Unmerklich bewegen sich die digitalen Bildbereiche. Farben ändern ihren Ton. An einer Stelle treten Linien auf, an anderer verschwinden sie. Langsam wird aus einem Kinderporträt das Bild „Miss Mary” von Hanns Ludwig Katz aus dem Jahre 1926. Zu sehen sind Werke, die momentan in der von Nicole Fritz kuratierten Ausstellung Herzstücke. Sammlung Kunsthalle Emden in der Kunsthalle Tübingen hätten gezeigt werden sollen. In der zu erlebenden Installation 1902–2012 transformieren sich diese Bilder ineinander und zeigen Stück für Stück die verschiedenen Malweisen und Thematiken sowie die Entwicklung des expressiven Malstils seit dem 20. Jahrhundert.
„Vor unseren Augen verschmelzen die analogen Bilder in Echtzeit zu immer neuen abstrakten Form- und Farbkompositionen. Es entsteht ein digitaler Bilderstrom, der ins Unendliche fortgesetzt werden kann.” – Nicole Fritz
Lunar Ring
Die Installation wurde von der Medienkünstlergruppe Lunar Ring, die aus Mirko Franjic, Niklas Fricke, Alexander Loktyushin und Johannes Stelzer besteht, realisiert. Hierbei handelt es sich um vier Wissenschaftler, die an der KI-Technologie forschen und mit dieser arbeiten. Eine von ihnen entwickelte KI verknüpft in der Installation der Kunsthalle Tübingen die Highlights der Sammlung Kunsthalle Emden zu digitalen Visuals. Auswahl, Übergänge und Länge werden von dieser selbst bestimmt.
„Unsere Arbeiten generieren Eindrücke und Assoziationen, die gleichzeitig völlig fremdartig und doch seltsam vertraut wirken. Wir sind selbst oft überrascht und überwältigt, was hier durch künstliche Intelligenz geschaffen wird. Oft wirken die Arbeiten wie eine Mischung aus Realität und einer Traumwelt. In gewissem Sinn sind die Arbeiten ein kleiner Einblick in eine neue, uns noch unbekannte Zukunft.” – Lunar Ring im Interview mit Nicole Fritz
Gegenüber des scharfen Flachbildschirms, auf der die Installation 1902–2012 zu sehen ist, steht im Ausstellungsraum auf einer weißen Säule ein alter Röhrenfernsehen. Auf diesem ist stetig das Werk „Aux Bords de la Creuse/Soleil d’Automne” (An den Ufern der Creuse Herbstsonne) von Francis Picabia zu sehen. Das 1909 entstandene querformatige Gemälde besteht aus verschiedenfarbigen Flächen, die durch Linien voneinander abgetrennt sind. Bildaufbau und Farbwahl bilden gemeinsam bei Betrachter*innen aufgrund der Seherfahrung die Assoziation einer Landschaft. So bilden auch die Farbbereiche von expressiven Gemälden, ganz analog, ein Bild im Kopf der Betrachter*innen.
Das dritte Werk der Ausstellung ist die ebenfalls von Lunar Ring entwickelte Medieninstallation Wer malt denn da? Die Basis dieser KI bilden Kinderbilder, die in Workshops der Kunsthalle Tübingen entstanden sind. Wie bei 1902–2012 überlagern sich die Bilder, sodass neue Visuals entstehen. Wer malt denn da? stellt ein aktuelles Pendant von regionalen (expressiven) Ausdrücken dar. Auch Besucher*innen der Ausstellung sind eingeladen an dem großen Tisch in der Raummitte kreativ zu werden und die Eindrücke, die sie durch die Installation von Lunar Ring erfahren konnten, zu Bild zu bringen. Ihre Ergebnisse können sie wiederum der KI überlassen und Teil der Installation werden lassen.
Noch bis zum 7. Juni 2020 sind die Medienarbeiten von Lunar Ring in der Kunsthalle Tübingen zu sehen. Die Ausstellung Herzstücke. Sammlung Kunsthalle Emden wurde in das Jahr 2022 verschoben. Eine kurze Führung durch diese gibt es jedoch schon vorab: