Bereits seit sechs Jahren passiert in Reutlingen immer wieder etwas Wundersames. Für einen Abend entsteht ein Kunstraum der besonderen Art. Das Kunstmuseum Reutlingen und der Kunstverein Reutlingen haben sich mittlerweile einen Namen in der Region gemacht und sind bei Kunstinteressierten in Tübingen und Stuttgart bekannt. Aber dieses Vitamin, was mag das sein?
Ort für Kunst
Der Kunstraum Vitamin besteht in unregelmäßigen Abständen für einen Abend und schafft eine Symbiose aus Kunst, Musik, Literatur und Kultur. Der Ursprung dieser außergewöhnlichen Erscheinung liegt in einem kleinen Hinterhof der Echazstraße 4 in Reutlingen. Ein Ort, den man nicht auf Anhieb fand, versteckt hinter Wohnhäusern, zwischen dunklen Gassen und ohne Ortskenntnis schwer zu beschreiben. Eingerahmt von alten Lagerräumen, Wohnhäusern und leerstehenden Gebäuden entstand ein Ort der Begegnung, des Austausches über Kunst, Musik und Kultur und des guten Essens. Die Anwesenden verbinden sich zu einer kleinen Gemeinschaft mit derselben Leidenschaft, dem Erleben von Kunst und Kultur.
Erleben von Kunst
Das Erlebnis steht dabei im Mittelpunkt. Die Gäste besuchen keine Ausstellung, kein Konzert. Sie besuchen die Kunst selbst, erleben die Musik, lernen die Künstler kennen, können Ateliers durchstöbern und sich mit anderen Mitgliedern der Vitamin-Gemeinschaft über das Erlebte austauschen.
Vom Hinterhof zum Kunstmuseum
Seit einiger Zeit ist das Vitamin allerdings heimatlos, denn der charmante Hinterhof steht dem außergewöhnlichen Projekt nicht mehr zur Verfügung. Nach einem kurzen Intermezzo in einer Großraumdisco im Reutlinger Industriegebiet hat das Vitamin nun einen neuen Ort zur Entfaltung gefunden. Die Wandel-Hallen in der Nähe des Reutlinger Hauptbahnhofs boten am 25. Januar 2020 zum zweiten Mal einen Veranstaltungsort für Kunst, Musik und Literatur.
Große Namen, große Kunst
Der Hinterhof bot früher keine Ausweichmöglichkeiten, wenn es regnete, stürmte oder einfach bitterkalt war. Die Wandel-Hallen bieten allerdings große Räumlichkeiten, die dazu einladen einzutreten und sich während der kalten Jahreszeit aufzuwärmen. Der Weg zum Treppenhaus ist bereits gesäumt von zahlreichen Plakaten der vergangenen Vitamin Veranstaltungen, die einen Einblick geben welche Musiker und Künstler bereits Teil des Kunstraums sein durften. Neben Schnipo Schranke und Austrofred sind auch Namen wie Axel Anklam und Jochen Görlach zu lesen. Namen, die dem Publikum eventuell aus Zeitungsberichten oder Veranstaltungshinweisen bekannt vorkommen mögen.
Kunst für Alle
Bereits im Treppenhaus ist das Stimmengewirr aus den Räumen des Kunstmuseum Reutlingen Konkret im zweiten Obergeschoss zu hören und lässt darauf schließen, dass sich die zunächst kleine Vitamin Gemeinschaft zu einer veritablen Gruppe von Kunst- und Kulturinteressierten entwickelt hat. Beim Betreten der ehemaligen Fabrikräume bestätigt sich diese Vermutung. Das Publikum reicht von jungen Besucher*innen, die fast zu modisch gekleidet sind für die schwäbische Provinzmetropole Reutlingen, bis zu bekannten Gesichtern, die seit Jahren auf den Vitamin Veranstaltungen anzutreffen sind.
An Ort und Stelle
Ausgestattet mit einem kühlen Getränk bahnen wir uns vorerst den Weg durch die Fotoausstellung, die unsere Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat. Unter dem Titel “An Ort und Stelle – Fotografie des Gegenwärtigen” vereint Holger Kube Ventura in der Ausstellung die fotografischen Arbeiten von sieben Künstler*innen, die sich auf individuelle Weise mit dem Alltäglichen, dem Banalen und der Gesellschaft auseinandersetzen. Aspekte des Lebens die jeden / jede Besucher*in betreffen, beschäftigen und unterschwellig die gesamte Veranstaltung wie ein wohlriechender, süßer Duft begleiten.
Vom Leben und Sterben
Ein abgetrennter Bereich im hinteren Teil der Räumlichkeiten ist abgedunkelt und weckt ebenso unser Interesse. Beim Betreten erblicken wir eine Bühne, zwei Barhocker und einige Stühle davor, die dazu einladen sich zu setzen und darauf hindeuten, dass man die Aufmerksamkeit auf das Geschehen auf der Bühne lenken sollte. Innerhalb kürzester Zeit ist der Raum gefüllt mit Interessierten, die gespannt darauf warten, dass einer der Veranstalter das Wort ergreift. Diese Aufgabe übernimmt Eckard Hahn. Er begrüßt die Anwesenden herzlich, bedankt sich und stellt den jungen Mann vor, der auf dem Barhocker neben ihm Platz genommen hat. Es handelt sich um Hendrik Otremba. Künstler, Sänger, Kurator, Journalist und Autor. In dieser Funktion ist er heute anwesend. Obwohl Otremba alleine vermutlich alle künstlerischen Bereiche dieser Veranstaltung hätte abdecken können, konzentriert sich nun die Aufmerksamkeit auf seinen kürzlich erschienenen Roman “Kachelbads Erbe”. Er beginnt zu lesen. In unseren Köpfen entsteht eine düstere Welt von Verstorbenen, die nicht tot sein möchten. Sie lassen sich einfrieren und hoffen inständig auf bessere Zeiten, in denen sie aufgetaut, gerettet, geheilt und wieder zum Leben erweckt werden können. Die gefühlsgeladene Literatur weckt bei den Zuhörer*innen schlagartig Gedanken über das eigene Leben, den Tod, das Leben nach dem Tod und wie wir damit umgehen. Ein intimes und universelles Thema zugleich, das noch einige Zeit in unseren Köpfen nachklingt.
Im Hier und Jetzt
Während wir uns an einem der Stehtische im Eingangsbereich mit Bekannten über das Erlebte unterhalten, wabern auf einmal die Klänge einer Gitarre und die Stimme einer Frau durch den Raum. Wir begeben uns abermals zu der kleinen Bühne und erblicken die junge Frau und ihre Gitarre, Stella Sommer. Mit einer Stimme, die für ihr Alter fast zu reif klingt, singt sie auf gefühlvolle Weise von der Einsamkeit, den Gefühlsduseleien und den elementaren Problemen ihrer Generation. Sie gibt dem, was so vielen, die nicht dieser jungen Generation angehören, zu banal erscheint, eine starke Stimme. Eine Stimme, die es unmöglich macht nicht zuzuhören. Nicht nur mit den Ohren, sondern auch mit dem Kopf, dem Bauch und dem Herzen.
Innen und Außen
Mira Mann erfüllt als nächster Akt den Raum mit ihrer ergreifender Stimme. Die Unmittelbarkeit ihrer Texte vervollständigt die einzigartige Erfahrung ihres Auftritts. Man scheint alleine vor der Bühne zu stehen. Nicht etwa weil das Publikum die Flucht ergriffen hat. Das Gegenteil ist der Fall. Vielmehr spricht sie mit Text und Stimme jede*n einzelne*n von uns an, und zwar inmitten unserer unmittelbarer Welt der Emotionen und Erfahrungen. Eine eigentümliche Welt, die jede*r individuell für sich beansprucht. Sie dringt jedoch tief in diese Welt ein und schafft es, uns auf intime Art und Weise zu berühren. Eine Erfahrung die uns unerwartet trifft und unser Gefühlsleben immerhin für diesen Abend in unser Bewusstsein ruft.
Von Damals bis Heute
Mittlerweile ist der Abend schon fortgeschritten. Die allgemeine Stimmung wird immer besser. Getränkt von den zahlreichen Eindrücken sind wir nun voller Erwartung auf den letzten Künstler des Abends. Luis Ake betritt die Bühne und mit ihm die Aura der 80er Jahre. New Wave, Neue Deutsche Welle und Indiemusik erfüllen den Raum. Als Hommage, als kreative und moderne Umsetzung und als eigenwillige Kreation einer neuen Musikrichtung. Die treibenden Beats und sphärischen Klänge gehen direkt in die Beine und lassen uns den Kopf endlich komplett ausschalten. Es wird getanzt. Es wird gejubelt. Es wird geklatscht. Ein gebührender Abschluss für einen spannenden Abend.
Die Räume leeren sich nach und nach. Mit einem Lächeln verlassen die Gäste die Wandelhallen. Der Abend wird bei einigen wohl noch lange Zeit nachwirken. Sie werden sich mit der Musik, den Texten und den Fotografien auseinandersetzen und womöglich über ihre eigene Gefühlswelt und das Zwischenmenschliche reflektieren, das uns durch den gesamten Abend begleitet hat.