Mark Krause empfängt uns in seinem Teil des Gemeinschaftsateliers „Halle 12“, einer ehemaligen Fertigungshalle, die immer noch mit der Heizung von damals gewärmt wird. Ganz funktional kommt die Halle daher, mit großen Fenstern, die den oberen Teil der beiden Längsseiten einnehmen und Wänden aus einfachem Sichtbeton. Mark bietet uns einen Schwarztee an und bittet uns auf einer weißen Ledercouch Platz zu nehmen.
Ihr sitzt hier auf der Ateliercouch. Das war immer einer meiner Träume – eine Couch im Atelier zu haben. Hier ging dieser Traum in Erfüllung und alle in der Gemeinschaft finden, dass sie gut hineinpasst. Darauf mache ich nach fünf oder sechs Stunden Malen gerne mal einen Powernap. Aber nicht nur zur Erholung: Wenn ich beim Aufwachen meine zuvor gemalten Bilder anschaue, finde ich oft Lösungen, die im vollkommen wachen Zustand ausblieben. Das Urteilungsvermögen geht in der Aufwachphase scheinbar über das vorwiegend verstandesmäßige hinaus und ist ein tieferes, ganzheitliches. Leider hält dieser Aufwachzustand nur Momente an.
Jetzt haben wir also schon eine deiner Techniken für Kreativität kennen gelernt. Aber zunächst die banale Frage: Wie bist du überhaupt zur Kunst gekommen?
Ich glaube, aus einer Rebellion heraus. Ich bin in der DDR sozialisiert und habe mit 18 die Wende miterlebt. In der DDR gab es für mich viele „Du-darfst-nicht“ oder „Du musst“ und manche Dinge wurden einfach vorausgesetzt. So zum Beispiel, dass man, um einen Studienplatz zu bekommen, zunächst drei Jahre zur Armee gehen musste. Zur Wendezeit habe ich in der letzten Klasse das Gymnasium in der DDR abgebrochen und das Abitur in Einbeck in Niedersachsen gemacht. Dort habe ich Freiheiten erlebt, war aber auch überfordert, das ging schon mit der Fülle des Angebots im Supermarkt los.
Ein wichtiger Schritt war für mich, dass ich meinen Zivildienst in der Landesanstalt für Umwelt des Landes Hessen geleistet habe – den Wehrdienst hatte ich verweigert, das war ein wunderbarer Moment der Selbstbestimmung. Als Zivi in Kassel war ich in unmittelbarer Nähe der Karlsaue, wo sich auch die Kunsthochschule Kassel befindet. Dort bin ich zu den Künstlern gekommen und das Gelebte dort, das hat mich umgehauen.
Wie war das dann mit der Rebellion?
Vor dem Abitur in Einbeck hatte ich eine Kunstlehrerin, die uns im Zeichnen unterrichtete. An einem sonnigen Sommertag wurde im Zeichenraum das Licht gekappt und das Foto eines Zebras im Zoo projiziert. Das heißt, es waren noch die Gitterstäbe vor dem Zebra auf dem Foto zu sehen und wir hatten die Aufgabe, das Tier zu zeichnen und zu vervollständigen. Da haben wir als Klasse gemeutert und uns verweigert. Ich hatte aber doch den Anspruch etwas abzuliefern und habe zu Hause eigene menschliche Motive aufgenommen und Nächte lang durchgemalt. Das aber in Öl, denn der eigentliche Künstler in meiner Vorstellung arbeitet ja mit Ölfarben und eben auch mit schwierigen Sachenverhalten, also zum Beispiel perspektivischen Raumkonstruktionen und nuancierten Farbabstufungen. Als ich das fertige Bild der Lehrerin vorstellte, meinte sie: „Das ist gut gemalt, war aber nicht das Thema.“ Es gab also für meinen Aufwand eine drei.
Nächtelang durchgemalt? Da muss ja ein Wille da sein, eine gewisse Energie!
Ja, diese gewisse Energie, dieses tiefe Wollen beim Malen durchströmt mich noch heute.
Und wie kamst du nach Tübingen?
Ich habe hier Philosophie und Rhetorik studiert. Von der Philosophie versprach ich mir, dass ich die Welt besser verstehen werde, während die Rhetorik mir helfen sollte, die Sprache zu verstehen. Von der DDR her war ich eine andere Sprache gewohnt. Vielleicht in manchen Belangen direkter, im Positiven wie im Negativen. Das gab die Möglichkeit, Position zu beziehen, war aber auch mit Einschränkungen verbunden.
Das Studium gab mir darüber hinaus die Möglichkeit, mich mit Bildrhetorik zu beschäftigen. Davon profitiere ich jetzt als Künstler. Ich wurde dann auch vom Rhetorikforum hier in Tübingen eingeladen, im Rahmen einer Tagung zum Thema Kreativität eine Live-Malerei zu erstellen.
Ist diese Live-Malerei typisch für deine Arbeitsweise?
Das sind die zwei Seiten meiner Arbeit: Hier im Atelier, in einem Raum für mich allein zu sein und Sachen unabhängig von der Zeit machen zu können. Und auf der anderen Seite die Live-Malereien vor und mit Publikum. Da steht man dann auf einer Bühne, ist auf den zeitlichen Rahmen der Veranstaltung festgelegt. Bei der Tagung des Rhetorikforums kamen Vorschläge für die von mir malerisch umzusetzenden Bildmotive per Zuruf aus dem Publikum. Bei den meisten Live-Malerei-Performances entstehen die Malereien aber zu Musik. Bei klassischer Musik etwa höre ich ein Stück, zum Beispiel die Goldberg-Variationen von Bach, so zwanzigmal, um eine Vorstellung vom zeitlichen Ablauf zu bekommen. Die Musik gibt dann das Tempo für das entstehende Bild vor.
Da malst du dann also deine Assoziationen zur Musik, nicht das, was vom Publikum vorgegeben wird? Wie abstrakt ist das dann?
Ja genau, das sind dann meine Assoziationen. Ich habe schon den Anspruch, dass etwas Motivisches, also Figuren dabei entstehen. Wären die Assoziationen rein abstrakter Natur käme aus dem Publikum bestimmt ein Kommentar: „Ha, so eine Kleckserei, das hätte ich doch auch gekonnt.“ Außerdem kann man sich an ein Bild mit Motiv besser erinnern als an ein abstraktes. Das live entstandene Gemälde memoriert dann den Verlauf der Musik. Aber wir können uns ja mal ein Ergebnis gemeinsam ansehen.
Dieses Bild hier entstand als Live-Malerei zu Blues aus den 30er Jahren. Also Südstaaten-Blues. Als mir das vorgeschlagen wurde, habe ich sofort „ja“ gesagt. Schön, einfach mal wieder guten Blues zu hören und dann auch noch live. Denn mein Studium der Malerei habe ich in Louisiana angefangen, in New Orleans und Baton Rouge – das war super.
Die Arbeit ist bei der Semestereröffnungsveranstaltung im September 2019 an der Volkshochschule Ludwigsburg entstanden. Das Thema war: „Blick in die Zukunft? Wie werden wir im Jahr 2030 leben?“ Und wir Künstler hatten vor und nach dem Vortrag des Zukunftsforschers Dr. Eike Wenzel je 20 Minuten Zeit für Musik und Malerei. Das ist natürlich kurz, um eine großformatigere Arbeit zu gestalten. Das Werk musste bei dieser Performance groß sein, damit das Publikum mit ca. 200 Leuten im Saal etwas sehen konnte. Ich habe seitdem an dem Bild weitergearbeitet. Aber die Komposition war schon angelegt. In Bezug auf das Zukunftsthema wollte ich in der Haltung und Anordnung der Figurengruppen ein Moment der Beschleunigung der Lebensprozesse darstellen. Dazu kommen Vorstellungen zu einer Art Einkapselung von Individuen bei gleichzeitiger Interaktion untereinander. Aspekte, die ich im Alltag wahrnehme. Nehmen wir das Smartphone: Es ist ja schon ein locker verbundener technischer Teil unseres Körpers geworden. Es ermöglicht uns ein Verbundensein und Welterleben fast von jedem stillen Fleck aus, an dem wir uns gerade befinden. Ist das Smartphone aktiviert umgibt uns die Welt aber auch von allen Seiten. Und für solche Gleichzeitigkeiten unserer Weltbezüge wollte ich ein Bild finden.
Das Motiv des Fallenden, das hier mittig zu sehen ist, ist für uns als Kunsthistoriker*innen sehr spannend. Die erste Assoziation ist der Engelssturz…
Ah, die Engel sind vielleicht auch drin, aber ich hatte bei dem Motiv die indische Legende von den Göttervögeln im Kopf. Weil die Mütter der Göttervögel zum Brüten nicht mehr auf der Erde landen, müssen ihre Eier im freien Fall von der Sonneneinstrahlung ausgebrütet werden. Die jungen Göttervögel schlüpfen in der Luft und berühren nie den Boden. Das funktioniert aber nur unter optimalen Bedingungen – was ist, z. B. wenn einmal eine Wolke die Sonne verdeckt? Die Jungen fallen zu lange und zu tief, schlagen auf der Erde auf und brechen hier aus ihrer Schale aus. Sie überleben im günstigeren Fall auch, richten sich auf und beginnen ihr Dasein. Dieses Schicksal haben nun die meisten. Sie versuchen sich beim Aufwachsen wieder zu optimieren. Gefunden habe ich die Legende bei Peter Sloterdijk, der sie als Gleichnis für unser menschliches Zur-Welt-kommen nimmt.
Der Fallende ist mit nur wenigen Pinselstrichen umrissen …
… ja, mit dem Fallenden bin ich sehr glücklich. Der hat nämlich genau dieses Leichte noch, was unglaublich schwer ist zu erreichen, aber in der Situation der Live-Malerei, ist einfach nicht die Zeit, zu viel zu überlegen. Andere Figuren auf der Leinwand kamen später dazu und sind stärker durchgearbeitet. Aber an dem Fallenden kann ich nichts weiter verbessern.
Arbeitest du auch mit Vorlagen, etwa Fotografien?
Ich arbeite auch mit Vorlagen. Da gibt es beispielsweise diese beiden Mädchen, die ich in Santa Cruz auf Teneriffa während des Karnevals kennen gelernt habe. Die hatten sich als Bräute verkleidet, schienen überhaupt nicht auf Partnersuche und waren mit sich selbst ganz im Glück. Diesen wunderbaren Moment musste ich malen. Aber mit Fotovorlagen muss ich aufpassen, dass ich die Figuren nicht zu sehr durcharbeite. Die Leichtigkeit soll das Bild haben und die muss man auch aushalten. Etwa daneben hier diese barocke Engelsfigur, bei der der Fuß in Farbflächen zerfällt, wenn man näher rankommt. Aber von Weitem funktioniert das.
(Er zeigt auf eine kleine Skizze.) Das hier nun wieder ist direkt vor Ort entstanden, einer meiner Lieblingsfelsen am Schwarzen Meer in Bulgarien. Der ist für mich ein Kraftort. Fasziniert hat mich hier das Verhältnis von Himmel, Wasser, Felsen und Mensch. Und auch die Wirkung von Ruhe und Bewegung.
Ich musste ihn hier im Atelier nochmals malen. Die Freude über eine gelungene Skizze war für mich die Aktivierungsenergie. Eine Schwierigkeit dabei ist es, sich nicht zu einem 1:1 von Skizze zu Großformat verführen zu lassen. Die Aufteilung im großen Bild ist komponierter, angelegter und die Arbeit insgesamt weiter durchgearbeitet. Ich habe von einem kleinen Querformat zum großen Hochformat gewechselt und die Perspektive so angelegt, dass der Blick des Betrachters einerseits in die Ferne zum Horizont hinausgezogen wird, andererseits aber auch hinunter in die dunkelblaue Tiefe des Meeres im Eck links unten führt. In diesem Spannungsbogen der Blickführungen befindet sich das Pärchen im Felsvorsprung.
Du meintest, die Arbeiten hier sind entweder solche, an denen du noch arbeitest oder sie sind auf dem Prüfstand. Was heißt es für dich, wenn ein Bild auf dem Prüfstand ist?
Das heißt, es ist an einem Punkt, an dem mir nichts mehr einfällt, das ich ergänzen müsste. Die Frage ist aber: Was ist in drei Wochen? Vielleicht fällt mir doch noch etwas ein. Auf dem Prüfstand sein meint also eine Art Reifezeit, in der das Bild auf mich wirkt. Auch zu unterschiedlichen Tageszeiten und in unterschiedlichen Lichtsituationen. Der Abschluss ist dann, dass ich ein Foto vom Gemälde mache und damit den Zustand festhalte.
Abgesehen von den großformatigen Malereien stehen hier auch einige in kleinerem Format.
Das sind Studien, oftmals aus Aktkursen etwa von der Sommerakademie auf Schloss Rotenfels in Gaggenau oder der Kunstakademie Neustift in Südtirol. Die Skizzen können bei Live-Malereien im mir wieder aufkommen. Ich muss eine Situation durchlebt und durchmalt haben, dann kann ich wieder etwas Neues daraus machen.
Abschließend hätten wir von dir noch gerne eine Einschätzung zur Tübinger Kunstszene.
Am Anfang waren auch wir Pioniere, was Zwischennutzung angeht, so zum Beispiel mit dem Kunstamt, das im ehemaligen Jugendamt in der Doblerstraße untergebracht war. Das war nicht leicht und es gab Widerstände. Als wir einen Zeitvertrag für drei Monate hatten, waren wir happy, so groß war der Bedarf an bezahlbaren Arbeitsräumen. Inzwischen haben wir Routine, Erfahrung und auch ein gewisses Standing. Die Presse hat uns von Anfang an begleitet, so dass man in Tübingen schon sagen kann: Kunstamt oder Kunstnomaden, das hat man schon mal gehört. Und jetzt sind wir hier in der Halle 12 in Lustnau. Das ist mäzenatenhaft, wie wir und andere hier bei einem ehemaligen Fensterbauer und als jetzigen Besitzer des Geländes der Bauer Immobilien GmbH untergekommen sind. Das Klima hat sich geändert, man trifft auf offene Ohren. Aber dafür haben wir auch über zehn Jahre gekämpft.
Wahrscheinlich könnte ich mir inzwischen auch ein eigenes Atelier nehmen, aber das Gemeinsame gefällt mir und ich möchte es gar nicht mehr anders. So allein im Atelier – ja die Ruhe zum Arbeiten ist wichtig – aber auch der künstlerische Austausch auch. So kann mal ein Kollege kommen, wenn ich stundenlang gemalt habe und im richtigen Moment sagen: „Du, mach mal eine Pause. Wir trinken jetzt einen Kaffee.“
+++
Nach diesem Schlusswort bedanken wir uns für den Tee und stehen vom Sofa auf. Auch wir haben einen anderen Blick bekommen und befinden uns in einem energetisierten Zustand. Irgendetwas muss an diesem Sofa dran sein …
Von dieser Wirkung kann man sich Ende März auch selbst überzeugen: Die Kunstateliers Halle 12 laden zu den Tagen der offenen Ateliers ein:
Pfrondorfer Straße 12
72074 Tübingen-Lustnau
Samstag, 28. März 2020, 14:00 – 18:00 Uhr
Sonntag, 29. März 2020, 14:00 – 18:00 Uhr