Wer sieht was? – Winterlandschaft mit Kirche von Caspar David Friedrich

Für den zweiten Artikel aus der Reihe Wer sieht was? haben wir ein Werk von Caspar David Friedrich ausgewählt. Seine Weltsicht und sein Blick auf sich als Künstler und Individuum haben die Kunstgeschichte an der Schwelle zur modernen Kunst im beginnenden 19. Jahrhundert maßgeblich geprägt. Christliche Thematiken verschmelzen in Friedrichs Werk mit der neu gedachten Darstellung von Landschaft und stellen gewissermaßen den Übergang zwischen barocker und klassizistischer Malerei dar.

Für den zweiten Artikel aus der Reihe Wer sieht was? haben wir ein Werk von Caspar David Friedrich ausgewählt. Seine Weltsicht und sein Blick auf sich als Künstler und Individuum haben die Kunstgeschichte an der Schwelle zur modernen Kunst im beginnenden 19. Jahrhundert maßgeblich geprägt. Christliche Thematiken verschmelzen in Friedrichs Werk mit der neu gedachten Darstellung von Landschaft und stellen gewissermaßen den Übergang zwischen barocker und klassizistischer Malerei dar. 

Aspekte, wie Einsamkeit, Hoffnung, Leben und Tod spielen in seinen Darstellungen eine wichtige Rolle und werden meist als Allegorien in die Landschaften eingebettet. Aspekte des Lebens, die jede*n im Laufe desselben betreffen. Auch uns, das Kune-Team. So liegt es nahe, dass wir uns aus unseren individuellen kunsthistorischen und persönlichen Blickwinkeln heraus an das Werk Winterlandschaft mit Kirche aus dem Jahr 1811 angenähert haben. 

Entstanden sind sechs unterschiedliche Berichte, die in einem kurzen Absatz kunsthistorische Assoziationen mit persönlichen Eindrücken vereinen. In Summe ergeben sie einen Überblick über den Künstler, das Werk, unsere kunsthistorische Einordnung und die unterschiedlichen Eindrücke, die das Gemälde in unseren Köpfen geweckt hat. 

Caspar David Friedrich (1774 – 1840), Winterlandschaft mit Kirche, 1811
Foto: Madeleine-Annette Albrecht

Sarah: Rückhalt im christlichen Glauben

Schnee, Nebel, Einsamkeit. Die Kälte der dargestellten Winterlandschaft ist förmlich zu spüren. Caspar David Friedrichs Gemälde wirkt im ersten Moment idyllisch und romantisch. Im Vordergrund einige Tannenbäume, eine schneebedeckte Landschaft, zwei kleine Felsen. Im Hintergrund ragt aus dickem, zähem Nebel der Umriss einer prachtvollen gotischen Kirche hervor. Aber das ist nicht alles: Schon auf den ersten Blick fallen dem*r Betrachter*in im Vordergrund zwei Gehstöcke auf, die bei näherem Hinsehen auf den einsamen und einzigen Menschen im Gemälde aufmerksam machen. Er hat die Stöcke in den Schnee geworfen, als hätte dies hastig geschehen müssen. Die menschliche Figur selbst sitzt vor den Tannenbäumen. Macht er oder sie Rast? Oder schafft er oder sie es nicht, weiterzugehen? Vor dem Tannenbaum erscheint ein Kruzifix. Dadurch wird ein Dialog zum gotischen Kirchenbau, der in weiter Ferne liegt, eröffnet. Der Mensch ist völlig allein, mit sich, mit der Religion und der Weite der umgebenden Natur. Die Einsamkeit des Menschen ist erdrückend. Eine anonyme menschliche Gestalt. Dies könnte jeder oder jede sein. Allein in diesem Gemälde, allein in der Landschaft, allein für sich. Aber: Dennoch mit Gott. Was will Friedrich uns hier sagen? Dass Gott überall sein kann? Dass es egal ist, wie stark die innere oder äußere Einsamkeit auch sein mag, der einzige Halt im christlichen Glauben liegt?

Vanessa: Gleichgewicht von Traurigkeit und Hoffnung

Traurigkeit und Hoffnung. Diese beiden Pole sind gleichermaßen im Werk von Caspar David Friedrich zu finden. Beide Aspekte sind wichtig, um sich mit dem Leben und dem Vergehen auseinandersetzen zu können. Caspar David Friedrich bündelt das Gefühl der Trauer und die Hoffnung zu einem ausdrucksstarken Gemälde. Es ist nicht groß, doch es zieht den / die Betrachter*in in seinen Bann. 

Ein Mann ruht sich, an einen Felsen gelehnt, von den Strapazen des Lebens aus. So scheint es auf den ersten Blick. Doch seine Krücken hat er bereits in der Schneelandschaft hinter sich gelassen. Seine Hoffnung nach einer Erlösung scheint er in der kalten Winterlandschaft aufgegeben zu haben. Macht er sich bereit zu sterben? Er scheint sich dem Ausgang seiner misslichen Lage bewusst zu sein. Doch im Dunst des aufkeimenden Lichtes im Hintergrund sind die Umrisse eines Gotteshauses zu erkennen. Ein Hauch von Hoffnung? Mögliche Erlösung? 

Der Mann, der voller Trauer und ohne Hoffnung zu sein scheint, wird in dem Gemälde von einer zweiten Präsenz, dem Göttlichen, begleitet. Seiner Trauer wird somit die Hoffnung entgegengestellt, sodass ein Gleichgewicht entsteht. Das Gleichgewicht von Leben und Tod, Licht und Schatten, Trauer und Hoffnung.

Paul: Blicke im Nebel

Caspar David Friedrich fängt den ersten Blick mit den wenigen detailliert herausgearbeiteten Elementen des Gemäldes ein: Im Hintergrund ein Gebäude, im Vordergrund Bäume und Felsen mit der Szene einer Figur, die scheinbar ihre Krücken zurückgelassen hat, um vor einem Kruzifix zu beten. Und an diesen Elementen muss sich der Blick festhalten, springt nur ungern von Insel zu Insel im Meer aus grau und weiß, das den Großteil der Leinwand bedeckt. Erst nach einiger Zeit traut man sich hervor, sucht im grau nach Struktur und findet dort unterschiedlichste Farben von rostrot über sonnengelb bis blaugrün. Natürlich hat man die helle Fläche im Vordergrund als Schneedecke und den Rest als dichten Nebel erkannt, aber genau darin liegt Friedrichs besondere Fähigkeit. Mit minimaler Farbigkeit und wenigen Kontrasten gestaltet er eine Fläche, die zunächst abstrakt erscheint, aber mit den wenigen Hinweisen dennoch eingeordnet werden kann. Friedrich schafft es, die Desorientierung in einer nebligen Winterlandschaft auf unterschiedlichen Ebenen darzustellen: Durch das tatsächlich Dargestellte und durch die verunsicherte Bewegung des Blicks, die er erwirkt.

Sara: Transzendenz der Welt

Ein winterliches Landschaftsgemälde. Ganz in Manier des Künstlers strahlt das Gemälde eine romantische, ruhige aber auch geheimnisvolle und andächtige Stille aus. Im Vordergrund sind noch klare Umrisse, Objekte und Kanten zu sehen. Um dem Gemälde Tiefe zu verleihen arbeitet der Künstler mit einem sfumato und den verschwommenen Grenzen des Hintergrundes. Der Nebel führt die Betrachter*innen auf verschiedene Ebenen des Kunstwerks. Betrachtet man diese unterschiedlichen Bildebenen, lässt sich sofort erahnen, dass es mit einem reinen winterlichen Landschaftsgemälde nicht viel gemeinsam hat. 

Der Blick schweift über den ersten auf der rechten Bildhälfte scheinbar achtlos in den Schnee geworfenen Gehstock, der uns gleichzeitig die Richtung zur einzigen menschlichen Figur im Gemälde aufweist. Diese lehnt fast versteckt an einem in die Bildmitte gesetzten, großen Fels, den Blick auf ein Kreuz gerichtet. Kompositorisch arbeitet Friedrich mit mehreren Linien, sowie horizontalen und vertikalen Ebenen. Die Vertikalen – die drei Tannen, das aufgestellte Kreuz mit einer Christusfigur und die Kirche im Hintergrund mit drei prominenten Türmen – streben alle gen Himmel, jeweils im Zeichen einer Zahl – drei. Hier verstärkt sich der Verdacht einen transzendentalen Moment des Erhabenen zu betrachten. Die horizontalen Ebenen bilden den Grund, die Verbindung der*s Rezipienten*in mit dem Jetzt und der weltlichen Erfahrung bis diese sukzessive nach hinten gestaffelt im Hintergrund in den Nebel übergehen und damit den Übergang in etwas Überirdisches vollziehen. Die fassbare Welt wird zu einem diffusen Wabern aus Farbübergängen, aus der als einziger fester Punkt die Umrisse der Kirche auszumachen sind. Diese, zusätzlich pointiert hervorgehoben, ließ der Künstler sie im gleißenden Licht der unter- oder aufgehenden Sonne enden. Caspar David Friedrich schafft es, die Dreifaltigkeit und die höhere göttliche Macht in natürlichen Strukturen habhaft zu machen und zu zeigen, dass ein ruhiges winterliches Landschaftsbild doch mehr vermag als „schön“ zu sein. Oder bittet hier eine im Nebel verlorene Seele doch einfach nur um göttlichen Beistand?

Elisabeth: Emotionen in der Farbe

Colorierte Ebenen leiten den Blick der*s Betrachter*in durch das Werk von Caspar David Friedrich. Je nach Vorliebe, ob dunkel oder hell, wird jede*r Rezipient*in individuell geführt. Mich zog es vom hellen Bildvordergrund hinweg über die im Zentrum wachsenden Bäume, in den Hintergrund. Doch sind die Bildebenen wirklich abgrenzbar? Verschwimmen sie nicht? Die mit Schnee bedeckte Landschaft im Vordergrund wirkt scharf. Wie Puderzucker ziert das kühle Weiß die Felsen und die Tannen. Das satte Grün der Nadeln haucht der Szenerie Leben ein. In die Äste ist ein hölzernes Kruzifix eingebettet, das von einem sitzenden Menschen, der mit seinem Rücken an einem Felsen lehnt, angebetet wird. Das Grün der Bäume spiegelt sich in der Kleidung der Person. Wie kam sie dort hin? Warum liegen nicht weit von der Person entfernt Krücken? Was erhofft sie sich vom Gebet?

Hinter den Bäumen zieht sich der Schnee über weitere Böschungen, doch diese Szene wirkt verschwommen und unklar. Im rechten Bildbereich ist alles düster und dunkel. Sind es Nebelschwaden, die sich über die Wiesen ziehen? Aus ihnen streben auf der linken Bildseite schmale Türme in den Himmel. Handelt es sich um ein Gotteshaus? Es wirkt nicht wie ein real existierendes Gebäude. Die untere Hälfte des Baus ist zudem nicht zu erkennen. Rötlicher Nebel umhüllt es und über ihm öffnet sich die Wolkendecke und die warmen Farben des Sonnenlichts färben den Himmel. 

Mit welchen Emotionen verbinden wir die Farben, die Caspar David Friedrich in seinem Werk gezielt nebeneinander stellt? Trauer, Leid und Schmerz? Hoffnung, Befreiung und Erlösung? Und was will uns der Künstler mit seiner Lichtführung suggerieren? Eins ist sicher: Caspar David Friedrich überträgt mit seiner Szenerie Stimmungen, die sich an unsere Gefühle wenden. Er löst dadurch Emotionen aus ­– ganz individuelle, wird ja jede*r Rezipient*in anders angesprochen. Winterlandschaft mit Kirche ist ein sagenhaftes Beispiel aus dem Œuvre des weltbekannten Künstlers, das auf Wirkungsästhetik ausgerichtet ist.

Jessica: Die Hoffnung nicht aufgeben

Fast hätte ich ihn nicht gesehen. Diesen kleinen Menschen, der an einem Stein lehnt. Die im Schnee liegenden Krücken im Bildvordergrund leiten zu ihm und zeigen seinen Weg durch diese Schneelandschaft.  Da sitzt er nun vor einem, mitten in der Natur platzierten, Kruzifix aus Holz. Was geht in diesem Menschen vor? Will er die Kirche erreichen, die im Bildhintergrund fast mystisch aus dem Nebel emporsteigt? Sucht er Hilfe? Woher kommt er? Ganz alleine in dieser großen Winterlandschaft, fast gefangen von Schnee und Kälte, sitzt er da und ist auf sich allein gestellt. Die sakralen, christlichen Elemente im Bild erinnern jedoch daran, dass Gott überall zu finden und mit jedem Menschen ist. Man kann nur hoffen, dass der Mensch im Bild, ob gläubig oder nicht, seine Kraft und Hoffnung nicht verliert, die Krücken einsammelt und sein Ziel erreichen wird.

Summe der Eindrücke

Die einzelnen Absätze machen deutlich, dass die Herangehensweisen, trotz unserer gemeinsamen theoretischen Basis, unterschiedlicher kaum sein könnten. Der Freiraum, der uns während unseres Studiums gegeben wurde, ist von jedem Mitglied des Kune-Teams sehr unterschiedlich genutzt worden, sodass aus der Summe der Gedanken eine lebhafte Verschmelzung von wissenschaftlichen, bildtheoretischen, aber auch persönlichen Assoziationen entstanden ist. 

Während Sarah und Vanessa auf das Bildthema eingehen und den christlichen Aspekt des Landschaftsgemäldes beleuchten, befassen sich Paul und Sara mit dem farblichen und räumlichen Aufbau des Bildes. Lisa und Jessica fassen diese beiden Aspekte in ihren Berichten zusammen und werfen, wie wir alle, einige Fragen auf, die das Werk in uns hervorgerufen hat.

Die Eindrücke sind sehr unterschiedlich, beleuchten in Summe allerdings ein breites Spektrum. Kunsthistorisch, aber auch persönlich. Als Team können wir also vieles sehen, was uns als Individuen verborgen geblieben wäre und zusammen mit euch Leser*innen können wir womöglich auch noch einige der offenen Fragen klären.