Als Winand Victor 1918 geboren wurde, war Gude Schaal gerade drei Jahre alt. Die beiden Zeitgenossen prägen das Reutlinger Kunstleben inzwischen über mehr als ein halbes Jahrhundert und doch könnten ihre Werke kaum gegensätzlicher sein.
Schon nach der Schule wählten sie den Weg der Kunst. Schaal begann in ihrer Heimatstadt Hamburg zu studieren, Victor in Düsseldorf. Die spätere Umsiedlung ins entfernte Reutlingen war dann letztlich den jeweiligen Partner*innen zu verdanken. Schaal heiratete einen Reutlinger Textilkaufmann, Victor eine Reutlinger Holzschneiderin. Im schwäbischen „Ländle“ als Exoten beheimatet, knüpften beide in den 1950er Jahren an ihr künstlerisches Schaffen erneut an – und das in vollkommen unterschiedlicher Weise.
Parallelwelten aus Farbe und Material
Gude Schaal malte ihr ganzes Leben überwiegend mit Ölfarben, Winand Victor bediente dagegen nahezu jede Technik. Auch motivisch sind nur wenige Parallelen zu finden. Schaal beschäftigte sich kontinuierlich mit Mensch und Landschaft, Victors Bildthemen bewegen sich ununterbrochen zwischen Gegenstand und Abstraktion.
So unterschiedlich sie doch sind, zeigen beide Arbeitsweisen eigentlich, dass es hier nicht primär um das Dargestellte geht. Wo Gude Schaal ihre Bildwelt im Zusammenspiel von Farbe entdeckte, schuf Victor seine in der vielseitigen Auseinandersetzung mit Material und Technik. Dabei entstanden zum Teil surreale Bildräume, gewissermaßen Parallelwelten, in denen sich plötzlich ein verbindendes Interesse zu offenbaren scheint: der Mensch und seine stetige Verwundbarkeit.
Der Mensch als Erinnerung
Verlassene Orte und maskenhafte Portraits beschwören bei Gude Schaal häufig ein Gefühl unterschwelliger Melancholie herauf. Hier ist der Mensch nur noch Erinnerung. Nicht selten werden primär Frauenfiguren sogar weiter zur Puppe neutralisiert – ihres freien Willens und ihrer Lebendigkeit beraubt. „Kleiderpuppen im Schaufenster“ (1973) heißt eines dieser Werke und doch ist bloß eine Puppe wirklich bekleidet. Während der männliche Torso anständig in Jackett und Krawatte präsentiert wird, ist der weibliche Körper vollständig entblößt. Wo sie wiederum ein Gesicht hat, besitzt er lediglich einen undefinierten Holzkopf.
Trotz der häufig starren Kühle sind Schaals Arbeiten ungemein lebendig. Denn Farbe und Pinselduktus sind die wesentlichen Ausdrucksmittel, worin Traditionen expressionistischer Malerei anklingen. Tatsächlich war speziell die Malerei Emil Noldes für sie ein „Augenöffner“. Unabhängig von Schaals Bildthemen ist schließlich eine besondere Aufmerksamkeit für Farbbeziehungen zu spüren.
Gude Schaals innere Außenwelt
Bevor Schaal sich in den 1960er Jahren fast vollkommen autodidaktisch der Ölmalerei widmete, schloss sie ihr Kunststudium als Meisterschülerin des Buchkünstlers und Illustrators Walter Tiemann ab. Die illustrativen Einflüsse sind Schaal auch später noch erhalten geblieben. Auffällige Umrisslinien dominieren viele Arbeiten, ganz gleich ob Landschaft, Interieur oder Portrait. So erhalten ihre Motive einen beinahe symbolhaften Charakter. Sie erzählen Geschichten einer „inneren Außenwelt“, denn Schaal malte ausschließlich aus der Erinnerung.
Ihre Bilder erschöpfen sich dabei gerade nicht in der bloßen Vermittlung einer scheinbaren Realität. Farbübergänge, Unschärfen, Linien und Kanten, der ganze Malvorgang bleibt sichtbar. In dieser Unmittelbarkeit tragen Schaals Werke wiederum eine Ernsthaftigkeit in sich, die sogar etwas Bedrohliches haben kann.
Eigentlich ist es ein idyllisches Plätzchen auf grüner Wiese und unter blauem Himmel. Dennoch ist der Standort für das „Zelt“ (1990) recht sonderbar gewählt. Es sitzt zwischen zwei Strommasten, schief und ziemlich baufällig, als hätte hier schon lange niemand mehr gewohnt. Gleichzeitig lassen vereinzelte Hausdächer am Horizont auf ein nahe gelegenes Dorf schließen. Wann das skurrile Gebilde endgültig in sich zusammenstürzen wird, scheint wohl nur noch eine Frage der Zeit. Ganz nach Schaals Motto: „Ein bisschen Rot muss sein“, zieht insbesondere die abgerissene rote Plane vor dem Eingang den Blick immer wieder auf sich. Ihre ursprüngliche Funktion hat sie zwar eingebüßt, doch verleiht sie dem Zelt nun sogar eine gewisse Anmut.
Wortlose Distanz und ein Hang zum Wesentlichen
Widersprüche begleiten uns stetig in Schaals Bildern, ebenso wie das feinsinnige Gespür für den Eindruck des Verwundbaren. Sie selbst bezeichnete sich immer wieder als „Malerin in Moll“ und tatsächlich sind fast alle Werke in dunklen Farben grundiert. Auch ihren Menschen haftet eine unterschwellige Trauer an. Sie kommunizieren nicht, sie existieren nur – nebeneinander und doch entfernt, wie z. B. das Werk „Freundinnen“ (1982) auf ironische Weise zeigt. Schaals rohe Malweise hat nun fast manieristische Anklänge. Verzerrte Perspektiven, überlängte Körper, bizarre Gesichter und eine häufig befremdlich-bühnenhafte Szenerie durchziehen ihre Bildwelten. „Schön“ im klassischen Sinne sind sie nicht – und das wollen sie auch gar nicht sein. Schaals „schnörkellose Malerei“ bezieht sich aufs Wesentliche und birgt darin eine gewisse Härte, worin letztlich ihr geheimnisvoller Reiz verborgen liegt.
Das Leben auf einer Glasscheibe
Winand Victors kristalline Stadtbilder tragen eine gleichermaßen kühle Einsamkeit in sich. Konfektionierte Schaufensterpuppen wirken hier zum Teil sogar realer, als die anonymen Gesichter außerhalb der Scheibe. Wälle aus fragmentierten Spiegelungen verwehren den Blick nach innen und kehren ihn gleichzeitig zurück. Das Leben existiert auf einer Glasscheibe und so steril das glatte Material anmutet, so zerbrechlich erscheint auch seine Schönheit. Gleichzeitig macht sich ein subtiles Unbehagen breit. Denn ebenso wird der Mensch hier zu Oberfläche und Struktur.
Er ist Teil des Stadtlebens und doch meint man eine beständige Distanz zu spüren. Wie bei Schaal fehlt jegliche Kommunikation. Victors Menschen existieren nur „im Vorbeigehen“ und werden so zu austauschbaren, gesichtslosen Staffagefiguren. Ihre Mimik gleicht auch hier schließlich einer undefinierten Maske. „Nirgendwo ist die Einsamkeit größer als unter den vielen, die einander nicht kennen.” Damit beschrieb schon der befreundete Schriftsteller Willy Leygraf das Wesen einer Stadt als Ort betäubender Gleichgültigkeit. Wie ihre Spiegelbilder, verschwinden auch die Menschen zu Farbflächen und nehmen dabei fast geisterhafte Gestalten an. Im selben Augenblick stellt sich eine neugierige Freude ein, beim Suchen und Entdecken der zahlreichen, sich überlagernden Schichten und Formen.
Ironische Ambivalenzen
Obwohl Victor in den Stadtbildern eine moderne Konsumgesellschaft thematisiert, löst sich die ästhetische Erwartung bunter Vielfalt kein Stück ein. Vielmehr scheinen seine Farben wie von Nebel überzogen, einer verblassten Erinnerung gleich. Nur eine grün-gelb gestreifte Einkaufstüte sticht in der großformatigen Arbeit „Großstadt II“ (1991) hervor. Sie erfüllt ihre Funktion als Blickfang optimal und steht damit wiederum in maximalem Kontrast zu ihrer gänzlich grau gekleideten Trägerin. Dass eine knittrige Einkaufstüte hier lebendiger wirkt als die dazugehörige Person, verleiht der Szene geradezu ironische Züge.
In Victors quasi kubistischer Zerlegung von Spiegelbildern spürt man eine gewisse Ambivalenz. Raum und Oberfläche werden eins, changieren jedoch permanent zwischen Gegenstand und Abstraktion, ohne ein klares Ziel zu finden. Grundsätzlich sind Victors Bilder nie eindeutig zu lesen. Sie geben vielmehr Anlass zur Assoziation.
Winand Victors Spuren und Funde
Jedes Werk trägt schließlich Spuren der bestehenden und noch kommenden Bilder, ganz gleich, ob gegenständlich oder abstrakt. Mit dem Zyklus „Spuren und Funde“ setzte Victor den Standpunkt schon in den 1960er Jahren unter die Oberfläche. Wie durch Querschnitte aus geologischen Schichten, lassen sich surreale Gebilde, eigentümliche Kapseln und verborgene Organismen erahnen: Eine monumentale Spindelform liegt nun im Untergrund von „Genesis IV“ (1966). Eingebettet in eine kristalline Struktur, scheint sie mit der Umgebung fest verankert zu sein. Eine dichte Ansammlung zart leuchtender Flecken breitet sich unterdessen auf der Horizontlinie aus und zieht ihre Bahnen sukzessive über die ganze Fläche, wie Spuren ersten Daseins.
Seinen Stadtbildern zwanzig Jahre später entsprechend, spielte Raum schon hier eine zentrale Rolle. Er geht in die Tiefe, bleibt aber gleichzeitig abstrakt. Victors Freude am Experimentieren – mit Farbe und Form, Material und Technik, Raum und Zeit – war dabei immer Grundlage und somit letztlich Forschung. Seine Bilder sind nun weniger Erfindungen, als Entdeckungen aus der Strukturierung von Materialien. So entstanden auch abstrakte Landschaften lediglich aus Schichtungen und Verdichtungen, die jedoch immer eine organische Lebendigkeit in sich tragen.
Sensibilität für Brüche
Auch bei Victor ist nun ein Hang zum Wesentlichen spürbar. Die grobe Bearbeitung des Materials und seine Verletzungen werden nicht verschleiert. Sie sind sogar primäres Anliegen. Wie Schaals Menschen und Landschaften tragen Victors Strukturbilder ihre Vergänglichkeit offen aus, ohne dabei resigniert zu sein. Ihre Zerbrechlichkeit macht sie gerade authentisch und kraftvoll. Obwohl die Arbeitsweisen von Gude Schaal und Winand Victor kaum vergleichbar sind, zeugen sie von einer visuellen Sensibilität für Brüche, die das Werk beider wiederum eint.
Schaal und Victor blieben zeitlebens in ihrer Wahlheimat Reutlingen und wurden dort beide 96 Jahre alt. Victor hatte seine erste Ausstellung 1951 im Reutlinger Spendhaus, Gude Schaal ihre 1970 in der Hans-Thoma-Gesellschaft, heute Kunstverein Reutlingen. Im Jahr von Schaals Debut war Victor sogar auch im Spendhaus zu sehen. Es folgten zahlreiche weitere Ausstellungen, die beiden eine stetige Präsenz in Reutlingen und Umgebung verschaffte. Dennoch hatten sie nicht viel miteinander zu tun, beäugten sich wohl vielmehr aus der Distanz.
Umso erstaunlicher scheint nun die geteilte Affinität zur Melancholie als künstlerische Energiequelle. In ihrer unterschiedlichen Eigenständigkeit setzten Victor und Schaal schließlich „zwei Welten“, die eine visuelle Vielfalt in Reutlingen und darüber hinaus bis heute bestärkten.