Mährischer Funktionalismus in Brno

Brno, auf deutsch Brünn, ist die zweitgrößte Stadt der Tschechischen Republik und aus vielen Gründen eine Reise wert. Trotz der relativ kleinen Größe hat sich die Stadt zu einem wichtigen Industrie- und Handelszentrum entwickelt und strahlt das Flair einer Metropole mit langer Geschichte aus. Dazu trägt nicht zuletzt die Architektur bei. Das Brünner Architekturmanual bietet eine großartige Unterstützung bei der Erkundung des Funktionalismus in Brno.

Brno, seit Jahrhunderten bewacht von der Festung Špilberk, ist eine alte Stadt mit einer sehr lebendigen Kultur: es gibt zahlreiche Museen, Theater und stadtweite Konzert- und Kulturveranstaltungen. Nicht ohne Grund thematisiert eine Ausstellung des Mährischen Museums Brno als Wiener Vorort während des 19. Jahrhunderts. Im Zentrum beherrschen Barockpaläste und Gründerzeithäuser das Stadtbild, aber auch das (kulturelle) Treiben erinnert ein wenig an die nur wenige Stunden entfernt liegende, österreichische Hauptstadt. Architektonisch bekannt ist Brno vor allem durch die von Ludwig Mies van der Rohe entworfene Villa Tugendhat.

Es sind nicht nur die großen gründerzeitlichen Bauten der Innenstadt, die das Stadtbild prägen, sondern auch die funktionalistische Architektur, die einem wirklich an jeder Ecke begegnet. Für eine wissbegierige Touristin ohne Stadtführung wie mich ist das Brünner Architekturmanual (BAM – Brněnský architektonický manuál) unersetzlich. Dessen Ziel ist es seit 2011 Architekturwissen direkt in den Straßen der Stadt zu vermitteln. Der Fokus liegt hier nicht auf der alten Bausubstanz im Zentrum, sondern auf den modernen architektonischen Objekten, die von 1918 bis 1945 und von 1945 bis 1989 gebaut wurden.

  • Homepage Brünner Architekturmanual © 2021 bam.brno.cz
  • BAM Průvodce architekturou 1946–1989. Foto: Tomáš Plachký BAM Průvodce architekturou 1946–1989. © 2021 bam.brno.cz (Foto: Tomáš Plachký)
  • Zentrum Brno © Gitta Bertram
  • Stadtsignet in den Straßen

BAM — Das Brünner Architekturmanual

Neben einer Publikation in Buchform (gerade ist die Fortsetzung 1946–1989 erschienen), bietet das BAM eine sehr gut ausgestattete Webseite an. Die über 400 architektonischen Objekte können nach Architekten oder Zeit sortiert und durchsucht werden. Zu den meisten Objekten gibt es Hintergrundwissen, neue sowie historische Fotografien, Beschreibungen und Einordnungen. Für Entdeckungswillige gibt es dazu Karten, Routenvorschläge und Audioguides. Alle Informationen sind auf tschechisch, deutsch und englisch vorhanden und die Audioguides können als mp3 Dateien vor dem Spaziergang heruntergeladen werden oder während des Spaziergangs abgespielt werden.

Inzwischen gibt es neun Routen durch die gesamte Stadt und fünf Ausflüge ins Umland. – Für meinen Selbstversuch habe ich mir die Route durch das Zentrum der Stadt ausgesucht. Ich habe mir dafür die Route in meine Navigationsapp geladen, dazu den deutschen Audioguide heruntergeladen und bin mit Kopfhörern ausgestattet in der Früh gestartet. Für die vier Kilometer lange Route hatte ich nur zwei Stunden Zeit und wusste schon, dass mir die Zeit für die 58 Objekte nicht reichen wird.

Ausbau zur Großstadt im 20. Jahrhundert

Das BAM ist auf den modernen Baubestand nach 1918 fokussiert – das Jahr, in dem sich die Tschechoslowakische Republik als freiheitlich-demokratischer und sozialer Rechtsstaat gründete und in dessen Folge Brno die Hauptstadt des Landes Mähren wurde. Deshalb sind die wichtigsten Bauaufträge dieser Zeit dem Wohnraum der schnell anwachsenden Stadt gewidmet, wie auch dem Bau neuer Institutionsgebäude und Ämter. Im Zentrum der Stadt entstanden in erster Linie Finanzinstitutionen und hybride Geschäfts- und Wohngebäude, aber auch eine Reihe städtischer Kaffeehäuser.

Die Innenstadt hatte zwischen 1900 und 1916 eine umfassende bauliche Erneuerung erfahren, um Platz für größere Straßen, neue Paläste und eine elektrische Straßenbahn zu schaffen – was bis heute für den großstädtischen Charakter der Innenstadt sorgt. Der groß angelegte Umbau der Innenstadt hatte aber ebenso zur Folge, dass sich junge Architekten auch im Stadtkern verwirklichen konnten. Auf der Suche nach einer spezifisch mährischen Architektur entstand dadurch ein sehr eigene Strömung des Funktionalismus. 1870 wurde übrigens Adolf Loos in Brno geboren, der mit seinem Werk Ornament und Verbrechen (1910) den Weg in den Funktionalismus ebnete.

Der Selbstversuch

Während der zwei Stunden habe ich nicht nur einen guten Überblick über die Innenstadt bekommen, ich habe wirklich viele Einblicke in die Geschichte der Stadt und der ersten Republik gewonnen. Durch die Beiträge lernt man ganz beiläufig architektonisches Wissen und sieht die Wichtigkeit, die der Gestaltung von Raum beigemessen wurde und wird. 

Einige meiner architektonischen Favoriten befinden sich in der Česká, einer kleinen Gasse, die vom zentralen Platz náměstí Svobody wegführt. Über Codes auf dem Boden finde ich die Häuser, zu denen es den Audioguide gibt, denn so wirklich kenne ich mich in der Stadt noch nicht aus. Die 1924 avantgardistisch gestaltete Fassade Jaroslav Grunts für das Modewarenhaus Femina (BAM C088) finde ich aber schnell, da das Portal und die Schaufensterrahmen, die den Einfluss des Bauhauses verraten, sehr auffällig sind. Die Bilder auf der Homepage gestatten sogar, dass ich mir ein Bild vom historischen Inneren machen kann. Das war – so gar nicht avantgardistisch – mit Biedermeiermöbeln ausgestattet.

  • Jaroslav Grunt, Modesalon Femina, 1924. Česká 166/11 © Stadtmuseum Brünn
  • Jaroslav Grunt, Modesalon Femina, 1924. Česká 166/11 © Gitta Bertram
  • Bodenbeschriftung und Code zum Objekt auf der Homepage

Zeitreise mit inbegriffen

Diese Möglichkeit zur Zeitreise, die die gut bebilderten Homepage bietet, war mit das Schönste an der Tour. So zum Beispiel auch beim heute völlig entkernten Hotel Avion (BAM C092) nur einige Schritte die Gasse weiter. Für dieses 1926 gebaute Hotel gibt es neben zahlreichen Innenaufnahmen sogar Grundrisse zu sehen, die zeigen, wie viel Raum das enge Gebäude bot. Bohuslav Fuchs hatte auf dem gerade mal 8 Meter breiten und 34 Meter tiefen Baugrund ein achtgeschossiges Hotel mit 50 Zimmern und einem zweigeschossigen Café untergebracht.

Ein Stahlbetonskelett ermöglichte ungewöhnliche Raumeffekte und eine optimale Raumauslastung, während die helle Verkleidung den Bau von außen leichter wirken lässt. Bis heute ist das von Emanuel Hrbek entworfene Logo ein anziehendes Zeichen des Hauses, das mich wünschen lässt, ich könnte in dem großen Café, das die unteren Stockwerke eingenommen hatte, nun ein eben solches Getränk zu mir nehmen. Mit Opaxit, einem opaken Glas, das Fuchs für die Fassade des Hotels benutzte, wurde 1930 auch sein im Zentrum gelegener Alfa-Palast (BAM C083) verkleidet. Bis heute gibt es in diesem Bau eine sehenswerte Geschäftshalle.

  • Interieur Café, Bohuslav Fuchs, Hotel Avion, 1927–1927. Česká 150/20, Brno. Historische Aufnahme. © Stadtmuseum Brünn
  • © Gitta Bertram
  • Bohuslav Fuch, Hotel Avion, 1927–1927. Česká 150/20 © 2021 bam.brno.cz (Barbora und Karel Ponešovi)
  • © Gitta Bertram
  • © Gitta Bertram

Gegenüber dem Hotel Avion steht das 1937 entstandene Miets- und Geschäftshaus von Oskar Poříska (BAM C91). Das sechsgeschossige Gebäude fällt mit seiner hellen Keramikverkleidung, der großen Fensterfront und den abgerundeten Ecken sofort auf. In der vollständig verglasten Auslage im Erdgeschoss und dem darüber liegenden Fensterband sind die Stahlbetonsäulen ein strukturierendes Element. Sie ziehen sich durch beide Geschosse und lassen das darüber liegende Gebäude wie einen Pfahlbau schweben. Abgeschlossen wird das Gebäude durch eine Reling, hinter der versetzt das oberste Geschoss liegt. Die Keramikverkleidung und klare Formsprache wurden auch in den nebenan liegenden Mietshäusern aufgenommen. Neben der klaren Formensprache der Häuser wird mir zunehmend bewusster, wie vielfältig das verbaute Material ist. 

Oskar Poříska, Mietshaus mit Geschäften und Café (Convalaria), 1937. Česká 170/21, Veselá 170/26, Brno.  © 2021 bam.brno.cz (Barbora und Karel Ponešovi)
Oskar Poříska, Mietshaus mit Geschäften und Café (Convalaria), 1937. Česká 170/21, Veselá 170/26, Brno.
© 2021 bam.brno.cz (Barbora und Karel Ponešovi)

Fazit

Der Aufwand, mir den Audioguide herunterzuladen und die Karte im Voraus gut zu studieren hat sich wirklich gelohnt. Die zwei Stunden meiner Tour vergingen wie im Flug und die Möglichkeit, in meinem eigenen Tempo um die Gebäude herum zu gehen, die Architektur auf mich wirken zu lassen, Fotos zu machen oder das Innere zu erkunden, während ich dem Guide lauschte, war ein großer Gewinn. Manche Vokabeln waren für meinen Geschmack etwas wenig erklärt und mehr für den bewanderten Architekten gedacht, aber im Großen und Ganzen waren die Beiträge gut verständlich und lebendig dargebracht. Ich fand die Beschränkung auf die Moderne etwas schade, sehr gerne hätte ich mehr über die älteren Gebäude erfahren, die die modernistischen Bauten umgaben. Aber auch so war es mir schon nicht möglich, mehr als die Hälfte der Tour zu hören.

Allein diese Tour hält noch zahlreiche Kauf- und Mietshäuser, Bürogebäude, ein Krankenhaus oder eine Bank bereit sowie zum Beispiel auch die Generaldirektion der Berg- und Hüttengesellschaft, ein Postamt oder eine Synagoge. Dazu kommen zahlreiche Cafés, von denen einige auch heute noch als solche fungieren. Aber über die Cafés berichte ich vielleicht lieber in einem zweiten Beitrag.

Übrigens wurde das Vermittlungskonzept nun schon von zwei weiteren tschechischen Städten übernommen und wird gerne auch an deutsche Städte weitergegeben.