Wer oder was ist eigentlich ein White Cube? Wann sprechen Kunsthistoriker*innen von Inkarnat und was bezeichnet der Begriff der Avantgarde? Die Kunstgeschichte als Wissenschaft wartet mit etlichen Fachbegriffen auf. Diese wollen wir euch in unserer neuen Rubrik „Kune erklärt!“ vorstellen und zugänglich machen. In unserer ersten Ausgabe widmen wir uns dem Begriff der Mímesis und erklären, warum Nachahmung nicht gleich Nachahmung ist.
Das Verhältnis von Kunstwerk und Wirklichkeit war schon immer fester Bestandteil der Kunstbetrachtung. Die lateinischen Begriffe mímesis und imitatio, werden nun beide gerne mit dem Wort Nachahmung übersetzt und haben ihre Ursprünge bereits in der antiken Poetik bei Aristoteles und Platon. Seit ihrer Entstehung sind sie jedoch wichtige Grundbegriffe für die Kunstreflexion geworden – und sind es bis heute.
Imitatio als Rückbezug
Die imitatio gilt dabei als Rückbezug auf vorbildliche Autor*innen oder Werke. Man sollte dem Original hierbei so nahe wie möglich kommen. Gleichzeitig liegt ihr jedoch die Vorstellung zugrunde, dass jede Nachahmung eine Überbietung (aemulatio) des Vorbilds anstrebt. Das Vollkommene oder Schöne, das es nachzuahmen und zu überbieten gilt, wurde also bereits an einem bestimmten Punkt in der Vergangenheit geschaffen. In der Renaissance verschrieb man sich bspw., die Kunst der Antike in neuem Glanz wieder aufleben zu lassen.
Mimesis und Gegenwart
Das Prinzip der mímesis weist hingegen auf die Gegenwart: die Schönheit, Vollkommenheit und das Verhältnis zur gegenwärtigen Natur. Die mimetische Nachahmung von Natur in der Kunst bezieht sich also auf lebendige Formen und Organismen. Die Begriffe imitatio, aemulatio und mímesis bauen somit vielmehr aufeinander auf, als dass sie Synonyme verkörpern.
Besonders das Genre des Stilllebens entwickelte sich im 17. Jahrhundert zu einem Reflexionsfeld für Mimesis und hierin letztlich zu einer selbstreflexiven Kunstform. Das mimetische Vorgehen bedeutete für die barocke Naturtheorie aber kein bloßes Nachahmen lebendiger Formen hin zu einer leblosen Kopie. Im Malprozess sollte an dem vitalen Prinzip der Natur selbst teilgenommen werden: durch die Wiederholung von Werden und Vergehen, Wachstum und Verfall entwickle sich schließlich ein gleichwohl dynamischer Schöpfungsakt (natura naturans). Das entstandene Bild kopiert die Natur somit nicht nur, sondern wird dabei selbst zu geschaffener Natur (natura naturata).
Realität in der Moderne
Dieses Konzept lässt sich im weitesten Sinne auch für die Moderne übernehmen – unter der Voraussetzung, dass mittels abstrakter oder konkreter Kunst eine neue Realität geschaffen wird, die ihren eigenen Abbildcharakter hinterfragt. Das vitale Prinzip der Mimesis finden wir z. B. dort wieder, wo Paul Klee feststellte: „Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar.“