Einblick in eine Ausstellung voll von verwobenen Kulturen und Identitäten
Nilbar Güreş beobachtet und hält fest. Dabei kann jede*r Betrachter*in das kulturelle Umfeld der türkischen Künstlerin näher kennenlernen. Denn ihre Werke erzählen. Sie sind eine Art Zeugnis von persönlichen Begegnungen und Geschichten und schenken Einblicke in die Vielschichtigkeit verschiedener Kulturen, mit denen sich Nilbar Güreş persönlich beschäftigt.
Im Mittelpunkt steht häufig die Frage nach der Identität, sei es eine kulturelle, weibliche oder queere. So verwundert es nicht, dass Nilbar Güreş in ihrem künstlerischen Schaffen mit sozialen Gruppen, insbesondere mit Frauen kollaboriert. Diese haben in ihren Werken eine zentrale und somit tragende Rolle inne.
Erzähl mir. ist der Titel der Ausstellung. Doch was erzählen uns die Arbeiten von Nilbar Güreş, die im Kunstverein Reutlingen ausgestellt sind?Kuratorin Imke Kannegießer stellt in Erzähl mir. gemeinsam mit der Künstlerin einen ganz bestimmten Aspekt der Identität in den Mittelpunkt: Heimat.
Wie ist diese definiert und strukturiert? Wie wird sie durch beherrschende Machtsysteme formiert? In den Fokus gerückt sind die Bewohner*innen, Menschen und Tiere, ihre Beziehungen untereinander im privaten wie auch öffentlichen Kontext. Konflikte und Kriege – wie beeinflussen solche Extremsituationen die Menschen, die Flora und Fauna, die Umwelt, eine Heimat?
Erwähnenswerte Besonderheit ist, dass einige der präsentierten Werke das erste Mal in Deutschland gezeigt werden, darunter sogar Neuproduktionen für die Ausstellung in den Wandel-Hallen sind. Gerade deshalb lohnt sich ein Besuch.
Ein Vorhang für die Gemeinschaft
Textil – ein Medium, das seit Jahrhunderten, ja seit Jahrtausenden eine überlebenswichtige Rolle spielt. Ob Kleidung, Dekoration, religiöses Element oder Kommunikationsmittel: Stoff verbindet Lebewesen, verwebt Kulturen.
Life-Proof Curtain, ein für die Ausstellung Erzähl mir. entworfener und vor allem in die Räumlichkeiten des Kunstvereins integrierter Vorhang, trägt eben diese Urideen in sich.
Heimat und Identität – diese Konzepte sind in diesem Stück Textil verknüpft. Der Stoff selbst ist lichtundurchlässig, könnte ganze Räume abdunkeln. Er ist wie eine Trennlinie, eine Wand, die eine Seite von der anderen separiert. Im Falle der Präsentation im Kunstverein wird die Innenwelt von der Außenwelt abgeschirmt und andersherum. Bereits von außen ist das 14,50 Meter lange Werk von Nilbar Güreş sichtbar und provoziert so einen Dialog zwischen Kulturen. Denn das Muster ist sehr traditionell gewählt, typisch für die Region des östlichen Teils der Türkei.
Ungewöhnlich ist auch die Wahl des Stoffes, denn aus diesem werden üblicherweise Matratzen genäht. Diese Schlafunterlagen sind in der Türkei gewöhnlich dünner als wir es in Mitteleuropa gewohnt sind. Die Grundidee dahinter ist, dass sie sich so leicht aufrollen lassen, um auf Reisen mitgenommen werden können. In Zeiten der Migration bedeutet dies einen Rückzugsort, einen Ort zum Schlafen und Ruhen, ein Stück Zuhause, ein Stück Heimat mitnehmen zu können. Traditionelle Muster aus einer Region, die im östlichen Teil der Türkei liegt – eben zu diesem Fleck auf unserer Erde hat Nilbar Güreş eine enge Verbindung.
Familie und ihre Wurzeln
Sozusagen Herzstück der Ausstellung ist die 3-Kanal Video-Installation Open Phone Booth und die großformatigen Abzüge der Fotografien der Open Booth Serie. Portraitiert wird eine kurdisch-alevitische Gemeinschaft, eine Minderheit in der Türkei, die aufgeschlossen und selbstbewusst Umständen trotzt, die man sich hier in Deutschland kaum vorstellen kann. Der Kontakt und die Auseinandersetzung mit dieser Gemeinde ist für Nilbar Güreş eine Reise zu ihren Wurzeln, in das Heimatdorf ihres Vaters. Immer wieder besuchte sie diesen Ort und seine Bewohner*innen. Dabei hielt sie fest, mit welchen Konflikten und Problemen alle Lebewesen dort konfrontiert sind. Sie sind abgeschnitten von den großen Metropolen, sowohl infrastrukturell, als auch sozial und politisch.
Medizinische Versorgung stellt eine Herausforderung dar. Ein spontaner Besuch im Krankenhaus ist nicht möglich, da keines existiert. Stromausfälle und Wasserknappheit stellen die Bewohner*innen täglich vor Herausforderungen. Nicht mal ein funktionsfähiges Telefonnetz ist vorhanden.
In den 1970er Jahren wurde ein Telefonnetz installiert und in Betrieb genommen. Doch nach kurzer Zeit wurde die Leitung, die Verbindung zur Welt, gekappt. Das von der Politik versprochene Telefonnetz ist bis heute nicht umgesetzt worden. Technologie und Digitalisierung brachten Alternativen in Form eines Mobilfunknetzes für das Dorf und seine Bewohner*innen. Es lässt noch zu wünschen übrig, aber ermöglicht endlich schnellere Kommunikation mit der Außenwelt.
Die 3-Kanal Video-Installation Open Phone Booth entstand über vier Jahre, von 2007 bis 2011. Über eine halbe Stunde entführt sie die Betrachtenden in das kleine kurdisch-alevitische Dorf. Mitzuerleben sind Alltagsszenen, die zum einen tragisch, zum anderen fast komisch sind. Um mit dem eigenen Handy telefonieren zu können, müssen die Einwohner*innen Hügel in der Nähe besteigen. Ob jung, ob alt und egal zu welcher Jahreszeit, sie alle sind auf der Suche nach Empfang, auf der Suche nach Kontakt mit der Welt außerhalb ihres kleinen eigenen abgeschnittenen Kosmos.
Open Phone Booth ist ein äußerst sensibles Porträt eines friedlichen Ortes, der mitsamt seiner Bewohner*innen – ob Mensch, ob Tier oder Flora – unter den Auswirkungen von Konflikten und Krieg, unter Diskriminierung leidet.
Nilbar Güreş – erfrischend sie selbst
Nilbar Güreş bringt unterschiedliche Materialien zusammen, vereint Textil mit Leder, Papier, Fotografie und Video in einer innovativen Art und Weise. So bedient sie mit verschiedenen Materialien unterschiedliche Medien. In der Ausstellung Erzähl mir. im Kunstverein Reutlingen lassen sich noch weitere Werke der Künstlerin entdecken, unter anderem Collagen, Skulpturen und Textilarbeiten. Noch bis zum 02.02.2020 ist die Ausstellung geöffnet.
Nilbar Güreş wurde 1977 in Istanbul geboren. Sie erhielt den BA in Fine Arts an der Marmara University, Istanbul und absolvierte ihr Masterstudium in Malerei und Grafik an der Akademie der bildenden Künste in Wien. Zeitgleich studierte sie Textil und Kunstpädagogik auf Master an der Universität für angewandte Kunst in Wien. Im Jahr 2012 absolvierte sie mit Unterstützung des BMUKK, Wien, eine Residency beim International Studio & Curatorial Program in New York. 2013 erhielt sie den Hilde Goldschmidt Award, 2014 den Otto-Mauer-Preis, den BC21 (Belvedere Contemporary) Kunstpreis 2015 in Österreich und den De’Longhi Art Projects Artist Award der London Art Fair 2018. Sie lebt und arbeitet in Wien und Istanbul.