediment ablagert und kaum wieder ans Licht des Bewusstseins gelangt. Sturms Ausschnitte spiegeln demnach auch die menschliche Wahrnehmung an sich und ihre grundlegende Beschränkung, Realität nur als Fragmente erfassen zu können, wider.
Instagram: erikxsturm