Unvergessliche Zeit – Künstlerische Ausdrucksformen im Lockdown

Das Kunsthaus Bregenz hat sich der Thematik Unvergessliche Zeit angenommen und innerhalb kürzester Zeit auf die außergewöhnlichen Umstände des Lockdowns reagiert. Das Kunsthaus hat sich ganz der zeitgenössischen Kunst verschrieben und eben diese beinhaltet die Auseinandersetzung mit aktuellen Themen. Es liegt also nahe, dass die Institution sich mit dem Thema Corona befasst und eine Schau dazu konzipiert.

Das Jahr 2020 wird uns im Gedächtnis bleiben. Wir, die junge Generation, geboren Ende des letzten Jahrtausends, haben keinen Krieg, keine Seuche, keinen deutschen Terrorismus und keine Teilung der Bundesrepublik bewusst erlebt. Wir wissen nicht, was es bedeutet eine Krise zu durchleben. Wir wussten es nicht, denn die letzten Monate haben unseren Alltag, unser Bewusstsein und unsere Wahrnehmung verändert. Auf persönliche Weise hat jede*r von uns eine außergewöhnliche Zeit durchlebt, die jede*r individuell versucht zu verarbeiten. 

Austausch durch Kunst

Die Kunst kann dabei als unmittelbares Ausdrucksmittel fungieren und Gedanken, Ängsten und Gefühlen, die uns in den letzten Monaten begleitet haben, ein Bild geben. Werden solche Werke ausgestellt, überschreiten sie die Schwelle zum öffentlichen Raum. Die Emotionen können geteilt werden und dabei die Gedankenblase jedes/ jeder Einzelnen aufbrechen. Die Isolation der letzten Monate hat unsere Welt auf unser häusliches Umfeld oder gar uns selbst begrenzt. Der Austausch mit anderen Menschen, das Gespräch, der Denkanstoß und die trostspendende Umarmung wurden in die digitale Welt verlegt, in der doch alle in ihrer Blase für sich alleine sind. Das Aufbrechen dieser Grenzen stellt den ersten Schritt auf dem Weg zur Reflektion, Verarbeitung, sowie einem neuem Beginn dar und Kunst vermag dies zu tun, denn sie kann uns nun das Gespräch, den Denkanstoß oder die Umarmung bieten. In der realen Welt der Kunst, in der wir zwar individuelle Sinneseindrücke erfahren, diese aber mit unseren Mitmenschen im Austausch teilen können.

Markus Schinwald. Grita. 2010, Courtesy of the artist und Gió Marconi, Mailand
© Markus Schinwald / Bildrecht, Wien, 2020.

KUB

Das Kunsthaus Bregenz hat sich dieser Thematik angenommen und innerhalb kürzester Zeit auf die außergewöhnlichen Umstände des Lockdowns reagiert. Das Kunsthaus hat sich ganz der zeitgenössischen Kunst verschrieben und eben diese beinhaltet die Auseinandersetzung mit aktuellen Themen. Es liegt also nahe, dass die Institution sich mit dem Thema Corona befasst und eine Schau dazu konzipiert. Jedoch ist es außergewöhnlich, dass der Zeitpunkt (05. Juni – 30. August 2020) unmittelbar und zeitnah gewählt ist, sodass der/die Besucher*innen selbst noch inmitten der Bewältigung der Krise stecken. 

Unvergessliche Zeit

Der Mundschutz begleitet uns tagtäglich, das Desinfektionsmittel ist permanent präsent, das Husten wird zum Auslöser von Panik. All das begleitet uns momentan im Alltag. Betritt man allerdings den Bau des Kunsthauses, scheint man sich in einer Welt außerhalb all dieser Einschränkungen und Beeinträchtigungen zu befinden. In einem Zeitgefühl außerhalb des unsrigen werden wir mit unterschiedlichen künstlerischen Herangehensweisen an die Lebensumstände der heutigen Zeit konfrontiert. Die Ausstellung Unvergessliche Zeit versammelt in einer einzigartigen Ausstellung Werke von sieben Künstler*innen, die sich konkret oder in einer Art Vorahnung mit der Corona-Krise und dem Lockdown auseinandersetzen. Einige Werke sind in den letzten Monaten und während der Isolation entstanden. Andere wiederum stammen aus der Zeit vor der Krise, setzen sich thematisch aber mit Masken,Verhüllungen und Ähnlichem auseinander. Objekte, die uns mittlerweile mehr als bekannt vorkommen. 

Unvergessliche Zeit. Ausstellungsansicht Erdgeschoss, Kunsthaus Bregenz, 2020, William Kentridge’s The Centre for the Less Good Idea, 29 Long Minutes, 2020, 29 Videos, 29:00 Min. Courtesy of the artist, Foto: Markus Tretter, © Kunsthaus Bregenz

William Kentridge

Betritt man nun also den Kubus des Kunsthauses umhüllen einen bereits Sounds, die an die Videoarbeiten von William Kentridge erinnern. Bekannt ist er zwar für seine künstlerische Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus Südafrikas, die er in charakteristischen Stop-Motion-Filmen zum Ausdruck bringt, doch in dieser Ausstellung taucht er als Mentor und Teil einer Vielzahl von Künstler*innen auf. In diesem Kollektiv kreiert er ein neunundzwanzigminütiges Sammelsurium aus einminütigen Kurzfilmen, die sich auf unterschiedliche Weise mit dem Thema Corona auseinandersetzen. 2016 gründete Kentridge in Johannesburg The Centre for the Less Good Idea, das darstellende und bildende Künste miteinander vereint. Da die für den April 2020 geplanten Veranstaltungen aufgrund der Corona-Krise abgesagt wurden, wurden die dazu geladenen Künstler*innen kurzerhand gebeten, ihre Arbeiten digital umzusetzen. Die Summe der einzelnen Eindrücke ergibt ein vielseitiges Werk, das den Blick Südafrikas auf Mundschutz, Isolation, Virus und viele andere Aspekte der Krise zeigt. 

Unvergessliche Zeit, Ausstellungsansicht Erdgeschoss, Kunsthaus Bregenz, 2020, Annette Messager, Certitudes – Incertitudes, 2019–2020, Courtesy of the artist und Marian Goodman Gallery, London/New York/Paris, Foto: Markus Tretter, © Kunsthaus Bregenz.

Annette Messager

Aus dem Augenwinkel blickt man dabei rechter Hand immer auf die hohe Betonwand, die durch die Arbeiten von Annette Messager zu einem riesigen Kunstwerk wird. Eine Sammlung an kleinformatigen Aquarellen hängen fast wie kleine Fenster an der Wand. Fenster, die den Blick in eine befremdliche, furchteinflößende und doch liebevolle und bekannte Welt eröffnen. Beeinflusst von ihrer Kopfoperation im Herbst 2019 setzt Annette Messager ihr Interesse für den menschlichen Körper hier vor allem mit dem Bild des Schädels um. Für manche mag dieses Sinnbild für das menschliche Bewusstsein eine unangenehme Wirkung haben. Dieser Teil unseres Körpers beherbergt jedoch das Organ, das für unser Wesen, unsere Gedanken und unser Sein verantwortlich ist. Etwas Schönes, Faszinierendes und Menschliches also. Sehen wir nun Bilder des nahenden Todes vor uns oder einfach uns selbst?

Unvergessliche Zeit, Ausstellungsansicht 1. Obergeschoss, Kunsthaus Bregenz, 2020, Ania Soliman, Journal of Confinement, 2020, Courtesy of the artist, Sfeir-Semler Gallery Beirut / Hamburg und àngels barcelona,
Foto: Markus Tretter, © Kunsthaus Bregenz.

Ania Soliman

Eine Auswirkung der Krise, die uns wohl alle betrifft, ist die Verlagerung vieler Prozesse in die digitale Welt. Die Arbeit findet von zu Hause aus statt, die Freunde trifft man online und die Kommunikation mit der Außenwelt findet vermehrt über die Sozialen Medien statt. Instagram ist für diese Art der Kommunikation momentan wohl die prominenteste Plattform, sodass es auch für die Künstlerin Ania Soliman ein Ort war, an dem sie ihr Projekt mit einer breiten Öffentlichkeit teilen konnte. Sie kreierte auf ihrem Account eine Art Online-Tagebuch, das sie in der Zeit der Krise entwickelt hat. Quadratische Zeichnungen bilden den Mittelpunkt der Arbeit. Sie sind mit roter Schrift versehen, die auf politische oder gesellschaftliche Themen verweist. Verbunden mit Symbolen der digitalen Welt, Flaggen und politischen Zeichen ergibt sich daraus die Frage nach der eigenen Verantwortung und der Vergewisserung des Selbst in Zeiten der allumfassenden Vernetzung. 

Unvergessliche Zeit, Ausstellungsansicht 1. Obergeschoss, Kunsthaus Bregenz, 2020, Marianna Simnett, Tito’s Dog, 2020, Courtesy of the artist, Foto: Markus Tretter, © Kunsthaus Bregenz.

Marianna Simnett

Der menschliche, der eigene Körper erlangt im Zusammenhang mit dem Virus und dessen Auswirkungen eine neue Bedeutung. Welche körperlichen Voraussetzungen haben wir, um das Virus zu bekämpfen? Welche Veränderungen nimmt das Virus in unserem Körper vor? Sind wir bereits erkrankt gewesen? Werden wir bleibende Folgen durch das Virus behalten?

Fragen, die sich manch eine*r möglicherweise in der letzten Zeit gestellt hat. Es findet eine Transformation der biologischen Massen und des Bewusstseins darüber statt. Marianna Simnett greift diesen Gedankengang auf und setzt ihn in ihren Videoarbeiten, die während des globalen Shutdowns entstanden sind, künstlerisch um. Mit Hilfe von Schminke und Prothesen verwandelt sich die Künstlerin, während sie über den Selbstmord und das Überleben von Tieren spricht, von einem Menschen in einen Deutschen Schäferhund. Der menschliche Körper dient ihr dabei als Leinwand, auf der sie die Transformation für den/die Betrachter*in verbildlicht. 

Unvergessliche Zeit, Ausstellungsansicht 2. Obergeschoss, Kunsthaus Bregenz, 2020, Helen Cammock, They Call it Idlewild, 2020, Courtesy of the artist und Kate MacGarry Gallery, London, Foto: Markus Tretter, © Kunsthaus Bregenz.

Helen Cammock

Eine weitere Erfahrung, die wir in der letzten Zeit alle gemacht haben, ist das Dasein in den eigenen vier Wänden, fern von sozialen Kontakten und ungezwungenem Beisammensein. Das kann ebenfalls einen großen Einfluss auf unsere Wahrnehmung haben. Unsere Umwelt und uns selbst betreffend. Helen Cammock fängt diesen Gemütszustand der Einsamkeit und der permanent präsenten inneren Unruhe, die auf Gedanken an Arbeit und Verpflichtungen beruht, in ihren ruhigen Beobachtungen ein. Ihre Videoarbeit zeigt Blicke aus dem Fenster auf die idyllische Landschaft, vorbeifahrende Autos, Wälder und Hinterhöfe. Das Leben außerhalb der vier Wände geht weiter. Aus Frühling wird Sommer. Der Regen vergeht und die Sonne beginnt zu scheinen. Als Gegenstück zu der vibrierenden Außenwelt zeigt sie Aufnahmen einer Sofadecke, einer Lampe oder eines Türschlosses. Die Welt im Inneren, die stillzustehen scheint. Eindrücke, die Assoziationen zu unseren eigenen Gefühlen, Gedanken und Ängsten während der Isolation aufrufen.

Unvergessliche Zeit, Ausstellungsansicht 3. Obergeschoss, Kunsthaus Bregenz, 2020, Markus Schinwald, Courtesy of the artist, Foto: Markus Tretter, © Kunsthaus Bregenz.

Markus Schinwald

Schon in den 1990er Jahren entsteht eine Serie von Werken des Künstlers Markus Schinwald. Der Bezug zur aktuellen Situation ist allerdings nicht zu übersehen. Menschen mit verhüllten Mündern, seltsamen Apparaturen im Gesicht oder gar verhüllten Köpfen sind auf seinen Werken zu sehen. Sie wirken vertraut und doch befremdlich, denn sie entsprechen nicht unseren Sehgewohnheiten von Portraits der Biedermeierzeit. Schinwald erwirbt die Gemälde und verfremdet sie. Er fügt medizinische Behelfsgegenstände, Handicaps oder Masken hinzu und macht so die Zerbrechlichkeit des menschlichen Körpers sichtbar. Zum Zeitpunkt ihrer Entstehung mögen die Werke realitätsfern und dystopisch gewirkt haben. Heute spiegeln sie die Realität und die Fragilität des Menschen wieder, als wären sie aktuell entstanden.

Unvergessliche Zeit, Ausstellungsansicht 3. Obergeschoss, Kunsthaus Bregenz, 2020, Rabih Mroué, Chalk Outlines, 2020, Courtesy of the artist und Sfeir-Semler Gallery, Beirut / Hamburg, Foto: Markus Tretter, © Kunsthaus Bregenz.

Rabih Mroué

Der Ausstellungsraum wird allerdings abseits der Gemälde von einem Klangteppich erfüllt, dem wir auf den Grund gehen wollen. Die Töne entstammen der Arbeit von Rabih Mroué, der wir uns am Ende unseres Rundgangs widmen wollen. Die Videoarbeit zeigt einen schwarzen Hintergrund und darauf die weißen Umrisse menschlicher Körper. Handelt es sich um schlafende Menschen, tote Menschen, keine Menschen, sondern lediglich ihre Umrisse? Ein Text erläutert, dass es sich um eine Art Selbstporträt des Künstlers handelt, das in Zeiten der Isolation entstanden ist. Auch diese Arbeit wirft Fragen nach dem Bewusstsein über sich selbst, die Umwelt und die Grenzen dessen auf. Eine Thematik, die in vielen der ausgestellten Arbeiten zu finden ist.

Rabih Mroué. Chalk Outlines. 2020, Courtesy of the artist und Sfeir-Semler Gallery, Beirut/Hamburg
© Rabih Mroué.

Nullpunkt


Welche Auswirkungen hat eine solch Unvergessliche Zeit auf das Individuum? Welche Auswirkungen hat sie auf uns? Mit diesen Fragen befassen sich die Künstler*innen der Ausstellung und auch wir werden bei der Betrachtung der Kunstwerke dazu angeregt uns mit unseren Emotionen zu befassen. Gefühle, die uns momentan unmittelbar betreffen, denn diese Zeit, diese unvergessliche Epoche ist jetzt. Wir leben darin und damit. Die Auswirkungen, gesellschaftlich, wirtschaftlich, künstlerisch und persönlich werden uns noch lange begleiten, doch die Zeit der Reflektion beginnt jetzt und das Kunsthaus Bregenz bildet mit dieser Ausstellung den Nullpunkt für die künstlerische Auseinandersetzung mit der Krise.