Zunächst sieht man bei Maya Watanabes Videoarbeit Liminal nicht viel. Hellbraune, beige und graue Farbflächen bewegen sich und vermischen sich dabei zu einem verschwommenen Schleier. Kurz fragt man sich, ob man ein abstraktes Video ansieht, bevor die Bewegung der Kamera und die Verschiebung des Schärfepunktes nach und nach Objekte in den Fokus nimmt: In starker Nahaufnahme sind klumpige, sandige Erde, Wurzeln und andere Pflanzenteile, sowie ein Insekt mit blauen Flügeln zu sehen. Der Großteil der Formen ist organisch. Dann aber erscheint ein Maßband, Plastik und Textilien, die vermutlich bereits länger in der Erde waren. Und mit einigem Schrecken erkennt man auch menschliche Knochen wie etwa einen Kiefer mit Zähnen, die ebenfalls voller Erde sind.
Ein Massengrab in Peru
Tatsächlich filmt Maya Watanabe hier die Arbeit von forensischen Archäolog*innen in Peru, die ein Massengrab exhumieren. Dieses Grab ist eines von etwa 6.000, die im Zuge eines bewaffneten Konflikts zwischen der peruanischen Regierung und verschiedenen Guerillagruppen von 1980 bis 2000 entstanden. Noch immer sind etwa 16.000 Menschen vermisst. Nach dem Ende der Kämpfe sind nun Archäolog*innen und Anthropolog*innen durch die Kommission für Wahrheit und Versöhnung damit betraut, menschliche Überreste ausfindig zu machen und sie zu identifizieren.
Während der gesamten Laufzeit des Videos, immerhin etwas über eine Stunde, erklingt eine gleichbleibende, fast monotone Tonspur. Zu hören sind eine Vielzahl von zirpenden Insekten und zwitschernden Vögeln, die den Eindruck erwecken, man befinde sich direkt in der Natur. Das Rauschen des Zirpens und Zwitscherns ist aber nicht aufgeregt, sondern beruhigt vielmehr die Szenerie und lädt zum Verweilen, vielleicht sogar zum Meditieren, ein.
Filmische Mittel
Spannend ist bei Watanabes Arbeit nicht nur, was gefilmt wird, sondern vor allem wie es gefilmt wird. Zunächst ist alles als Nahaufnahme gefilmt, man kann die Größe der Objekte zunächst nicht einschätzen, zumal in der Projektion alles um ein Vielfaches vergrößert erscheint. Besonders effektiv ist zudem die extrem geringe Schärfentiefe, die es unmöglich macht, ein klares Standbild zu erhalten. Nur da Watanabe die Ebene der Schärfe verschiebt, kann man über einen Zeitraum hinweg die gesehen Objekte im eigenen Kopf zusammensetzen. Es entsteht der Eindruck des vorsichtigen Abtastens mit der Kamera. Dieser Effekt wird noch durch die Bewegung der Kamera verstärkt. Diese ist nicht hastig, aber dennoch bestimmt, verweilt mal länger auf einem Fleck, um dann doch wieder in schrägen Bahnen weiterzuziehen. Besonders in der großen Projektion im Oktogon der Galerie Stadt Sindelfingen stellt sich so ein Schwindeleffekt ein, der zur Desorientierung beiträgt.
Videokunst als Arbeit am kollektiven Gedächtnis
Mit Liminal arbeitet Watanabe auf künstlerische Weise mit an der Aufarbeitung der individuellen und der kollektiven Traumata, die mit dem innerperuanischen Konflikt entstanden sind. Beeindruckend ist dabei die Verschränkung von Form und Inhalt. Der zentrale Punkt der Arbeit ist das Sichtbarmachen und somit das Verstehbarmachen. Das funktioniert aber nur als Prozess und nicht auf einen Blick – erst die Auseinandersetzung ermöglicht das Verständnis. Die Überreste sind nur kurz und nur teilweise klar erkennbar; hauptsächlich bleibt das Bild verschwommen. Mit diesen Leerstellen veranschaulicht Watanabe den ungewissen Zustand, in dem sich die Verstorbenen zum Zeitpunkt des Filmens befinden. Da ihre Identität noch nicht festgestellt ist, befinden sie sich auf der Schwelle zwischen dem Status als vermisster Person und der Erklärung des Todes.
Indem sie einen Teil der Identifizierung von Personen dokumentiert, gibt Watanabe den Hinterbliebenen einen Einblick und so die Möglichkeit zu Trauern und Abzuschließen. Sie bildet den Prozess der Identifizierung ab, ruft ihn und seine Ursachen in Erinnerung und trägt somit zum gesamtgesellschaftlichen Verständnis bei. Das Kunstwerk wirkt so an der Erinnerungskultur Perus und am kollektiven Gedächtnis mit. Und auch für Rezipient*innen, die nicht aus Peru stammen und die nicht direkt betroffen sind, eröffnet sich das Potential sich empathisch einzufühlen, mitzufühlen, nachzufühlen. Dabei verbleiben Unschärfen im Bild: Vielleicht ist das Leid auch nur punktuell verstehbar?
Liminal ist noch bis zum 30.05.2020 in voller Länge in der Ausstellung Beyond the Pain in der Galerie Stadt Sindelfingen zu sehen.