Dieser Tage fordern wir auf jeglichen Plattformen #socialdistancing oder #stayathome. Und natürlich ist es richtig, Menschen in der aktuellen Situation aufzufordern, zu Hause zu bleiben und die sozialen Kontakte auf ein Minimum zu reduzieren, um so die Ausbreitung von COVID-19 zu stoppen. Aber wie fast alles im Leben hat auch die Forderung nach sozialer und gesellschaftlicher Distanz seine Schattenseiten: Menschen, die um ihre Existenzen bangen. Gemeint sind an dieser Stelle vor allem gastronomische Betriebe. Der Fotograf Andreas Reiner hat sich in und um Biberach an der Riß die verlassenen Cafés, Bars, Restaurants und Kneipen angeschaut und die leeren Räumlichkeiten mit ihren Besitzer*innen fotografiert. Entstanden ist das Projekt Stille Leere.
Der Mensch als zentraler Punkt der Arbeit
Andreas Reiner, als Fotograf bekannt unter dem Namen SICHTLICHMENSCH, ist kein Unbekannter in der Region um Biberach. Jüngst realisierte er das Projekt Tausend Gesichter, mit dem er etliche Bürger*innen der Stadt in bewegenden fotografischen Porträts festgehalten hat. Auch beim aktuellen Projekt geht es um die Menschen in der Region: Gastronom*innen, denen durch #socialdistancing die Arbeit genommen wurde und die nun um ihre Existenzen bangen müssen. Reiners Fotografien beschäftigen sich mit dem Mensch an sich und im Besonderen mit Menschen in außergewöhnlichen Situationen.
Nicht auf die Tränendrüse drücken
Die Fotografien aus der Reihe Stille Leere sind intime Zeitzeugen der aktuellen Situation und deren Auswirkung auf unsere Gesellschaft. Sie sprechen die Betrachter*innen auf eine ganz bestimmte Weise an. In schwarz-weiß gehalten, führen sie den Blick auf das Wesentliche. Keine Ablenkung durch Farbigkeit, das Thema der Porträts wird fokussiert und konzentriert eingefangen: Besitzerinnen und Besitzer in ihren gastronomischen Betrieben, in denen es aktuell still geworden ist. Unterstützt wird die Fokussierung durch eine bewusste Platzierung der Personen. Sie befinden sich oft innerhalb der Fotografie nicht im Vordergrund. Der sie umgebende Raum wird bewusst mit integriert und die erdrückende Leere wird für die Betrachter*innen spürbar. Auch die Wahl des Querformats forciert die Konzentration auf den umgebenden Raum. Es entstehen Porträts von Menschen, die deren Beziehung zu den jeweiligen Interieurs herausarbeiten. Die frontalen Blickrichtungen der Dargestellten erzeugen eine direkte Betrachteransprache, was die Dramatik innerhalb des Bildgefüges erhöht. Gleichzeitig finden sich die Betrachter*innen zwischen den Dargestellten und dem Fotografen wieder, also inmitten der Stillen Leere. Was Reiner allerdings nicht möchte, ist, mit seinen Fotografien zu emotionalisieren. Trotzdem wirken sie kraftvoll und vermitteln die Brisanz des Themas.
Orte der Einsamkeit
Cafés, Restaurants, Bars. Normalerweise finden wir in diesen Räumen gut gelaunte Menschen, feines Essen, ausgefallene Drinks, Musik, Lachen. Gaststätten bringen zusammen und verbinden das Gute mit dem Schönen: Freunde treffen, entspannt ein Glas Wein genießen, den morgendlichen Kaffee einnehmen. Was aber, wenn uns diese Räume genommen werden? Welche Konsequenzen für unsere Gesellschaft bedeutet #socialdistancing letztendlich? Für diejenigen, die einen Partner oder eine Familie zu Hause haben, mögen diese Tage erträglicher sein, als für all jene, die sich nun allein in ihren leeren Räumen zu Hause wiederfinden. Homeoffice, Skype-Treffen oder Zoom-Meetings können den realen sozialen Kontakt allenfalls nachahmen, nicht aber adäquat ersetzen. Was Reiner mit seinen Fotografien möchte, ist genau hier anzuknüpfen. Den Betrachter*innen die Situation Vieler aufzeigen. Er möchte die Leute erreichen und vermutlich schafft er dies mit seinen Fotografien besser, als Worte es vermögen könnten. Dabei nutzt er selbst fast ausschließlich Facebook, Youtube und Instagram, um seine Fotografien einem breiten Publikum zugänglich zu machen. Entstanden ist die Serie der 60 Porträts von Gastronom*innen an beinah einem Samstag. Diese können stellvertretend und universal für alle Menschen stehen, die diese ungewöhnliche Situation ebenso sehr trifft.
Die Krise als Chance nutzen
Es gilt abzuwarten, in welcher Art und Weise sich unsere Gesellschaft nach der Krise wieder formieren kann. Bleiben psychische Schäden innerhalb unserer sozialen Strukturen zurück oder nutzen wir die jetzigen Einschränkungen als Chance und Reiners Fotografien als Mahnmale und Erinnerungen, um auch künftig die sonst selbstverständlichen und vielleicht wichtigsten Dinge in unseren Leben besser wertzuschätzen. Und vielleicht, ja ganz vielleicht, fühlt sich auch mit Hilfe unseres Beitrags der oder die ein oder andere angesprochen, bei seinem Lieblingslokal nachzufragen, wie es dem- oder derjenigen aktuell geht und ob man nicht helfen kann.
Das gesamte Fotoprojekt Stille Leere, sowie weitere spannende Projekte gibt es auf Andreas Reiners Homepage zu sehen. Übrigens hat Reiner im Gespräch mit uns jetzt schon verraten: Sobald wieder Leben in die Kneipen und Cafés zurückkehrt, möchte er sein Projekt fortsetzen und die Räumlichkeiten in ihrem normalen Zustand dokumentieren. Hoffen wir, dass die „Stille Leere“ bald wieder durch positiven Lärm und Freude ausgetauscht werden kann.