SCHEIZE – LIEBE – SEHNSUCHT
Mit ganz viel Gefühl präsentiert sich der isländische Künstler Ragnar Kjartansson in der aktuellen Ausstellung im Kunstmuseum Stuttgart. Scheize – Liebe – Sehnsucht verzaubert die Besuchenden und präsentiert erstmalig in Deutschland einen Gesamtüberblick über das künstlerische Schaffen Kjartanssons. Der Ausstellungstitel selbst ist an Kjartanssons deutsche Lieblingswörter angelehnt.
Die sich über drei Etagen erstreckende Ausstellung führt die Betrachtenden in die Kunstwelt von Ragnar Kjartansson ein. Eine Welt, die gespickt ist mit Ironie, Liebe, Witz und Gefühl. Der Künstler beschränkt sich in seinen Arbeiten nicht auf ein bestimmtes Medium. Video-Performances, Gemälde, Installationen, Live-Performances und Zeichnungen kumulieren zu einer Ausstellung, nach der der Name Kjartansson im Gedächtnis bleiben wird. Ragnar Kjartansson wurde 1975 in Reykjavík als Sohn der Schauspieler Gudrún Ásmundsdóttir und Kjartan Ragnarsson geboren und studierte Kunst an der Islandic Acadamy of Fine Arts in Reykjavík und an der Königlichen Kunstakademie in Stockholm.
Me and my Mother
Im ersten Ausstellungsraum sehen sich die Betrachtenden dem Künstler und seiner Mutter gegenübergestellt. Bezeichnenderweise heißt diese Video-Performance Me and my Mother. Kjartansson startete mit diesem Kunstprojekt bereits im Jahr 2000, als er noch Student an der Akademie in Reykjavík war. Auf vier Monitoren stehen der Künstler und seine Mutter nebeneinander, jedes Mal an der genau gleichen Stelle im Wohnzimmer der Mutter. Im ersten Video ist Kjartansson deutlich jünger, die folgenden sind im Abstand von jeweils fünf Jahren dazugekommen. Mutter und Sohn sprechen nicht miteinander, sie stehen nur nebeneinander und die Mutter spuckt dem Künstler in unterschiedlichen Abständen ins Gesicht. Was auf den ersten Blick grotesk wirkt, scheint bei längerer Betrachtung seine Absurdität zu verlieren. Kjartansson wirkt weder angeekelt, noch wütend. Sein Gesichtsausdruck bleibt ruhig und auch die Mutter versprüht weder Wut oder Aggression, sondern vielmehr Gelassenheit und Zuneigung. Eine Vertrautheit wird spürbar, wie sie nur zwischen sich zwei sehr nahestehenden Personen zu spüren ist.
Ein Konzert ertönt im Ausstellungsraum
Die beeindruckendste Video-Installation der Ausstellung ist The Visitors. Ein komplett dunkler, riesiger Raum, gefüllt mit neun lebensgroßen Videodisplays, auf denen jeweils unterschiedliche Personen mit verschiedenen Instrumenten in Aktion treten. Vor jedem Monitor sind an der Decke Lautsprecher installiert. Der Künstler selbst ist auch auf einem der Monitore zu sehen, er liegt mit einer Gitarre in der Badewanne und fängt an zu singen. Kjartanssons Stimme ist in dem Raum zu hören. Nach und nach stimmen alle anderen Personen mit ihren Instrumenten in das Lied mit ein, welches vom Künstler und einem Freund selbst geschrieben wurde. Eine Stunde lang fügt sich das Kunstwerk zu einem wahren Konzert, das die Betrachter*innen überwältigt. Das Auge weiß nicht, wo es zuerst hinschauen soll, das Ohr nicht, wo es zuerst lauschen soll und der Körper nicht, wo er stehen bleiben soll. Die einzelnen Soli fügen sich zu einem grandiosen Ensemble zusammen. Die Personen auf den anderen Monitoren sind keinesfalls zufällig ausgewählt.. Sie alle sind enge Freunde des Künstlers aus der Musikszene von Reykjavík. Gedreht wurde in einer 200 Jahre alten Farm in Upstate New York, der der Glanz vergangener Zeiten noch anhaftet. Das ganze Kunstwerk ist an einem Nachmittag entstanden. Inhaltlich öffnet Kjartansson hier mehrere Ebenen: Vergangenheit und Gegenwart, Einsamkeit und Zusammengehörigkeit. Der Titel der Arbeit geht auf ein Album der schwedischen Popband ABBA zurück. Der Songtext orientiert sich an einem Gedicht der isländischen Künstlerin Ásdís Sif Gunnarsdottír. Sie schreibt Once again I fall into my feminine ways – Diese Zeile wird zum wiederkehrenden Refrain in Kjartanssons Video-Arbeit.
Übrigens kürte die britische Tageszeitung „The Guardian“ The Visitors jüngst zum besten Kunstwerk des 21. Jahrhundert.
Wo ist Hitlers Loge?
Ironie, Witz und Zuspitzungen sind feste Begleiter in den Kunstwerken Kjartanssons. Die Installation Hitler’s Loge zeigt aufgetürmte Überreste einer Theaterloge, die einst tatsächlich Teil einer Ehrenloge war, die Adolf Hitler im Jahr 1941 im Berliner Admiralspalast einrichten ließ. Erst in den 2000er-Jahren wurde sie aus dem Theater entfernt. An der Wand dahinter auf einer Marmortafel steht folgende Inschrift: Ich rief Helgi Björns an, er beschaffte mir Hitler’s Loge. Eine Investorengruppe, zu der auch der bekannte isländische Popstar und Schauspieler Helgi Björnsson gehörte trieb die Grundsanierung des Theaters voran und befreite das Theater so von seiner düsteren Vergangenheit. Kjartansson setzt die Trümmer der Loge in einen neuen Kontext und schafft es, mithilfe von Titel und Inschrift die Holzstücke mit historischer Bedeutsamkeit aufzufüllen. Ohne Titel und Inschrift wäre das Kunstwerk nur eine Anhäufung von Holzstücken.
Sehnsucht ist das schönste deutsche Wort
Die Juli – Ausgabe der ART (art Heft 07 / 2019) bezeichnet Kjartansson als den „letzten Romantiker“. Und ja: durchaus nicht verkehrt. Den krönenden Abschluss der Ausstellung bildet wiederum eine Videoperformance, die auf sieben überlebensgroßen Displays präsentiert wird. Sie sind im Kreis aufgestellt, die Betrachter*innen finden sich geradezu von ihnen umzingelt – man fühlt sich wörtlich mittendrin. Zwei Zwillingspärchen, jeweils bestehend aus Mann und Frau, wandern in einer weitläufigen isländischen Landschaft und besingen ihre Zuneigung und Liebe zueinander. Die Männer begleiten mit der Gitarre. Die Landschaft zeigt sattes Grün und sanft abfallende Berge. Jedes Paar durchschreitet quasi gegenübergestellt alle sieben Monitore und verkündet ihre Liebe. Die Texte entstanden in Zusammenarbeit von Kjartansson und den Darstellern der Video-Installation: den Zwillingsbrüdern und Musikern Bryce und Aaron Dessner und den Zwillingsschwestern Kristín Anna und Gyða Valtýsdóttir. In der Installation besingen die vier einen nicht existierenden Ort und beschwören, dass der Tod woanders zu finden ist. Kjartansson schafft hier einen künstlerischen Ausdruck seines liebsten deutschen Wortes: Sehnsucht als ein Gefühl des schmerzlichen Verlangens wird hier, im Ausstellungsraum, für die Betrachtenden durch Musik, Visualität und Aufbau des Kunstwerks allgegenwärtig und direkt erfahrbar.
Die Ausstellung Scheize – Liebe – Sehnsucht wird noch bis zum 20. Oktober 2019 im Kunstmuseum Stuttgart gezeigt.