Léo Marchutz im Deutsch-Französischen Kulturinstitut in Tübingen
Wer abseits der üblichen Wege nach Kunst sucht, hat manchmal das Glück, ganz erstaunliche Künstler und deren Werke zu entdecken und besondere Menschen kennenzulernen. So ähnlich erging es uns vor einiger Zeit, als wir auf die aktuelle Ausstellung im Deutsch-Französischen Kulturinstitut (ICFA) aufmerksam wurden. Zwar finden in Tübingen in den einzelnen Instituten immer wieder auch Präsentationen von Kunst statt, aber diese eine blieb uns besonders in Erinnerung. Deshalb möchten wir an dieser Stelle darauf aufmerksam machen.
Ganz im Sinne der deutsch-französischen Freundschaft bietet das ICFA noch bis Mitte Dezember einem großartigen Künstler eine Bühne: Léo Marchutz (1903 – 1976) Retrospektive: von Nürnberg bis Aix-en-Provence. Dass der Künstler seit dem Jahr 1976 keine Ausstellung mehr in Deutschland hatte, erscheint völlig unangebracht. Auch in der wissenschaftlichen Aufarbeitung des Werks von Léo Marchutz lassen sich Lücken ausmachen, die Bibliographie beschränkt sich auf einige wenige Abhandlungen. Bleibt zu hoffen, dass dieser erste Schritt, den das ICFA geht, nicht der letzte gewesen sein mag, um das Werk von Léo Marchutz in einer angemessenen Weise dauerhaft zu würdigen.
„Ich erinnere mich, dass er die Wände der Diele mit Papieren beklebt hatte, auf die er wie besessen malte.“
Alfred Marchutz über seinen Bruder
Léo Marchutz wurde am 29. August 1903 in Nürnberg geboren. Sein Vater war der Gründer und Direktor der Nürnberger Hercules-Werke, ein Fahrzeughersteller, der bis heute besteht. Von Beginn an erhält er eine humanistische Ausbildung, lernt Griechisch und Latein und studiert bereits mit 13 Jahren Künstler wie Leonardo da Vinci und Eugène Delacroix. Dass er sich früh für Kunst interessiert und selbst experimentiert, beweist eine Steinskulptur für das Grab seiner Tante auf dem jüdischen Friedhof in Fürth, die er im Alter von gerade einmal 15 Jahren schafft. Eine entfernte Verwandte der Familie beteuerte in einem Brief: „Léo stand in seiner Jugend, als ich seine Bilder in Berlin ausstellte, ganz unter dem Einfluss Matthias Grünewalds. Mit damals 13 Jahren malte er ausschließlich Heilige nach Motiven aus dem Neuen Testament. Später geriet er unter starken Einfluss Cézannes.“
Wie stark jene Inspiration wirkte, beweisen zahlreiche Zeichnungen und Gemälde, die im Deutsch-Französischen Institut ausgestellt sind. Nicht nur die Motive erinnern an Cézanne – ähnlich wie sein großes Vorbild skizzierte Léo Marchutz in mehrfacher Ausführung den Montagne Sainte-Victoire, den wir alle gut aus dem Œuvre Cézannes kennen. Auch seine Malweise erinnert, vor allem in den 1930er-Jahren, ganz stark an diejenige Cézannes. Die sogenannten taches (farbige Flächen ohne Kontur), sind auch bei Léo Marchutz erkennbar. Sie formen die unterschiedlichen Farbtöne aus grün-schwarz und weiß-grau zu einer provençalischen Landschaft, aus welcher sich deutlich der Montagne Sainte-Victoire herauslöst. Auch theoretisch beschäftigte sich Marchutz mit Cézanne, arbeitete an Ausstellungen in Aix-en-Provence mit, und veröffentlichte seine Gedanken dazu im Jahr 1974 in den Entretiens avec ses amis peintres américains.
Der Einfluss deutscher Denker
Darüber hinaus entwickelt sich Léo Marchutz weiter. Die Zeichnung interessiert ihn mehr als die Malerei. Landschaften werden weniger, einzeln herausgearbeitete Figuren hingegen mehr. Und gerade in der skizzenhaften Ausformung einzelner Figurenfragmente, manchmal nur Köpfen, liegt Léo Marchutz’ größte Stärke. Mit nur wenigen Strichen gelingt es dem Künstler, den Dargestellten einen so ausdrucksstarken Charakter zu verleihen, ja ihnen eine solche Stärke einzuhauchen, dass sie beinahe greifbar wird. Der Einfluss von Gedanken, wie sie in Hegels Vorlesung zur Ästhetik formuliert sind, wird hier eindeutig spürbar: „… eine Skizze dagegen, mit wenigen Zügen, von einer Meisterhand hingeworfen, (kann) unendlich lebendiger und von schlagender Wahrheit sein. Solch eine Skizze muss dann aber in den eigentlich bedeutenden bezeichnenden Zügen das einfache, aber ganze Grundbild des Charakters darstellen, das jene geistlosere Ausführung und treue Natürlichkeit übertüncht und unscheinbar macht.“ (Hegel: Vorlesung über die Ästhetik. Erstes Kapitel. Die Malerei).Auch Goethes Gedanken zur Farbenlehre finden sich in Marchutz‘ Tagebüchern wieder:
„Bin wieder dabei Goethe’s Farbenlehre zu lesen. Sie ist mir vertraut. Ganze Sätze. Wunderbar.“
Eintrag aus dem Tagebuch von Léo Marchutz, 19. August 1962
Goethe formulierte in seiner Farbenlehre das Prinzip von Licht und Helligkeit und im Gegensatz dazu das Dunkel (das “Nicht-Leuchten”). Hiervon leitet er weiter sechs Grundfarben ab, die sich ebenso gegenüberstehen: Gelb/ Blau, Orange/ Violett und Grün/ Purpur. Paysage à Mont-Joli aus den Jahren 1928-31 zeigt deutlich, wie Marchutz jene von Goethe formulierten Gedanken in seine eigene Arbeitsweise integriert. Vor allem Orange und Violett sind hier die vorherrschenden Farben und formen eine Landschaft voller Kraft und Plastizität, die völlig ohne schwarz und weiß auskommt, um Licht und Schatten abzubilden.
Léo Marchutz hatte sich 1931 nach mehreren Reisen in die Provence, endgültig in Aix-en-Provence niedergelassen. Hier überlebte er den Krieg, erhielt 1947 die französische Staatsbürgerschaft, gründete eine Familie und arbeitete an seiner künstlerischen Entwicklung. Bemerkenswert ist, in welchen Kreisen sich der Künstler aufhielt. Ein Brief von Daniel-Henri Kahnweiler über das Album Voyage à Venise (Reise nach Venedig), welches in Zusammenarbeit mit dem Künstler André Masson entstanden ist, beweist, dass Léo Marchutz in Künstlerkreisen ganz vorne mit dabei war: „Venedig ist ein Glanzstück. Ich finde, dass noch nie Ähnliches geschaffen wurde. Alle, die es gesehen haben, waren ergriffen. Es ist ein wundervolles Werk, was zum großen Teil Ihrer Mitarbeit, mein lieber Marchutz, zu verdanken ist. Picasso, zum Beispiel und Françoise Gilot waren des Lobes voll. Und sogar im Gegensatz zu meiner Einschätzung wird sich das nicht einmal schlecht verkaufen.“
Brief von Daniel-Henri Kahnweiler an Léo Marchutz vom 22. April 1952.
Kunst im Deutsch-Französischen Institut Tübingen
Im ICFA sind hauptsächlich Werke aus der deutschen Periode (1918 – 1931) präsent, darunter Frühwerke aus seiner Jugend, Ölgemälde und mehrere lithographische Arbeiten. Die Herzogsvilla auf dem Österberg, in der das Institut beheimatet ist, bietet einen wundervoll intimen Rahmen für die sensiblen Zeichnungen und Gemälde von Léo Marchutz. Wir wurden von Frau Christiane Vogel, Vorstand der Freunde des Deutsch-Französischen Kulturinstituts, in das Werk und Schaffen des Künstlers eingeführt. Freudig berichtete sie uns, dass auch Léo Marchutz’ Sohn, Antony Marschütz und dessen Tochter zur Vernissage nach Tübingen gekommen sind. Wer die einmalige Chance nicht verpassen möchte, diesen wundervollen Künstler kennenzulernen, hat dazu noch Gelegenheit bis zum 13. Dezember.