Betritt man das Foyer der Galerie Stadt Sindelfingen, so ist man bereits direkt im Ausstellungsraum: Drei unterschiedliche und doch zusammenpassende Ausstellungen treffen aufeinander. Rechts des Eingangs hat die Stuttgarter Künstler*innengruppe Verlag für Handbücher ihre Handbücherei aufgebaut, die den Auftakt der Ausstellung „Utopien in der Stadtgesellschaft – Identität und Geschichte“ macht. Durchgänge gewähren Blicke in die angrenzenden Kabinetträume mit den Ausstellungen „Crossing Limbo“ von Marie Lienhard im Schaufenster Junge Kunst auf der einen und „Frühe Fotos, späte Bilder. Skulptur“ von Joachim Kupke auf der anderen Seite.
Utopien in der Stadtgesellschaft – Identität und Geschichte
Die Ausstellung „Utopien in der Stadtgesellschaft – Identität und Geschichte“ ist aus einer Ausschreibung im Rahmen der Biennale Sindelfingen hervorgegangen, in der Künstler*innen mit Bezug zu Sindelfingen aufgefordert waren, sich mit der Geschichte der Stadt auseinanderzusetzen. Unter den acht ausgewählten Positionen befinden sich neben der Handbücherei unter anderem Rauminstallationen von Adam Cmiel und Melanie Dorfer sowie eine VR-Arbeit von Tzusoo.
Die Handbücherei versammelt unter dem Titel Sicheres Arbeiten Betriebsanleitungen, Handbücher und Ähnliches; die Künstler*innengruppe ist besonders an Handlungsanweisungen interessiert, die sie von der verschriftlichten Form wieder in eine Performance verwandeln. Die Besucher*innen sind zudem aufgefordert, mitzumachen: Mitgebrachte Handbücher können gestempelt und eingeworfen werden und werden so Teil des Kunstwerks. Mit der Arbeit denkt die Gruppe auf künstlerische Art über alltägliche Handlungen und so über Möglichkeiten des Zusammenlebens nach.
Ähnliche Themen verhandelt Adam Cmiel in der Installation future city – mit Witz und Charme entwirft er ein Portrait von Sindelfingen, der Sindelfinger Architektur und Umgebung und somit auch von den Menschen, die sich dort eingeschrieben haben. Er versammelt Objekte von Flohmärkten auf einer Tischplatte zu einer Skyline Sindelfingens und stellt ein mit Sprühfarbe vergoldetes Stück Beton als Goldberg (ein Hügel, auf dem bereits in der Römerzeit im Gebiet Sindelfingens gesiedelt wurde) in die Ecke.
Melanie Dorfer hingegen nimmt mit der Arbeit continuum explizit auf die Ausstellungsarchitektur Bezug. Sie stellt unter anderem im Obergeschoss des Oktogons aus, das als Anbau speziell für die Institution der Galerie Stadt Sindelfingen von Josef Paul Kleinhues entworfen wurde. continuum besteht aus Leinwandstoff, der direkt an der Wand angebracht und dort bemalt wurde. Die entstehenden Falten und Schattierungen beleben gemeinsam mit der diagonalen Form den achteckigen, annähernd runden Raum des Oktogons: Wie eine Spirale lenkt die Arbeit den Blick im Kreis.
Im völlig anderen Medium der Virtual Reality kann man mit der Künstlerin Tzusoo, die dieses Jahr den DAAD-Preis auf dem Rundgang der Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart erhalten hat, das Foyer des Museums neu entdecken. Die Arbeit mit dem Titel Who Guards the Museum verfremdet die Eingangssituation, indem sie gewohnte Konstanten wie die Wände und die Zwischendecken auflöst und so neue Einblicke in das Geschehen im Museum ermöglicht. Während der Rezeption verschwimmen so die Wirklichkeitsebenen, so dass man als Betrachter*in einen neuen Blick auf den Ort bekommt.
Frühe Fotos, späte Bilder. Skulptur
Joachim Kupke gehört ebenfalls seit Jahren zum Sindelfinger Kunstbetrieb. Der Maler verbindet in seinen surrealistisch-realistischen Arbeiten aktuelle gesellschaftspolitische Themen mit Vorbildern aus dem kunstgeschichtlichen Kanon. Hier trifft die Illustrierte sowohl auf Popart als auch auf das niederländische Goldene Zeitalter. Neben einer Auswahl von jüngst entstanden Malereien sind auch Fotografien zu sehen, die Kupke bereits 1971 auf einer Reise in die USA in Columbus, OH anfertigte. Sie zeigen dokumentarisch alltägliche Charaktere und sind so ein Dokument der Zeit. Gleichzeitig verweisen sie aber auf die Alltagskultur, die Kupke in seiner Malerei thematisiert. Eine Skulptur Kupkes à la Duchamp erwartet Besucher*innen in einer Nische; weitere Plastiken aus der Sammlung der Galerie stehen bereits im Hauptraum im Dialog mit den Arbeiten an den Wänden.
Crossing Limbo
Crossing Limbo von Marie Lienhard ist Teil der Reihe Schaufenster Junge Kunst – ein Programm, mit dem die Galerie Stadt Sindelfingen jungen Künstler*innen eine institutionelle Plattform bietet. Die Installation kommt visuell ganz minimalistisch daher, hat es aber in sich: Vier Magnetpaare werden von Carbonfaserschnüren so im Raum gehalten, dass sie sich zwar gegenseitig in der Schwebe halten, sich aber nicht berühren. Diesen Aufbau, mit dem Lienhard auch schon im ZKM in Karlsruhe zu sehen war, kombiniert sie mit einer Eisenkugel, die als Pendel nur wenige Zentimeter über die Magnete hinwegfliegt und sie so in Schwingung versetzt. Der Clou daran ist, dass sich die Taste zum Auslösen des Pendels nicht innen befindet, sondern außen. Durch ein paar Stufen kann man an das Fenster herantreten, die Taste auslösen und die Eisenkugel auf ihrem Weg durch den Raum verfolgen. Besonders gut funktioniert die Installation aber natürlich, wenn man sie zu zweit betrachtet. Die eine Person löst außen das Pendel aus, die andere kann innen die Zitterbewegungen der Magnete beobachten. Danach wird getauscht!
Beim Verlassen des Gebäudes bleibt eine Fülle von Eindrücken. Was die drei Ausstellungen verbindet, sind Positionen, die sich mit dem Alltag auseinandersetzen. Auch wenn dieser Alltag zunächst spezifisch für Sindelfingen erscheint, lassen sich die verhandelten Problemstellungen verallgemeinern. Mit Themen von Handlungen im Zusammenleben über das Stadtbild und die Architektur arbeiten die Künstler*innen der Gruppenausstellung an Utopien. Kupkes fotografische Dokumente und Malereien halten uns einen Spiegel vor und Marie Lienhard fordert Zusammenarbeit.
Klar ist, die Kunst wirkt in die Stadt hinein; nicht zuletzt, wenn man sich auf dem Marktplatz nochmals umdreht und auf den Bannern am Balkon von Jov T. Keisar liest „Ich möchte von Ämtern in Ruhe gelassen werden.“
Die Ausstellung Utopien in der Stadtgesellschaft – Identität und Geschichte ist noch bis zum 08.09.2019 in der Galerie Stadt Sindelfingen zu sehen. Die Ausstellungen Crossing Limbo und Frühe Fotos, späte Bilder. Skulptur laufen noch bis zum 23.02.2020.
Der Eintritt in die Galerie Stadt Sindelfingen ist frei!
Einige Bilder in diesem Beitrag wurden aufgrund des Urheberrechts entfernt. (Januar 2020)